Simón Bolívar, ein Befreier mit Schattenseiten
Von Jürgen Schübelin
Norbert Rehrmann: Simón Bolívar
Die Lebensgeschichte eines Mannes, der Lateinamerika befreite
Verlag Klaus Wagenbach 2023, Berlin, 224 Seiten, € 15
Bücher über ihn füllen ganze Bibliotheken. In fast allen lateinamerikanischen Städten gibt es mindestens einen Platz, eine Straße, eine Universität, die seinen Namen trägt. Simón Bolívar ist auch 194 Jahre nach seinem Tod auf dem ganzen Subkontinent – am extremsten in seinem Geburtsland Venezuela – omnipräsent: im politischen Diskurs, natürlich in den Schulen und erst recht in der Literatur, meist mit viel verklärendem Pathos und gerne jenseits der Grenze zum Kitsch. Dem 2010 verstorbenen Dresdner Kulturwissenschaftler Norbert Rehrmann geht es als eine Art Gegenprojekt dazu mit seiner 2009 erstmals erschienenen, jetzt neu aufgelegten Biografie des Libertador um die kritische Einordnung einer der komplexesten und charismatischsten Figuren in der Geschichte des 19. Jahrhunderts.
Was dieses aufwändige Standardwerk so lesenswert macht, ist die Balance, die Rehrmann gelingt: zwischen der Würdigung der couragiert-genialen Militärstrategien des Autodidakten-Generals während der Unabhängigkeitskriege (1811 – 1826) gegen die spanischen Kolonialherren, Bolívars Rolle als politischer Visionär eines geeinten Lateinamerika oder als Autor von Verfassungen, rhetorisch beeindruckenden Traktaten und Essays einerseits und seinen finsteren Seiten als egomanem Despoten und Verantwortlichen brutalster Kriegsverbrechen andererseits. Rehrmann zeichnet – akribisch durch Quellenverweise unterlegt – den Weg eines jungen Mannes aus einem reichen kreolischen Elternhaus nach, der nur wenige Jahre regulär zur Schule ging, nie eine Universität besuchte, sich aber als rastloser Vielleser eine profunde humanistische Bildung aneignete, intensive Lehr- und Wanderjahre in Europa und den USA verbrachte, ein exzessives, geradezu selbstzerstörerisches Sexualleben führte und sich im Alter von 22 Jahren für berufen hielt, die Revolution gegen die 300jährige Ausbeutungsherrschaft Spaniens über den größten Teil des Subkontinents anzuführen. Der Weg bis dahin war jedoch von zahlreichen Rückschlägen, militärischen Niederlagen und bitteren Exil-Erfahrungen gepflastert.
Ausführlich geht Rehrmann auf die umfangreiche finanzielle und militärische Unterstützung ein, die Bolívar aus Haiti erhielt, dem ersten Land Lateinamerikas, das 1804 seine Unabhängigkeit und das Ende der Sklaverei erkämpfte, und arbeitet gleichzeitig heraus, wie widersprüchlich – heute würden wir sagen rassistisch – die Einstellung des weißen Libertador gegenüber der afrokaribischen und indigenen Mehrheitsbevölkerung Venezuelas und Kolumbiens zeitlebens war. Ein zentrales Kapitel des Buches befasst sich mit der berüchtigten Guerra a muerte-Phase (Krieg auf Leben und Tod) im Kampf gegen die spanischen Royalisten und Bolívars Befehl, im Februar 1814 über 800 spanische und kanarische Kriegsgefangene exekutieren zu lassen. Über Bolívars größtem politischen Triumph, der dann am Ende doch auf nur wenige Jahre begrenzten politischen Vereinigung des heutigen Kolumbiens, Venezuelas, Panamas, Ecuadors, Boliviens und Perus – mit ihm als dem Präsidenten dreier Länder – lag immer der Schatten dieser blutigen Kriegsjahre.
Rehrmanns Bolívar ist keine Lichtgestalt, schon gar kein revolutionärer Ersatzheiliger, sondern ein Mann mit zwar außerordentlichen Begabungen, aber auch extremen Schwächen, etwa dann, wenn es jenseits der Schlachtfelder um die Niederungen guter Regierungsführung ging. Hier scheiterte der Libertador auch deshalb, weil er nie auf demokratische Entscheidungsprozesse vertraute, sondern an einen autoritär (von ihm) geführten Staat glaubte, in dem sich die Bürger mit einer Statistenrolle begnügen müssen. Rehrmann konzediert ihm, dabei nie korrupt, auf den eigenen finanziellen Vorteil aus gewesen zu sein. Das zumindest unterscheidet ihn vom kleptokratischen Autokraten-Regime in Venezuela, das ihn seit Hugo Chávez im Staatsnamen führt.