Boliviens lähmender Caudillismo

Von Robert Lessmann


Am 6. August wird Bolivien 200 Jahre seiner Unabhängigkeit feiern. Am 17. August ist Wahltag. Doch drei Monate vor dieser symbolbeladenen Parlaments- und Präsidentschaftswahl gibt es keine Favoriten – ja nicht einmal Kandidaten. Nur Evo Morales, der Ende 2019 gestürzte einstige Hoffnungsträger der Linken und Indigenisten Lateinamerikas, fordert unermüdlich seine Kandidatur ein. Doch laut Oberstem Gerichtshof und Nationalem Wahlgerichtshof darf er nicht kandidieren. Zudem droht ihm die Verhaftung. Das Land ist tief gespalten zwischen Regierung und Opposition.

Gespalten sind aber auch die Regierungspartei (MAS – Movimiento al Socialismo) und die hinter ihr stehenden sozialen Bewegungen, zwischen den verfeindeten Anhängern des Expräsidenten („evistas“) und des amtierenden Präsidenten Luis Arce („arcistas“). Erstmals seit zwei Jahrzehnten hat die Opposition eine reale Chance auf den Wahlsieg, doch auch das Oppositionslager ist fragmentiert. Alle Versuche, aussichtsreiche Allianzen zu bilden, sind gescheitert. Das alles vor dem Hintergrund einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Es scheint, als würde es zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit nicht wirklich etwas zu feiern geben. Ein Versuch von Robert Lessmann, den politischen Scherbenhaufen zu sortieren

Das hatte sich der wohl erfolgreichste Präsident, den Bolivien je hatte, anders vorgestellt. Das kleine Land im Herzen des Halbkontinents war nach seinem Erdrutschsieg Ende 2005 vielbeachteter Hoffnungsträger. Könnte die Entwicklung dort ein Vorbild sein? Nichts weniger als die „Neugründung Boliviens“ hatte man sich vorgenommen. Eine Regierung der sozialen Bewegungen wollte man sein. Bereits sechs Wochen nach Amtsantritt wurde ein Einberufungsgesetz zu einer verfassunggebenden Versammlung verabschiedet. Die neue Verfassung wurde dann 2009 – erstmals durch eine Volksabstimmung – angenommen. Bolivien wurde durch sie zum „plurinationalen Staat“. Soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama wurden darin festgeschrieben. Indigene Sprachen wurden auch Amtssprachen und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalflagge gestellt.

Evo Morales Ende März in Villa Tunari: In seiner Hochburg scheint die Popularität des Expräsidenten noch ungebrochen. © Fernando Cartagena, AFP

Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen vom 1. Mai 2006 spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg um Jahre. Ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die untere Mittelschicht auf. Deren Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war der Extraktivismus, insbesondere der Export von Erdgas. Grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, was manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen: eine bis dato in Bolivien unbekannte politische Stabilität. Nur nicht die beiden letzten…

Heute sitzt Morales im Trópico de Cochabamba ohne Kandidatenstatus, ohne Partei, von einem harten Kern seiner Getreuen beschützt. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen Sex mit Minderjährigen und Menschenhandel. Wie kam es dazu?

Morales’ Fall

Schon in seiner Zeit als Gewerkschaftsführer hat Morales Widersacher und Gegenkandidaten erfolgreich ausgeschaltet. Als Präsident wechselte er seine Minister in rascher Folge, servierte unter anderem seinen Mentor und Lehrmeister ab, den großen alten Gewerkschafter Filemón Escobar, und  war sehr erfolgreich darin, die wichtigsten der vielen sozialen Bewegungen zu bedienen, die seine Regierung unterstützten. Die neue Verfassung vom Januar 2009 sieht in Art. 168 nur zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden vor. Ein Referendum zur Änderung dieses Artikels ging im Februar 2016 knapp verloren. Mitentscheidend waren damals Berichte eines „Enthüllungsjournalisten“ über ein gemeinsames außereheliches Kind des Präsidenten mit einer stets grell geschminkten Blondine, was dieser abstritt. Bilder von gemeinsamen Auftritten – etwa beim Karneval von Oruro – belegten demgegenüber zumindest eine gewisse Verbindung zwischen beiden, und später wurde die Dame zu einer Haftstrafe verurteilt. Sie hatte in dieser Zeit millionenschwere Regierungsaufträge für die chinesische Firma an Land gezogen, für die sie arbeitete. Der Ruf war angekratzt, doch wurden keine Spuren eines angeblichen Kindes gefunden.

