Perus Demokratie zwischen Niedergang und neuem Aufbruch
Von Eny Angenvoort
Niedergang, Aushöhlung und sogar das Ende der peruanischen Demokratie sind in jüngster Zeit mehrfach diagnostiziert oder zumindest als unmittelbar bevorstehend postuliert worden. Die Diagnose stellte sich als Kulminationspunkt jahrzehntelanger instabiler Phasen heraus, in denen das demokratische System einerseits von einer Minderheit instrumentalisiert und korrumpiert wurde und andererseits von einer Bevölkerungsmehrheit kaum als partizipatives Konzept wahrgenommen werden konnte. Doch nun scheint nach einer langen Phase der Lethargie der Kern der Demokratie in Peru wieder aufgekeimt zu sein: Das Volk begehrt auf und strebt nach der wahren Herrschaft des Volkes.
Geeint durch die Forderungen, Neuwahlen einzuberufen sowie eine verfassunggebende Versammlung zu bilden, fanden am vergangenen 19. Juli landesweite Protestaktionen statt, zu denen der im Februar gegründete nationale Koordinationsausschuss (Coordinadora Nacional Unitaria de Lucha) aufgerufen hatte. Im Zentrum der Proteste stand die sogenannte „Dritte Einnahme Limas“, ein Protestmarsch, der Bürger, Organisationen und Gruppen verschiedener politischer Richtungen, einschließlich der Mitte und der Rechten, mobilisierte.
Die Proteste verliefen größtenteils friedlich, obwohl die Polizei – 24.000 Einsatzkräfte im ganzen Land – Ausweiskontrollen durchführte, bei denen Bild- und Audioaufnahme der Protestierenden gemacht wurden, und in den Abendstunden Tränengas einsetzte, um die Demonstranten auseinanderzutreiben. Die Demonstrationen fanden mehr als sieben Monate nach der erneuten politischen Krise statt, in die das Land nach der Absetzung von Präsident Pedro Castillo geraten war, und knapp vier Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste, wobei zwischen Dezember 2022 und Februar 2023 mindestens 49 Menschen durch staatliche Gewalt ums Leben kamen.
Der Marsch in Lima zeichnete sich besonders durch die pluralistische und friedliche Beteiligung verschiedenster Gruppierungen aus, denen es trotz gemeinsamer Ziele aber nicht gelang, koordinierter und geordneter aufzutreten. Unter den insgesamt 21.000 Demonstranten befanden sich viele Gruppen und unabhängige Bürger aus der Mittelschicht, die sich zuvor nicht an den Protesten von Dezember bis Februar beteiligt hatten und nun durch die Versuche der Regierungskoalition und der Legislative, wichtige Institutionen der Demokratie zu vereinnahmen, doch bereit sind, an den Protestaktionen teilzunehmen. Insgesamt ist der Konsens bezüglich des Rücktritts der Regierung Boluartes, der Auflösung des Kongresses, vorgezogener Wahlen und der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung gewachsen, zusätzlich wird aber auch Gerechtigkeit für die Opfer der staatlichen Repression insbesondere in den betroffenen Regionen des Landes gefordert.
Im Vorfeld der Mobilisierung hatten die Regierung und ihre Verbündeten verstärkt versucht, die Organisatoren, Gruppierungen und ihre Forderungen zu diskreditieren, indem sie ihnen immer wieder unterstellten, gesellschaftliche Anarchie erzeugen und die Autorität staatlicher Institutionen unterminieren zu wollen. Diese Vorwürfe wurden häufig in den Kontext des kommunistisch-maoistischen Terrorismus der 80er Jahre gestellt. Allerdings ist die aktuelle Mobilisierung gesellschaftlich sehr breit aufgestellt und demokratisch orientiert, was sich im Spektrum der teilnehmenden Menschen unterschiedlichster Schichten und Herkünfte zeigt. So sind diesmal Menschen aktiv dabei, denen als Angehörigen der Mittelschicht keine Sympathie für Kommunismus und Terrorismus nachgesagt werden kann. Das Narrativ, das Boluarte reaktiviert hat, geht auf Fujimoris Regierungszeit zurück. Demnach sind soziale Forderungen als illegitim zu betrachten, da die Nöte der armen Bevölkerungsschichten auf „Faulheit“ und „angeborene Unfähigkeit“ zurückzuführen seien. Soziale Ungleichheit könne nicht mit strukturellen politischen oder ökonomischen Ursachen verknüpft werden und soziale Bewegungen würden lediglich der Kanalisation von Frust und Zerstörungswut mit Ressentiments geladener Menschen dienen, die sich linksgerichteter Ideologie als Feigenblatt bedienten.
