Uruguay: Friedlicher Linksschwenk in „el paisito“

Von Roberto Kalmar, Montevideo


Uruguay, von den Einheimischen liebevoll „el paisito“ genannt, ist ein sehr besonderes Land. Zwischen 1973 und 1985 hat eine brutale Militärdiktatur das Sagen gehabt, vor genau 40 Jahren durften die Uruguayer:innen erstmals wieder wählen. Sie wissen dieses Recht sehr zu schätzen und sie beachten die Regeln, d.h., sie haben nicht, wie viele andere Länder in Südamerika, die Wiederwahl erlaubt, nur weil ein Caudillo das so haben wollte (Morales, Lula, …).

So pilgern sie alle fünf Jahre Ende Oktober zur Wahl, vier Wochen später gibt es bei Bedarf eine Stichwahl, so wie eben geschehen. Es herrscht Wahlpflicht, ab dem Vorabend und bis eine Stunde nach Wahlschluss darf kein Alkohol verkauft werden. Was außerdem auffällt: Die Zettelverteiler aller Parteien stehen zusammen mit ihren Flyern, sprechen und lachen miteinander. In den meisten Ländern der Welt ist so etwas heute unvorstellbar.

In Uruguay sind (waren) traditionell die Blancos und Colorados die führenden Parteien, zumindest bis Anfang dieses Jahrhunderts. Bis 2005 wechselten sie sich an der Macht ab (dreimal Colorados, einmal Blancos). Beide sind rechtskonservativ. 1971 wurde die Frente Amplio (FA), ein Zusammenschluss linker Parteien, gegründet. Bis nach der Diktatur war sie verboten, wurde danach immer stärker und stellte ab 2005 während dreier Amtsperioden den Präsidenten, fünf Jahre davon war Pepe Mujica an der Macht. Die Uruguayer wundern sich über seine Popularität in Europa – er gilt heute als sehr schlechter Präsident.

Nun gehen die fünf Jahre von Luis Lacalle Pou zu Ende, einem Blanco, der in einer Koalition rechter bis sehr rechter Parteien regiert. Auch hier gibt es eine Besonderheit: Seine Zustimmungswerte liegen bei 50% – und das am Ende der Amtszeit. Alles andere als eine neuerliche Kandidatur 2029 wäre eine Überraschung.

Die erste Runde am 27. Oktober ergab einen klaren Sieg der Linken, die in der ersten Runde mit 44% deutlich vor den Blancos lagen (27%). In Summe hatte aber die jetzige Koalition drei Prozent mehr als die Linke erreicht. Im Senat errang die FA eine Mehrheit, nicht so in der zweiten Kammer. Die zweite Runde versprach also viel Spannung, zumal die Umfragen von einer Patt-Stellung berichteten, die jede Prognose unmöglich machte.

Kleines Detail: Cabildo Abierto, die Partei des vom Präsidenten Tabaré Vázquez abgesetzten Armeekommandanten, fiel von erschreckenden 12 auf 2,4%, und der Jurist Gustavo Salle, ein laut europäischer Definition als Schwurbler zu bezeichnender Kandidat (gegen Impfungen, Soros, Freimaurer, Zionisten, usw.) war auch nicht stärker.

Erleichterung nach dem Triumph: die künftige Vizepräsidentin Carolina Cosse und Uruguays Präsident ab März 2025, Yamandú Orsi; © Mara Quintero

Eine Stunde nach dem Schließen der Wahllokale am 24. November prognostizierten alle Institute einen Wahlsieg der FA. Unmittelbar danach gratulierten sowohl der Ende Februar scheidende Präsident wie auch der unterlegene Kandidat Álvaro Delgado von den Blancos (45,9%) dem Wahlsieger Yamandú Orsi (49,8%). Am Montag sagte Lacalle, es gebe jetzt mehr oder weniger zwei Regierungen in Uruguay, er würde seinen Nachfolger in wichtige Entscheidungen einweihen. Am Dienstag gab es ein erstes Treffen. Am Freitag nahmen beide am Gipfel des Mercosur mit der EU teil. Ein Wunder? Nein, Uruguay eben, 2024.

Wer ist der Sieger?

Yamandú Orsi ist 57 Jahre alt. Er wurde in Canelones, dem Bundesland, das die Landeshauptstadt Montevideo umschließt, geboren und war seit 2015 „Intendente“ (= Landeshauptmann). Er hat, wie könnte es in Uruguay anders sein, spanische und italienische Wurzeln. Ab 1990 war er Lehrer für Geschichte, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er kommt wie Mujica  aus dem Movimiento de Participación Popular (MPP). Und noch eine „Spezialität“ Uruguays: Er verzichtete Anfang März auf seinen Posten, ebenso wie seine Vize-Kandidatin Carolina Cosse, die in Montevideo an der Macht war. Kandidaten dürfen kein öffentliches Amt ausüben.

Wie wird es weitergehen? Gesellschaftlich haben die Regierungen der FA einiges verändert, was aber von der jetzigen Regierung nicht angetastet worden ist. Ob rechts oder links – es ist zwar nicht egal, wer das Land regiert, aber wie es ein Freund des Verfassers, der während der Diktatur eingesperrt war und dann nach Ecuador geflüchtet ist, vor der Stichwahl formuliert hat – viel würde sich nicht ändern.

Zum Abschluss noch Statistik, da gerade die Ergebnisse des Zensus 2023 publiziert wurden: 3.499.451 Menschen leben in Uruguay, 52,8% identifizieren sich als Frau, 46,5% als Mann. Da bleiben 0,7% offen – Uruguay ist in dieser Beziehung sehr liberal. Die Bevölkerungszahlen ändern sich wenig, Montevideo hat 1,3 Mio. Einwohner. Ihre Zahl nimmt jährlich um 1.000 ab, die ins Umland ziehen.

88% sind von weißer Hautfarbe, 10,6% identifizieren sich als Afroamerikaner, 6,4% sind indigener Abstammung. Im Land leben mittlerweile 32.000 Venezolaner und fast ebenso viele Kubaner; es wird betont, dass sie sehr integrationswillig seien.

Zugegeben – es klingt zu schön, um wahr zu sein. Aber es ist ein Erfahrungsbericht nach nunmehr zwei Monaten in diesem friedlichen Land.

Roberto Kalmar wurde als Sohn österreichischer Flüchtlinge 1956 in Montevideo geboren. Seit 1973 in Österreich, hat er Sportwissenschaften und Lateinamerikanistik studiert.