Politisch schlimmer wog, dass Morales das Ergebnis dieses Votums ignorierte und bei den Wahlen vom Oktober 2019 erneut kandidierte, was seinen Ruf als Demokrat nachhaltig beschädigte. Seine Popularität sank. Für die Opposition war klar: Es würde Wahlbetrug geben, das Regierungslager sah einen Putsch voraus. Die Wahlen brachten dann herbe Verluste von wahrscheinlich 14 Prozent, doch Morales gewann sie noch immer mit etwa 47 Prozent. Fraglich blieb, ob er zehn Prozentpunkte vor dem stärksten Oppositionskandidaten lag, wodurch eine Stichwahl vermieden würde.

Als in der Wahlnacht die Schnellauszählung (nicht die amtliche!) angehalten wurde, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Sechs von neun Departements-Wahlzentralen gingen in Flammen auf. Straßenproteste wurden wenige Tage später durch eine Polizeimeuterei befeuert. Schließlich legte der Armeechef Morales den Rücktritt nahe. Präsident und Vizepräsident gingen erst ins mexikanische Exil, dann nach Buenos Aires. Dorthin – so die heutige Anklage – sollen Morales immer wieder junge Mädchen zugeführt worden sein. Mit einer seinerzeit Fünfzehnjährigen soll er eine Tochter haben. Es war Hybris der Macht, mit der sich Morales selbst ins Abseits manövrierte.

In Bolivien übernahm eine De-facto-Regierung, die von der politischen Rechten getragen wurde, von Korruption gekennzeichnet war und ohne Umschweife versuchte, den Prozess des Wandels, der seit 2006 stattgefunden hatte, rückgängig zu machen. Sie scheiterte an den Herausforderungen der Corona-Pandemie und politischen Ambitionen der Beteiligten. So wurde der Zweitplatzierte bei der Wahl von 2019, Carlos D. Mesa, praktisch ausgeschaltet. Vor allem aber erzwangen die machtvollen sozialen Bewegungen, die die MAS-Regierung stets getragen hatten, durch Straßenblockaden Neuwahlen, die dann im November 2021 die MAS mit 55,1 Prozent eindrucksvoll zurück an die Macht brachten.

Vom argentinischen Exil aus hatte Morales seinen langjährigen Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Luis Arce, als Spitzenkandidaten nominiert und seinen Intimfeind David Choquehuanca als Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Der langjährige Außenminister hatte sich nach dem verlorenen Referendum vom Februar 2016 als Kandidat ins Spiel gebracht und war von Morales daraufhin auf einen Diplomatenposten ins „Exil“ befördert worden. Die Parteibasis hatte zuvor für Choquehuanca und Andrónico Rodríguez als Vize votiert, einen jungen politischen Ziehsohn Morales’. Nach dem Amtsantritt der Regierung Arce/ Choquehuanca kehrte Morales, vom argentinischen Präsidenten Alberto Fernández bis an die Grenze begleitet, im Triumphzug nach Bolivien zurück und versuchte sogleich, als Parteichef und Übervater weiterhin die Regierung zu lenken.

Im Zuge der Rivalität zwischen Evo Morales und seinem Nachfolger Luis Arce kam es im Juli 2024 zur absurden Episode eines mehr theatralischen denn ernsthaften Putschversuchs.

Das konnte nicht gutgehen. Schon die Regionalwahlen von Anfang 2021 wurden – obzwar deutlich gewonnen – zum relativen Misserfolg. Es reüssierten oftmals Kandidaten und Kandidatinnen, die von Morales ausgebremst worden waren. Der jungen Eva Copa, die als Senatspräsidentin das Fähnlein der MAS gegen die De-facto-Regierung hochgehalten hatte, während die Parteispitze im sicheren Exil saß, wurde vorgeworfen, mit der Regierung kooperiert zu haben. Eine Nominierung wurde ihr verwehrt. Sie wurde dann auf einer indigenistischen Liste mit 70 Prozent zur Bürgermeisterin der zweitgrößten Stadt, El Alto, gewählt. Stichwahlen gingen verloren und wurden teilweise durch MAS-Dissidenten gewonnen. Die MAS-internen Spannungen nahmen zu und regelmäßig wurden Präsident und Vizepräsident oder einzelne Minister von den sozialen Bewegungen zum Rapport einbestellt, die damals noch hinter Morales standen.

