Uruguay zwischen Ängsten und Erwartungen

Von Azul Cordo, Montevideo


Yamandú Orsi von der linken Frente Amplio konnte in der ersten Runde der Präsident­schaftswahlen am 27. Oktober zwar die meisten Stimmen auf sich vereinen, jedoch nicht genug, um die Wahl auch für sich zu entscheiden. Eine Stichwahl gegen den Rechtskonservativen Álvaro Delgado folgt am 24. November. Gleich­zeitig wurden die Sitze beider Parlaments­kammern neu gewählt. An Herausforde­rungen für die neue Regierung mangelt es nicht: Die Bekämpfung der Kinderarmut, Eindämmung des organisierten Verbrechens und die Wieder­belebung der Wirt­schaft sind nur einige Aufga­ben. Nicht weniger als die soziale Sicherheit steht bei der Stichwahl auf dem Spiel.

Ende Oktober fanden in Uruguay Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Es wird allerdings noch bis zum 24. November dauern, bis der neue Präsident feststeht: Yamandú Orsi von der progressiven Frente Amplio erhielt 44 Prozent der Stimmen, muss sich jedoch in der zweiten Runde gegen Álvaro Delgado von der rechtskonservativen Nationalen Partei durchsetzen. Letzterer war in der ersten Wahlrunde mit 27 Prozent der Stimmen auf dem zweiten Platz gelandet. Seine Partei stellt Uruguays aktuellen Präsidenten, Luis Lacalle Pou.

Der Geschichtsprofessor und Frente-Amplio-Politiker Orsi regierte von 2015 bis März 2024 Canelones, das nach Montevideo zweitwichtigste Departamento Uruguays. Dort befindet sich der größte Teil der Agrarproduktion zur Versorgung des Landes und für den Export. Orsis Kandidatur wurde auch vom Movimiento de Participación Popular, der linken Partei unter Führung von Ex-Präsident José „Pepe“ Mujica, unterstützt.

Expräsident Pepe Mujica bei der Abgabe seines Stimmzettels; © Diego Vila

Orsis Kontrahent Álvaro Delgado zählt in der Stichwahl wie schon der amtierende Präsident Lacalle Pou auf die Stimmen der Mitte sowie der rechten Parteien. Delgado war bis 2023 Sekretär von Luis Lacalle Pou, vergleichbar mit der Position eines Kabinettschefs in anderen Ländern. Eine prominente Rolle hatte der Rechtskonservative während der COVID-19-Pandemie eingenommen, als er in Pressekonferenzen Maßnah­men nach dem Paradigma der „verantwortlichen Freiheit“ ankündigte.

Nach Bekanntwerden der Ergebnisse der ersten Wahlrunde kündigte Delgado in seiner Rede auf der Plaza Varela in Montevideo an, von nun an nicht mehr „eine Partei“ zu vertreten, sondern „ein Projekt politischer Mehrheiten“. Die Mehrheit der Uruguayer:innen habe seiner Koalition „die Verantwortung gegeben, Uruguay weiter zu regieren“. Damit bezieht er sich auf die Republikanische Koalition, die nach der Wahl im Oktober 2019 gebildet wurde. Damals hatte Lacalle Pou als Konkurrent des Frente-Amplio-Kandidaten Daniel Martínez die übrigen Oppositionsparteien dazu aufgerufen, sich einem Bündnis seiner zweitplatzierten Nationalen Partei anzuschließen. Gleiches auch jetzt: Delgado betonte, die Koalition ziele wie 2019 darauf ab, „die Frente Amplio zu schlagen, die Realität zu verändern und Uruguay zu regieren“.

Stünden alle Stimmen der Republikanischen Koalition hinter Delgado, könnte er in der Stichwahl am 24. November 47 Prozent der Stimmen erreichen – mehr als die Frente Amplio im ersten Wahlgang. Diese lineare Lesart würde jedoch zwei Dinge voraussetzen: Erstens, dass die Frente Amplio weder Stimmen der zehn Prozent Nichtwähler:innen noch ungültige oder Stimmen anderer Parteien gewinnen würde. Zweitens, dass alle Wähler:innen der übrigen Mitte- und Rechtsparteien für Delgado stimmen würden. Es drängt sich die Frage auf, warum sich die Republikanische Koalition nicht bereits im ersten Wahlgang als solche präsentiert hat, wenn sie seit 2019 doch die Regierung stellt. Aus Angst, als Koalition nicht den gleichen Stimmenanteil zu erhalten wie die Einzelparteien?