In den ersten Monaten des Jahres ging Boluarte sogar so weit in ihren Bemühungen, den Protestierenden in den Provinzen die Legitimität abzusprechen, indem sie die Provinz Puno – ein Epizentrum der Proteste und somit Ziel der harten Repression der Regierung – mit den Worten „Puno no es el Perú“ zum Randgebiet des Staates deklarierte. Hintergrund dieser Aussage war der Umstand, dass Puno sich – unter Berufung auf die kommunitaristischen Prinzipien des Aymara-Volkes – als einzige Provinz der Regierung Boluartes mit einem dreimonatigen Generalstreik widersetzte und die stärksten Unruhen und meisten Todesfälle verzeichnete.
Jetzt, wo landesweit zehntausende von Menschen auf die Straßen gegangen sind, wird allmählich deutlich, dass die Diskreditierung der sozialen Bewegungen und ihrer Beweggründe nicht mehr genügt, um die Menschen von ihrer demokratischen Teilhabe abzuhalten.
Entwicklungen seit Dezember 2022
Die Situation Perus seit der Übernahme der Staatsgeschäfte durch Boluarte im Dezember letzten Jahres bedeutet die Fortführung einer endlosen Reihe von Krisen auf allen Ebenen des Staatsapparates. Die Rede ist in diesem Zusammenhang von einer parlamentarischen Diktatur, die sich seit Jahren unter dem Einfluss konservativer Parteien – insbesondere Keiko Fujimoris Partei – etabliert hat.
Laut einer in diesem Monat durchgeführten Umfrage sieht sich Boluarte mit einer Missbilligungsquote von rund79% konfrontiert, während die Ablehnung des Kongresses sogar bei 85% liegt. Im Vergleich dazu lag die Missbilligung von Pedro Castillo im Juli letzten Jahres bei knapp 71% und die des Kongresses bei 75%. Zudem glauben die meisten Peruaner:innen, dass sich ihre wirtschaftliche Lage während der Regierungszeit Boluartes verschlechtert hat, wie eine weitere Umfrage dieses Monats ergab: 54% der Befragten gaben an, ihre wirtschaftliche Situation habe sich in den letzten sechs Monaten verschlechtert und 41% sagten, sie sei konstant geblieben. Zeitgleich kämpft das Land mit dem schlimmsten Dengue-Ausbruch, den Peru jemals erlebt hat. Das Fieber breitet sich stärker in Armutsgebieten Perus aus, wo 27,5% der 33 Millionen Einwohner leben, die unter anderem zusätzlich unter einer nicht ausreichenden Trinkwasserversorgung leiden.
Die enorme Unbeliebtheit Boluartes ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass sie nicht wie ein Interimsstaatsoberhaupt handelt, dessen Hauptanliegen das Ansetzen neuer Wahlen sein sollte, und dass sie mit starken Repressionen auf die Forderungen der Bevölkerung reagiert hat. Sie selbst ist eine Figur – jedoch kein Opfer– auf einem politischen Schachbrett, die von einer konservativen Elite eingesetzt wurde, welche nicht nur die politische Macht und das Gewaltmonopol innehat, sondern auch von Unternehmern, Medien und Justiz unterstützt wird.
Abgeordnete des Kongresses sind noch unbeliebter und teilweise sogar verhasst, da sie – sofern einmal gewählt – ihre eigentlichen Funktionen als Volksvertreter praktisch vergessen und darauf bedacht sind, ihre Posten beizubehalten und nicht durch Neuwahlen zu gefährden. Im peruanischen Wahlsystem ist nämlich die direkte Wiederwahl eines Abgeordneten nicht erlaubt. Abgeordnete in Peru verfügen über Privilegien und Gehälter, von denen sie zuvor nie zu träumen gewagt hätten, und zudem über Möglichkeiten, rund um ihre Posten Privatgeschäfte zu betreiben. Ein besonders lukratives Geschäft ergibt sich aus ihrer „politischen Wandelbarkeit“ bei der Vergabe ihrer Stimmen im Kongress unabhängig von jeglichem Nutzen für die Bevölkerung. Unrühmliches Beispiel dieser Praxis ist der Versuch der rechten Parteien im Juni, das Zweikammernsystem, das von Fujimoris Verfassung von 1993 aufgehoben wurde, wieder einzusetzen, um auf diese Weise ihre Machtbereiche auszuweiten.
