Alte Augen mit Blick auf die Zukunft

Von Jürgen Schübelin

Saúl Alvídrez: Chomsky & Mujica – Überleben im 21. Jahrhundert
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2025
223 Seiten, 24,00 Euro

Dem ehemaligen mexikanischen Studentenführer, Aktivisten und Dokumentarfilmer Saúl Alvídrez ist ein echtes Kunststück gelungen: Noam Chomsky (Jahrgang 1928) und José (Pepe) Mujica (geb. 1935, verstorben am 13. Mai 2025), die sich bis dahin nie getroffen hatten, zusammenzubringen, um drei intensive Tage lang über die brennendsten Fragen der Menschheit und Perspektiven für die Zukunft zu diskutieren. Erstaunlich, dass niemand zuvor auf diese Idee gekommen ist! Alvídrez‘ ursprüngliches Projekt, über die von ihm organisierte Begegnung auf der kleinen Finca von Uruguays Ex-Präsident und seiner Frau Lucía Topolansky in Rincón del Cerro östlich von Montevideo einen Dokumentarfilm zu drehen, konnte – vor allem wegen Finanzierungsproblemen – bis heute nicht abgeschlossen werden, aber dafür ist der Gedankenaustausch zwischen diesen beiden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte jetzt in Buchform nachzulesen.

Chomsky, Linguist, Philosoph und Politikwissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (MIT), vermutlich einer der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit, und Mujica, von Beruf Blumenzüchter, in den 60er Jahren Mitglied der Guerrillabewegung Tupamaros, fast anderthalb Jahrzehnte als politischer Häftling in den berüchtigsten Foltergefängnissen des Regimes, nach dem Ende der uruguayischen Militärdiktatur Abgeordneter, Senator, Landwirtschaftsminister, zwischen 2010 und 2015 Präsident des kleinen südamerikanischen Landes und der bis zu seinem Tod mit Abstand populärste Politiker Lateinamerikas, arbeiten sich in diesen drei Tagen profund und eloquent durch die Geschichte der Menschheit, aber vor allem die drängendsten Bedrohungen der Gegenwart.

Obwohl ihr Treffen im Juli 2017, also während der ersten Amtszeit von Donald Trump, stattfand, ist vor allem Chomskys Ausblick auf die postmodernen Politikmuster, auf Demokratie- und Rechtsstaat-Zerstörung der zweiten Trump-Präsidentschaft und ihre weltweiten Folgen von geradezu beklemmender Treffsicherheit. Für ihn provoziert die Anhäufung überwältigenden Reichtums durch ganz Wenige, die jetzt in den MAGA-USA auch noch alle politische und administrative Macht auf sich konzentrieren, zwangsläufig „einen perfekten Sturm, der auf eine Katastrophe hinausläuft“. Die Vorschläge für Widerstands- und Überlebensstrategien, die Mujica und Chomsky im Laufe ihres Dialogs entwickeln, knüpfen (nicht ganz überraschend) an die anarcho-syndikalistischen Überzeugungen der beiden Männer an, bei denen es immer wieder um Selbstverteidigung in Form von gewerkschaftlichem Engagement, aber auch um alternative, selbstorganisierte Formen des Miteinander-Arbeitens und Werte-Schöpfens geht. Chomsky brilliert hier mit seinen profunden Kenntnissen und eigenen Erfahrungen aus Begegnungen mit andinen indigenen Gemeinschaften und ihren Kämpfen zur Verteidigung ihrer Lebensgrundlagen und einem konsequent respektvoll-nachhaltigen Umgang mit der Natur und ihren Ressourcen.

Gegen die wachsende Bedrohung durch die Folgen der menschengemachten Klimakatastrophe, Vertrauens- und Legitimationskrisen repräsentativer Demokratien, Populismus und Korruption, sowie immer brutaler ausgetragener militärischen Konfrontationen, einschließlich des Risikos eines Atomkrieges, setzen die beiden Männer ihre Vision von miteinander über Grenzen und Kontinente hinweg kooperierenden Gesellschaften, denen es gelingt, ihr demokratisches Zusammenleben durch Bürgerbeteiligung, das Erkämpfen von Volksbefragungen und Volksentscheiden auf lokaler und regionaler Ebene, sowie generationenübergreifende Formen gemeinschaftlichen Engagements und Verantwortungsübernahme, zu verteidigen.

Mujica erinnert dabei an eines der Schlüsselerlebnisse seines politischen Lebens: den Volksentscheid in Uruguay vom Dezember 1992, durch den es mit überwältigender Mehrheit gelang, die Privatisierung von Energie- und Wasserversorgung sowie des Telekommunikationsnetzes und der öffentlichen Banken abzuschmettern. Seinerzeit eine erstaunlich klare Antwort der Menschen auf den neoliberalen Zeitgeist! Der Neunzigjährige, der während seiner Zeit als Uruguays Präsident 90 Prozent seines Gehalts für soziale Projekte spendete, beschwört wie eine Art Credo, das jetzt – nach seinem Tod – wie ein Vermächtnis wirkt, die Notwendigkeit, als Antwort auf nationalistische, rechtspopulistische Autokratien und ihre Herrschaftstechnik der Manipulation durch die Macht der Algorithmen, das im Lokalen verwurzelte Überleben durch Gemeinschaft und Solidarität zu setzen, kollektive Welten zu schaffen und nicht alleine dazustehen.

Am intimsten, berührendsten liest sich dieser Gesprächsband jedoch dort, wo es um die persönlichen Lebenserfahrungen der beiden alten Männer geht, um ihr Umgehen mit Scheitern, persönlichen Krisen- und Verfolgungssituationen, um das Wiederaufstehen, die Definition eines sinnerfüllten Lebens und gemeinsam mit anderen erfahrene Glücksmomente.