Lulas Biografie und neues Mandat

Von Jürgen Schübelin

Andreas Nöthen: Luiz Inácio Lula da Silva – Eine politische Biografie

Wien/Berlin 2022, 256 Seiten, € 20,00

Die dramatischen Bilder aus Brasilia von der orchestrierten Erstürmung und Verwüstung des brasilianischen Kongress-Gebäudes, des Präsidentenpalastes und des Sitzes des Obersten Gerichtshofes des Landes – allesamt UNESCO-Welterbe-geschützte Architekturdenkmäler – durch mehrere tausend in Fahnen mit den Nationalfarben gehüllte Bolsonaro-Anhänger sind ein weiterer Beleg dafür, wie bitter ernst es um die Demokratie im größten Land Lateinamerikas steht. Zum Verständnis der Ereignisse lohnt unbedingt auch ein sorgfältiger Blick auf den von seinen Gegnern zur Beelzebub-Inkarnation stilisierten und seit dem 1. Januar erneut regierenden Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva, dem der Angriff vom Sonntag, 8. Januar galt. Ein so enges Kopf-an-Kopf-Rennen hatte es seit 1985, dem Ende des Militärregimes in Brasilien, noch nie gegeben: Mit gerade einmal 50,9% holte sich der 77jährige Sozialdemokrat Lula am 30. Oktober 2022 zum dritten Mal das Mandat als Präsident. Für seinen Kontrahenten und Erzfeind, den rechtsradikalen Amtsinhaber Jair Messias Bolsonaro, stimmten nach einem von Gewalt, Verleumdungen, nie gesehenem Fanatismus und Fake News beherrschten Wahlkampf 49,1%.

Nur acht Monate zuvor hatte das – am 8. Januar gestürmte und verwüstete – Oberste Bundesgericht Brasiliens für Lula den Weg zu einer erneuten Kandidatur freigemacht, indem es vier hochumstrittene Korruptionsurteile annullierte, die dem Führer der Partido dos Trabalhadores (PT) eine zwölfjährige Haftstrafe, von der er am Ende nur 580 Tage absaß, eingebracht hatten: lateinamerikanisches Politik-Drama pur! Mit seinerLula-Biografie spürt der profunde Brasilienkenner, Journalist und Geograph Andreas Nöthen dem Lebensweg einer der ungewöhnlichsten politischen Persönlichkeiten Lateinamerikas nach und schenkt dabei – um das sofort klarzustellen – dem Portraitierten überhaupt nichts.

Über weite Teile liest sich diese Biografie wie ein zum wissenschaftlichen Sachbuch umgearbeitetes Filmdrehbuch: Ihr Protagonist, der aus ärmlichsten Verhältnissen kommt, geboren in einer Kleinstadt im Nordosten Brasiliens, Armutsmigrant, aufgewachsen in einer Favela in der Nähe von São Paulo, als Kind Schuhputzer und im Alter von 14 Jahren Arbeiter in einer Metallwarenfabrik, kämpfte sich hoch zum Gewerkschaftsführer, wurde mehrfach verhaftet und wegen Streikaufrufen inhaftiert. Nöthen liefert in diesen ersten Kapiteln seines Buches eine lesenswerte Einführung in die brasilianische Zeitgeschichte zu den „bleiernen Jahren “ der Militärdiktatur (1964 – 1985). Dann 1980 Lulas Aufstieg zur wichtigsten Figur der von ihm mitgegründeten Arbeiterpartei (PT). Es folgten drei gescheiterte Kandidaturen bei den Präsidentschaftswahlen. Der Underdog aus der Favela mischte das oberschichtsdominierte Politikestablishment aber von Anfang an auf, schaffte es, die extreme soziale Ungleichheit und die Ausgrenzung der Armen in den Fokus zu rücken.

Als ihm 2002 dank taktischer Neuaufstellungen und dem Schmieden von Allianzen bis weit hinein in die politische Mitte im vierten Anlauf der Wahlsieg gelang, wurden umfangreiche Sozialtransferprogramme für Millionen Menschen in Armut und extremer Armut wie Bolsa Família und Fome Zero zum Markenzeichen der Lula-Regierung und verschafften dem Präsidenten Zustimmungswerte von 80 Prozent samt internationalem Kultstatus. Barack Obama formulierte es vor dem G 20-Gipfel 2005 so: „Dieser Mann ist der beliebteste Politiker des Planeten.“

Nöthens eigentliches Thema, das diese Biografie wie ein roter Faden durchzieht, ist die provokante Frage, ob es so etwas wie „gute Korruption“ geben kann? Rechtfertigen unbestreitbare Erfolge bei der Armutsreduzierung Korruption und Nepotismus in der Regierungspartei PT? Akribisch seziert der Autor die Skandale um Abgeordnetenkäufe oder die von Brasilien aus nach ganz Lateinamerika exportierte Praxis systematischer Bestechung und krimineller Geldwäsche durch Konzerne wie den Bauriesen Odebrecht oder das Staatsunternehmen Petrobras. Auch wenn Nöthen Lula konzediert, sich nicht selbst bereichert zu haben, für das System endemischer Korruption und Bestechlichkeit um sich herum trägt er nach Auffassung des Autors eine politische Mitverantwortung, die jetzt wie ein dunkler Schatten auf dem neuen Mandat lastet – und von seinen Gegnern, wie zuletzt beim brutalen Sturm auf die drei Gebäude von Legislative, Exekutive und Judikative in Brasilia, als Begründung für die Forderung nach einer Intervention des Militärs und der Annullierung der Wählerentscheidung vom 30. Oktober 2022 herhalten muss.

Nur, wenn es gelingt, konsequent aus den Fehlern der beiden ersten PT-Präsidentschaftsperioden zu lernen und durch eine transparente, gute Regierungsführung zumindest einen Teil derjenigen, die gegen ihn gestimmt haben, für sich zu gewinnen, gibt es, so das Fazit dieser gelungenen Biografie, eine Chance, die extremen gesellschaftlichen Verletzungen am Ende der vier Jahre unter Bolsonaro etwas zu heilen. Dafür müssen es Lula und seine Viel-Parteien-Regierung aber unbedingt schaffen, sich die Loyalität von Militär und Polizei zu sichern – und das ohne Korruption.