Emotionale Botschaften statt inhaltlichem Wahlkampf

Laut Patricia González, Vorsitzende der Abteilung für Gender und Feminismus der Frente Amplio, sei ein gemeinsames Regierungsprogramm der Koalition im Wahlkampf nicht zu erkennen gewesen: „Die Menschen haben im Oktober für eine Partei gestimmt, mit Vorschlägen, Programmen, Personen. Nun müssen sie diese Stimme nicht nur auf eine andere Partei übertragen, und zwar auf andere bekannte Personen, aber unbekannte Vorschläge. Wo ist das Gemeinsame?“

Linkskandidat Yamandú Orsi gab sich nach der ersten Wahlrunde gelassen. Er rief die Wahlkampf-Aktivist:innen dazu auf, sich noch einen Monat mehr anzustrengen, um die fehlenden Stimmen zu sammeln, damit die Frente Amplio in die Regierung zurückkehren könne. Mit den Präsidentschaften von Tabaré Vázquez und Pepe Mujica hatte die Partei von 2005 bis 2020 ununterbrochen regiert. Orsi fasste zusammen, was das Land nun brauche: „Gleichheit, Gerechtigkeit, Wohlstand, Wachstum, mehr Produktion und viel mehr Fürsorge für unser Volk. Niemand darf zurückgelassen werden!“

Anhänger:innen der Frente Amplio beim Wahlkampfabschluss in Montevideo; © Diego Vila

Politikwissenschaftler:innen sagten einen „harten und ausgeglichenen“ Wahlkampf voraus. Für Marcela Schenck, feministische Politikwissenschaftlerin und Mitglied des Beratungs- und Meinungsforschungsinstituts Usina de Percepción Ciudadana, werden sich die Botschaften des Wahlkampfs weiterhin an der aktuellen Grundstimmung orientieren. Das bedeute, dass es an „inhaltlichen Diskussionen und Vorschlägen mangeln könnte. Nicht, weil es keine gibt, sondern weil sich die Diskussion stattdessen auf eher affektive und emotionale Botschaften konzentriert“, so Schenck.

Parallel zu den Präsidentschaftswahlen wurde auch das uruguayische Parlament neu gewählt. Die aktuelle rechte Regierungskoalition kann nun keine Parlamentsmehrheit mehr auf sich vereinen – eine Neuheit in der uruguayischen Politik. Mit 16 Sitzen verfügt die Frente Amplio zukünftig über die Mehrheit im Senat, die Nationale Partei gewann neun Sitze, die traditionell liberale Colorado-Partei fünf. Der linke Präsidentschafts­kandidat Orsi bekräftigte, die Mehrheit im Senat könne ihm „Regierungsfähigkeit garantieren“, um Gesetze zu verabschieden.

Im Abgeordnetenhaus hat jedoch keine Partei eine Mehrheit erreicht. „Es wird ein Experiment“, schätzt Patricia González die Lage ein. „Keiner von uns kennt dieses Szenario, in dem viel mehr verhandelt werden muss. Ich halte es für vernünftig, neue Methoden des Politikmachens zu entwickeln.“

Außerdem ist mit der Identidad Soberana, angeführt vom Rechtsanwalt Gustavo Salle, eine neue Partei im Abgeordnetenhaus vertreten: Sie vertritt eine nationalistische Anti-Establishment-Haltung und steht für die Abschaffung bestimmter Rechte, etwa der von trans-Personen und anderer Errungenschaften feministischer Bewegungen. Der Politikerin González zufolge fange Salle „die Stimmen der Leute ab, die von den Politikern genervt sind“. Die Identidad Soberana erhielt bei der Wahl zwei Prozent der Stimmen und sicherte sich damit zwei von 99 Sitzen im Abgeordnetenhaus.

