Wasserkrise am Titicaca

Von Robert Lessmann

Auch ORF und ARD haben es bemerkt: Der Pegel des im Grenzbereich zwischen Bolivien und Peru gelegenen Titicaca-Sees sinkt einem historischen Tiefststand entgegen. Das Problem ist freilich weitreichender.

Man muss diese Farben gesehen haben: El lago, der See, gesprenkelt von 41 Inseln. Im Osten flankiert von der Königskordillere, aus der am östlichsten Zipfel des Titicaca der mächtige Illampú mit 6.368 Metern herausragt. El lago, wo der Himmel so nah ist, dass man die Wolken herunterpflücken zu können glaubt; wo im Morgen- und Abendlicht das Blau des Wassers und des Himmels, wo die Pastellfarben der umgebenden Landschaft die unglaublichsten Nuancierungen annehmen. Ist es ein Wunder, dass zwei Hochkulturen diesen Platz als Mittelpunkt der Welt angesehen haben? Hat nicht der Schöpfergott Huiracocha, aufgetaucht aus den Tiefen des Titicaca-Sees, von der Sonneninsel aus die Sonne und von der Mondinsel aus den Mond ans Firmament befohlen?

© Robert Lessmann

Mit 3.810 Metern höchster schiffbarer See der Erde; sechzehnmal so groß wie der Bodensee. Dürre Superlative für diesen Platz, der wohl die meiste huaca hat. Huaca bedeutet für die Andenvölker soviel wie spirituelle Kraft. Ihre Lebenswelt (Berge, Hügel, Seen, Flüsse) war und ist für sie von Ahnengeistern, Achachilas oder Apus beseelt, von denen ihr Schicksal abhängt, mit denen sie sich gut stellen und denen sie opfern müssen. Je größer, eigenartiger, exponierter der Berg, der See, der Fels, desto mächtiger auch der ihm innewohnende Apu.

Die Kosmovision der Andenvölker ist nicht nur von allgegenwärtigen Gegensatzpaaren gekennzeichnet – männlich/ weiblich, Tag/ Nacht, Inti/ Pachamama – sie ist auch eine reziproke: Für alles, was Pachamama, die mehr Naturgesamtheit als einfach nur Mutter Erde ist, gibt, muss sie auch etwas zurückbekommen. So geht zum Beispiel der erste Schluck des Getränks stets an sie.

Die Anden sind, zusammen mit dem Himalaya, die gewaltigste Wetterscheide der Erde. Berge herrschen über Regen und Trockenheit. Ihre Gletscher bringen das lebenswichtige Wasser (noch immer) auch während der Trockenzeit. In der Tat: Aufstieg und Niedergang der Hochkulturen des Andenhochlands verliefen in erstaunlichem Maße parallel zu klimatischen Phänomenen. Die Herausbildung einer Landwirtschaft ab etwa 1.500 v. Chr. fiel mit einer feuchteren Periode zusammen, der Niedergang der Hochkultur von Tiwanaku (ab 1.100) mit einer Trockenheit, die bis ins 15. Jahrhundert hinein anhielt und die deren intensiven, künstlich bewässerten Feldbau infrage stellte. Die Sonne, die Berge und der See bestimmten ihr Schicksal.

Auch heute noch: 8.372 km2 Wasserfläche hat der Titicaca, und sein Pegel schwankt je nach Jahreszeit und Niederschlagsmenge um bis zu sechs Meter. Er hat 25 Zuflüsse. Der einzige Abfluss, der Rio Desaguadero im Süden, ist nicht während des ganzen Jahres wasserführend und trägt nur 5% zur Entwässerung des Sees bei. Der Rest ist Verdunstung durch den trockenen Wind und die starke Höhensonne. So kommt es zu einer allmählichen Versalzung und zunehmenden Umweltproblemen. Das Wasser verdunstet, Schadstoffe bleiben im See.

Austrocknen dürfte der an manchen Stellen fast 300 Meter tiefe See nicht so bald. Doch wegen der ausbleibenden Niederschläge nähert sich der Pegel des Titicaca-Sees  mit 3.808,19 Metern derzeit dem historischen Tiefststand von 3.808,10 Metern (1996) an und es könnte noch weniger werden. Betroffen sind rund zwei Millionen Menschen, für die der See als Trinkwasserreservoir dient. Auch Fischfang, Tourismus und die Landwirtschaft leiden. Die Quinoa-Ernte – ein besonders eiweißhaltiges Andengetreide, das auch in Reformhäusern in Übersee Absatz findet – ist nach Angaben der Handelskammer des peruanischen Departements Puno um 90 Prozent eingebrochen.

