Antigone im Amazonas – ein modernes Mysterienspiel
Von Martin Wolf
Nach der Premiere am 13. Mai im belgischen Theater NT Gent fanden im Rahmen der Wiener Festwochen vom 25. bis 27. Mai Aufführungen von „Antigone im Amazonas“ in der Inszenierung von Milo Rau am Burgtheater statt.
Antigone ist der dritte Teil einer antiken griechischen Trilogie. Der Stoff wird zeitgenössisch aufgeladen und ist verbunden mit christlicher Mythologie. Regisseur Milo Rau drehte gerade einen Jesus-Film in Italien, als die Aktivist:innen der brasilianischen Landlosenbewegung mit ihm in Kontakt traten.
Die geladenen Vertreter des Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra, der brasilianischen Landlosenbewegung, berichteten als direkt Betroffene von der Konfliktzone rund um das riesige Einzugsgebiet des Amazonas, wo politische Morde an der Tagesordnung sind. Aus dieser Bewegung waren ca. 100 Aktivist:innen als Schauspieler im Stück involviert. Die im Frühjahr 2020 begonnenen Proben mussten kurz darauf pandemiebedingt unterbrochen werden und wurden im März 2023 wieder aufgenommen.
Das Stück nimmt Bezug auf das blutige Massaker von Eldorado do Carajás vom 17. April 1996. Bei einem Marsch für Landreform wurden im Bundesstaat Pará 19 MST-Aktivist:innen von der Militärpolizei erschossen. Am 17. April 2023 besetzten die Schauspieler:innen gemeinsam mit Hunderten Aktivist:innen die Bundesstraße durch den Regenwald am Ort des Massakers und stellten die dramatischen Ereignisse gemeinsam mit den Überlebenden nach.
Begleitet wurde die Theaterproduktion „Antigone im Amazonas“ von Desinformationskampagnen rechtsgerichteter Medien, die sich insbesondere gegen Regisseur Milo Rau richteten. Die Botschaft des Stücks ist progammatisch: Man wolle jenen eine Stimme geben, die sie verloren haben, darunter viele Opfer brutaler Polizeigewalt. Ziel sei es, weitere solche Todesfälle zu vermeiden.
Von den brasilianischen Aktivist:innen waren einige bei der Präsentation der Bühnenarbeit am Podium des Burgtheaters anwesend, darunter Douglas Esteban, Alan Leite und Elia Rediger. Sie betonten, beim Bau von Wohnhäusern und Schulen in der Amazonasregion nach einem ökologischen Konzept vorzugehen und ausschließlich regionale Produkte und Materialien zu verwenden. In diesem Zusammenhang sei auf die fast zeitgleich zur Pressekonferenz erfolgte Preisverleihung der Architektur-Biennale in Venedig verwiesen, wo der brasilianische Pavillon mit dem Projektnamen „Terra – Erde“ ausgezeichnet wurde. Die Kuratoren Gabriela de Matos und Paulo Tavares verfolgten in ihrem Konzept eine Philosophie der Wiedergutmachung für die schwarze und indigene Bevölkerung Brasiliens, was aufgrund der demographischen Struktur auch viele landlose Bäuerinnen und Bauern betrifft.
Angesprochen auf sein Image als sendungsbewusster Moralist in Teilen des deutschsprachigen Feuilletons verwies Regisseur Milo Rau auf den italienischen Philosophen Antonio Gramsci, einen Verfolgten des faschistischen Mussolini-Regimes. Dieser sprach von einem Pessimismus des Verstandes bei gleichzeitigem Optimismus des Willens. Diese Balance würde ihn in Momenten des Zweifels „rausholen“, betonte Rau. Der Glaube an Veränderung überwiege. Er bezeichnete die soziale Bewegung der Landlosen als Maschine sowohl der Utopie als auch der Praxis. Natürlich bestünde aber in einer derart transkulturellen Zusammenarbeit wie in „Antigone am Amazonas“ stets die Gefahr der kulturellen Aneignung, räumte der Schweizer Theatermacher ein.
In der insgesamt dreijährigen Projektarbeit hätte sich oft genug die Angst vor einem Scheitern eingeschlichen, so Rau weiter. Er sei dabei ein Gefangener der erwähnten performativen Widersprüchlichkeit nach Gramsci gewesen. Gemeinsam mit seinen brasilianischen Mitstreitern lotete er im Team aus, was funktionieren würde und was nicht. Ein Versinken im Pessimismus wäre schlimm und für ihn keine Option, da das wichtige Anliegen für ihn zu jedem Zeitpunkt Motivation genug war, ungeachtet aller Schwierigkeiten an der Umsetzung dranzubleiben.
Schließlich wurde auch noch auf die religiöse Komponente des Stücks eingegangen. Rau, der sich selbst als Atheist bezeichnet, will die Bibel anhand des Urtextes neu kontextualisieren. Er habe während der intensiven Einstudierung des antiken Antigone-Stoffes einige mystische Komponenten daran entdeckt.
Die brasilianischen Schauspieler:innen am Podium sprachen über den Stellenwert der Religion in ihrem Heimatland. Die immer stärker auftretenden evangelikalen Strömungen seien oftmals eine Basis der Rechtsextremen á la Bolsonaro. Die in der katholischen Kirche namentlich vom früheren Papst Johannes Paul II. rigoros bekämpfte Befreiungstheologie hingegen sei für viele Schwarze und Indigene eine Option der Hoffnung, da sie für Solidarität in der Gemeinschaft stehe.
Der Aktivist Douglas Esteban hob hervor, dass der Geist der Ermordeten in ihrem Stück präsent sei und verwies somit auf eine ganz besondere, von undogmatischem Glauben beseelte Spiritualität in dieser Produktion. Milo Rau schloss mit den Worten, dass nach seinem Verständnis die Reimagination der Zukunft eine der wichtigsten Aufgaben des Theaters überhaupt sei.
Zeitgleich mit der Premiere wurde die Petition „Fair Global Economy“ als Kampagne gegen die Reinwaschung internationaler Konzerne in diversen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht. Der Aufruf wurde u.a. von Persönlichkeiten wie Brian Eno, Elfriede Jelinek und Annie Ernaux unterzeichnet.
Wiener Festwochen-Link zum Programm: https://www.festwochen.at/antigone-im-amazonas Erklärung vom 13. Mai „Gegen die nachhaltige Zerstörung des Regenwaldes und der dort lebenden Menschen“: https://drive.google.com/file/d/1qYDtziuB2zOdi9EufqlSPzRbTcBbwmus/view
Der Autor ist freiberuflicher Journalist in Wien.