In den letzten Monaten haben sich der Kongress und die kooperierende Exekutive hauptsächlich darauf konzentriert, ihre Position zu stärken und zu konsolidieren. Auf der anderen Seite ist bisher nichts Konkretes unternommen worden, um die schweren Verletzungen der Grundrechte, die bei den Protesten Ende des letzten und Anfang dieses Jahres stattfanden, zu ahnden. Vielmehr machten sich Boluarte und ihr Premierminister Alberto Otárola in der Öffentlichkeit daran, das Militär und die Polizei für die Erfüllung ihrer Pflicht zu loben und sogar Boni für die an der Niederschlagung der Proteste beteiligten Polizisten anzukündigen.
Seinerseits war der Kongress in den letzten Monaten auch besonders aktiv, wenn es darum ging, seine Macht und Kontrolle auszuweiten. Im Juni bspw. schloss er die Oberste Staatsanwältin Zoraida Ávalos für fünf Jahre von öffentlichen Ämtern aus und verfügte ihre strafrechtliche Verfolgung. Ávalos hatte gegen 24 ehemalige Kongressabgeordnete und hochrangige Beamte ermittelt, die der aktuellen Regierungskoalition angehören. Des Weiteren startete der Kongress Gesetzesinitiativen zur Absetzung des Präsidenten des Wahlgerichts und des Leiters des Nationalen Büros für Wahlvorgänge, weil beide nach der Stichwahl 2021 nicht bereit gewesen waren, den von der damaligen Kandidatin Keiko Fujimori erhobenen Vorwurf des Wahlbetrugs zu bestätigen. Weitere wichtige demokratische Institutionen wie das Büro des Bürgerbeauftragten wurden mit Personen neu besetzt, die dem Kongress und der Regierung Boluarte positiv gegenüberstehen. Zudem begann das Verfassungsgericht auf fast unerklärliche Weise, sich Gesetzesentwürfen des Kongresses und Initiativen der Regierung gegenüber auffallend unkritisch zu zeigen. Die Macht des Kongresses expandiert und ist allgegenwärtig: So hatte allein der Gesetzentwurf zur Verschärfung der Strafen für Verleumdungsdelikte in den Medien zur Folge, dass besonders kritische Journalisten ihre Arbeit verloren oder sich vor Gericht rechtfertigen mussten.
Der Marsch: Auftakt einer nationalen Umwälzung?
Der Marsch vom 19. Juli in Lima und der landesweite Protesttag in den Provinzen war insgesamt ein kraftvoller Auftakt für die Aktivitäten, die bis Ende des Monats und darüber hinaus folgen sollen. So haben soziale Organisationen jeglicher Art angekündigt, weiterhin Boluartes mangelnde Legitimation durch die Fortführung der Proteste zu verdeutlichen.
Aus Puno und anderen Regionen des Landes werden in den nächsten Tagen weitere Delegationen in Lima erwartet, und in mehreren Provinzen des Landes wie Apurimac, Arequipa und Puno selbst sind weitere Märsche, Kundgebungen und Straßenblockaden angekündigt, wenn sie nicht bereits stattfinden oder bestehen.
Die Regierung und der Kongress verlieren indessen immer mehr an Glaubwürdigkeit, indem sie weiterhin auf ihrem Narrativ der Stabilität und der politischen Kontrolle beharren und sogar behaupten, dass die Proteste zurückgehen würden. Beobachtern zufolge bildet sich jedoch eine demokratische, pluralistische und nationale Bürgerkoalition, die den autoritären Bestrebungen ein Ende setzen könnte. Dabei lasse sich die Frage nach einer führenden Instanz in der Koalition nicht eindeutig klären, da die offiziellen politischen Parteien sich derzeit nur zurückhaltend zur politischen Lage äußern und sich so nicht klar positionieren.
Boluarte selbst könnte jedoch auch den Trend der Bürgerproteste nutzen, um eine neue strategische Position auf dem politischen Schachbrett einzunehmen. Demzufolge könnte sie sich zunächst von jener Kongressmehrheit distanzieren, die sie ständig in Schach hält, die Wahlen tatsächlich im Jahr 2024 ansetzen, auf Dialogkurs mit den Protestierenden gehen und aus ihrem Kabinett jene Mitglieder entfernen, die weiter auf Konfrontationskurs sind.
Wie auch immer sich der Druck der Bürger auswirkt, bleibt die Frage offen, ob sich politische Alternativen aus der Protestbewegung selbst anbieten werden oder welche Politiker wirklich in der Lage wären, das Volk tatsächlich zu vertreten und sich demokratisch um seine Belange zu kümmern. Was jedoch bleiben wird, ist die Tatsache, dass das peruanische Volk aufbegehrt und im Begriff ist, sich sein demokratisches Selbstverständnis zurückzuholen und zu entfalten.