Währenddessen versuchte die Opposition von ihrer Hochburg Santa Cruz aus ständig, die Regierung durch „Bürgerstreiks“ zu destabilisieren, was das Land in Summe Milliarden kostete. Unter anderem war man gegen so triviale Dinge wie eine Volkszählung. Ein Fanal war die Aufforderung von Morales an „seine Regierung“, endlich in Sachen Volkszählung zu handeln – und zwar mit den Argumenten der Opposition.

In dem Maße, wie die Kritik am Expräsidenten wuchs, der aus dem sicheren Exil heraus jene kritisiert hatte, die daheim für ihn den Kopf hingehalten hatten, wurde Morales’ Kritik an „seiner“ Regierung immer direkter und schriller. Morales warf ihr einen Rechtsruck und Paktieren mit der Opposition vor, nachdem man sich auf ein Verfahren zur Volkszählung geeinigt hatte. Zwölf Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen, jegliche Kritik als „Verrat“ diffamiert. Als sich der junge Innenminister Eduardo del Castillo im Jänner 2022 „erdreistete“, Maximiliano Dávila zu verhaften, der unter Morales Chef der Spezialkräfte für den Kampf gegen den Drogenhandel gewesen war, nun aber von der DEA gesucht wurde und sich auf der Flucht nach Argentinien befand, wurde er neben Vizepräsident Choquehuanca und zusammen mit dem Justizminister zum Lieblingsfeind. Morales sprach von einem sinistren Plan gegen ihn und verlangte immer wieder deren Rücktritt. Man beschuldigte sich gegenseitig, mit dem Drogengeschäft unter einer Decke zu stecken. Als die MAS-Parlamentsfraktion zusammen mit der Opposition ein Amtsenthebungsverfahren gegen del Castillo durchsetzte, wurde er von Präsident Arce umgehend wieder berufen. Schließlich hatte er sich nicht nur aktiv gegen die Machtergreifung der Rechten 2019 gewehrt. Er hatte zusammen mit dem Justizminister auch dafür gesorgt, dass die maßgeblich Verantwortlichen vor Gericht gestellt wurden, darunter eine ganze Reihe hoher Militärs.

Selbstdemontage der MAS

Im Oktober 2023 war das Band zerrissen. Es gab bereits zwei MAS-Parlamentsfraktionen und auch die sozialen Bewegungen waren in „evistas“ und „arcistas“ gespalten. Morales berief einen Parteitag in seiner Hochburg im Kokaanbaugebiet des Trópico de Cochabamba ein, wo sich der „lider indiscutible“ zwei Jahre vor den Wahlen zum Parteichef wiederwählen und vorzeitig zum Spitzenkandidaten küren ließ. Dass Arce und Choquehuanca nicht kamen, wurde als „Selbstausschluss“ gewertet. Freilich wurde dieser Parteitag wegen Verfahrensfehlern bei der Einberufung vom Wahlgerichtshof nicht anerkannt.

Protestmarsch von Evo Morales und Gefolgsleuten im September 2024 in El Alto;
© Aizar Raldes, AFP

Der Oberste Gerichtshof untersagte Morales schließlich mit einer abenteuerlichen Auslegung der Verfassung überhaupt die Kandidatur, weil er schon zweimal Präsident war. Diese spricht freilich für diesen Fall wie gesagt von aufeinanderfolgenden Amtsperioden. Die „evistas“ erkennen das Verdikt nicht an, weil die Amtszeit der Richter bereits abgelaufen war. Eine Neuwahl der Verfassungsrichter war wegen der Pattsituation im Parlament nicht möglich gewesen. Im Mai 2024 wählten die „arcistas“ auf „ihrem“ Parteitag in El Alto mit Unterstützung des ihnen nahe stehenden „Einheitspakts“ der sozialen Organisationen Grover García aus der Landarbeitergewerkschaft CSUTCB zum Parteichef der MAS. Die „evistas“ protestierten dagegen mit Märschen und Straßenblockaden, die teilweise gewalttätig verliefen und sukzessive an Zulauf verloren. Auch sie dürften Milliardenschäden für die Volkswirtschaft verursacht haben. Präsident Arce hielt sich derweil vornehm zurück: Es sei die Zeit zu arbeiten. Für eine Kandidatenwahl sei es zu früh, gab er den fleißigen Administrator. Ein Volkstribun ist er ohnehin nicht. Dafür verfügt er als Präsident über die Mittel, seine Gefolgschaft bei der Stange zu halten. Woher Morales sie nimmt, ist nicht bekannt.