Die Großstadt Puno (130.000 Einwohner) liegt direkt am See. Mit Juliaca (218.000 Einwohner, 85 Kilometer) und den bolivianischen Metropolen El Alto (850.000) und La Paz (760.000 beide ca. 130 Kilometer) liegen weitere Ballungsräume im Einzugsbereich. Während der bolivianische Vizeminister für Wasser noch Anfang September beruhigte, die Reserven seien auf optimalem Niveau, lud der Bürgermeister von La Paz, Iván Arias am 15. September zu einem Wassergipfel ein und eine persönliche Nachschau der Bürgermeisterin von El Alto, Eva Copa, bei den beiden wichtigsten Trinkwasserspeichern ergab, dass diese nur zu 50 bzw. zu 23 Prozent gefüllt sind. Während sich neben der Klimakrise nun auch das periodisch auftretende Wetterphänomen El Niño ankündigt, das neben großer Trockenheit oft auch katastrophale Starkregen bringt, nimmt die Nervosität zu. Brauchwasser solle verstärkt zum Einsatz kommen. Nachts soll der Wasserdruck in El Alto vermindert werden. Sieben von neun bolivianischen Departements sind aktuell von Trockenheit betroffen, 21 Gemeinden haben den Wassernotstand ausgerufen.

In Potosí wird bereits rationiert. Neben ausbleibenden Niederschlägen ist es dort vor allem die Belastung mit giftigen Abwässern aus dem Bergbau, die zur Wasserkrise beiträgt. In der Tat sind die Probleme seit Jahren bekannt: „Der Titicaca-See erstickt in Algen“, stand bereits vor einem Vierteljahrhundert in einigen Zeitungen. Das Problem beschränkte sich damals auf die flache Bucht von Puno, in die sich die ungeklärten Abwässer der Großstadt ergossen. Kläranlagen sollten Abhilfe schaffen.

Bereits im Jahr 1955 unterzeichneten die Regierungen von Peru und Bolivien ein Abkommen über die gemeinsame Nutzung des Titicaca-Wassers, zwei Jahre später folgte eine Wirtschaftlichkeitsstudie. Am 20. Februar 1987 wurde eine Subcomisión Mixta para el Desarrollo de la Zona de Integración del Lago Titicaca (SUBCOMILAGO) gegründet. Verlust der umgebenden Vegetation durch Überweidung und Erosion, Reduzierung der Wasservegetation (Totora-Schilf), abnehmende Fischpopulationen, Kontaminierung der Bucht von Puno durch biologische Abwässer und des Lago Poopó durch Schwermetalle: Das waren die wesentlichen Problemfelder, die die bolivianisch-peruanische Kommission, SUBCOMILAGO, auf der Grundlage von Studien bereits Anfang der 90er Jahre identifiziert hat. Mit Unterstützung der Europäischen Union versuchte die binationale Kommission den Problemen zu begegnen: Verbesserung der Lebensbedingungen der Anrainer und Ressourcenschutz, vernünftige Wasserregulierung durch Kleindämme am Desaguadero in Verbindung mit bewässerter Landwirtschaft.

Überweidung, Verlust der Bodenfruchtbarkeit, Desertifikation: Vergleichbare Probleme treten im ganzen Andenraum auf. 60 Prozent des peruanischen Berglandes waren nach Schätzung des PROAGUA-Projekts der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (damals GTZ, heute GIZ) von der „Verwüstung“ bedroht. Neben der Einführung geeigneter Techniken der Bewässerung und des Wassermanagements ging es bei PROAGUA (2015-2023) nicht zuletzt auch um Bewusstseinsbildung. Die Erfolge sind überschaubar, die Probleme nehmen zu.

Der Titicaca-See ist Teil des 56.000 km2 großen Titicaca-Beckens. Der Rio Desaguadero mündet nach 400 Kilometern in den Lago Poopó, der wie der Titicaca und der Lago Uro Uro ein Überbleibsel des ursprünglich (gegen Ende der letzten Eiszeit) sehr viel größeren Sees ist. An diesen beiden Seen kämpften die letzten Uros und Chipayas ums Überleben, indianische Völker, die sich vom Fischfang und Wasservögeln ernähren. Vergeblich! Ungeachtet des Pachamama-Diskurses und der Umweltrhetorik der Regierung. In diesen kleineren Seen nahe der bolivianischen Minenstadt Oruro waren die Umweltprobleme noch viel markanter, nicht zuletzt durch die Schwermetallbelastungen aus den Goldminen der Umgebung. Der Poopó-See wurde bereits im Jahr 2015 für ausgetrocknet erklärt. Die Reste des Uro-Uro sind von Plastikabfällen bedeckt.