Für die Politikwissenschaftlerin Schenck ist Salles zukünftige Position „ein großes Fragezeichen“. Er könne jedoch „den Stillstand der Blockdiskussionen durchbrechen“. Die Gewerkschafterin Tamara García beschreibt den Politiker als diskursiv gewalttätigen Mann. „Ich glaube nicht, dass er einen großen Beitrag zur parlamentarischen Politik leisten wird. Seine Reden, die in einen vermeintlichen Umweltschutz verpackt sind, sind stets von brutaler Gewalt gegen Frauen und die LGBTIQ+-Bevölkerung geprägt. Das steht bei ihm auf der Tagesordnung.“ Salle hatte bei der Volkszählung 2023 die Frage nach der Geschlechtsidentität streichen wollen und schlägt vor, das Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt und das Gesetz, das seit 2012 die Abtreibung in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft entkriminalisiert, aufzuheben.

Korruptions- und Missbrauchsfälle in der Regierung ohne Folgen

Der Ausgang der Wahlen in Uruguay wird richtungweisend sein: Es geht um das Projekt für ein Land, in dem die Zunahme der Kinderarmut umgekehrt werden soll. Aktuell sind ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen von Armut betroffen – doppelt so viele wie Menschen aus der Gesamtbevölkerung. In den vergangenen vier Jahren der Regierung unter Lacalle Pou ist auch die Zahl der Obdachlosen in Montevideo um 25 Prozent gestiegen. Gleichzeitig ist die Zahl der Inhaftierten auf Rekordniveau: 16.000 Menschen sitzen in Uruguay im Gefängnis – bei weniger als drei Millionen Einwohner:innen. Morde, organisierte Kriminalität und die Präsenz von Drogenkartellen in gefährdeten Vierteln und an den Grenzen zu Brasilien und Argentinien haben zugenommen. Das Wirtschaftswachstum legte nach der Stagnation 2023 dieses Jahr mit über drei Prozent wieder zu, weil der Agrarsektor die Folgen der Dürre des Vorjahres überwunden hat.

In der Regierung Lacalle Pou gab es zudem mehrere Korruptionsfälle, in die der ehemalige Leiter des Präsidialamtes, Alejandro Astesiano, durch kriminelle Vereinigung und Einflussnahme verwickelt war. Das Außenministerium wurde angeprangert, weil es dem Drogenhändler Sebastián Marset einen Expressreisepass ausgestellt hatte. Einer der führenden Senatoren der Nationalen Partei, Gustavo Penadés, sitzt im Gefängnis und muss sich vor Gericht wegen 22 Sexualverbrechen an Kindern verantworten. Außerdem soll er das staatliche Überwachungssystem genutzt haben, um Betroffene, die ihn angezeigt hatten, zu verfolgen und erpressen. Trotz dieser Vorgeschichte hat sich die positive Meinung über Präsident Lacalle Pou nicht wesentlich verändert.

Am 27. Oktober wurden neben Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auch zwei Referenden durchgeführt, die abgelehnt wurden: Sowohl die Frage nach Genehmigungen für das nächtliche Eindringen der Polizei in Privatwohnungen als auch der Vorschlag des Gewerkschaftsbundes, sozialer Organisationen und einiger Frente-Amplio-Politiker:innen, die Reform der sozialen Sicherheit aufzuheben, die unter anderem das Rentenalter auf 65 Jahre erhöht.

Für die Gewerkschafterin García stehen die wichtigsten Aufgaben für die nächsten Jahre fest: „Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die prekäre Arbeitsplätze nicht noch prekärer macht. Für diejenigen, die in den vergangenen Jahren reich wurden, ist eine Steuerreform dringend erforderlich. Wir brauchen eine Umverteilung des Reichtums, Investitionen in die Pflege und im Zugang zur Justiz.“ Es sei viel Arbeit auf der Straße geleistet worden, um die Wahlen und das Referendum zu gewinnen: „Das Referendum über die soziale Sicherheit war eine Chance, aber nicht die einzige. Es wird ein November mit vielen Ängsten und Erwartungen: Fünf Jahre Regierung stehen auf dem Spiel – aber viele weitere, in denen es um den Zugang zu Menschenrechten geht.“

Wir haben diesen Beitrag aus der Nr. 606 der Lateinamerika Nachrichten, unseres in Berlin erscheinenden Kooperationspartners, übernommen: https://lateinamerika-nachrichten.de/artikel/zwischen-aengsten-und-erwartungen/

Übersetzung: Carla Venneri