Dabei steckt Bolivien in einer ernsten Wirtschaftskrise. Dollars sind knapp. Zeitweise muss händeringend Diesel importiert werden und die Lähmung des Transportsektors befeuert die Inflation. Ersatzinvestitionen wurden lange vernachlässigt und die Regierung gibt die Schuld den „evistas“, die im Parlament zusammen mit der Opposition Gesetze und Kreditbewilligungen blockierten. Die Devisenreserven fallen schon seit 2015 und liegen mit 1,9 Mrd. US-Dollar (entspricht vier Prozent des BIP) auf dem niedrigsten Stand seit 2005. Ein Bericht der UN- Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) listet Bolivien unter den Ländern mit dem niedrigsten Wachstum und der höchsten Inflation auf. Präsident Arce wurde in der öffentlichen Wahrnehmung vom Architekten des bolivianischen Wirtschaftswunders zum Versager. In Umfragen liegt er bei fünf Prozent, während Morales immerhin noch rund 20 Prozent zugeschrieben werden.

Ein bolivianischer Elon Musk?

Was diese Umfragen wert sind, ist die Frage. Am meisten Aufmerksamkeit genossen jene, die von Marcelo Claure in Auftrag gegeben wurden, einem Selfmade-Unternehmer und Besitzer von Fußballclubs in Bolivien und den Vereinigten Staaten. Er strebe selbst kein Regierungsamt an, sagt er, wolle aber gerne helfen, Bolivien aus der Krise zu führen. Hauptsache, die Herrschaft der MAS ende. Aber Andrónico wäre noch immer besser als ein Pädophiler (Morales) oder ein Unfähiger (Arce): „Andrónico es mil veces mejor que un pedófilo o un incapaz y tengo mucha fé que todos trabajaremos juntos para sacar a Bolivia de este hueco“.

Seine politische Präferenz liegt rechts der Mitte. Dort tritt eine Reihe von Altpolitikern an. Manfred Reyes Villa, 2021 mit 59 Prozent erneut zum Bürgermeister von Cochabamba gewählt, kommt ursprünglich aus dem Umfeld der ADN von Exdiktator Hugo Banzer. Er gilt als ebenso effizienter wie korrupter Administrator. Nach der Machtübernahme der MAS 2006 musste er mit einem halben Dutzend Korruptionsverfahren im Gepäck außer Landes fliehen. Daneben scheint eine Rechtsallianz, die hauptsächlich aus Drahtziehern der 2019 eingesetzten „Interimsregierung“ bestand, mit dem Ausscheiden von „Tuto“ Quiroga zerbrochen. Ihr wurden rund 20 Prozent prognostiziert. Quiroga war nach dem Krebstod von Hugo Banzer als dessen Vize von August 2001 bis August 2002 schon einmal zum Präsidenten aufgerückt. Er gilt als Schlüsselfigur jener illustren Runde, die nach der Flucht von Morales 2019 in der Universidad la Católica die Strippen für die Einsetzung der „Interimsregierung“ zog.

Frontmann ist nunmehr der Zementunternehmer Samuel Doria Medina, der bereits 1992 unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Jaime Paz Zamora einmal Planungsminister war. Er gilt als liberal-gemäßigt. Ebenso wie Carlos D. Mesa, der Zweitplatzierte bei den Wahlen vom Oktober 2019, vormals ein honoriger Journalist und Historiker, der jedoch wegen seiner Rolle bei den Novemberereignissen von 2019 als „verbrannt“ gilt. Mit von der Partie ist aus dem Gefängnis Chonchocoro heraus auch Fernando Camacho, Organisator der Blockadeaktionen von Santa Cruz gegen die Regierung Arce, der sich damit brüstet, dass sein Vater 2019 die Polizei geschmiert und zur Rebellion angestiftet hat. Er wurde deshalb am 28. Dezember 2022 verhaftet. Im Umfeld der seinerzeit von Hugo Banzer gegründeten ADN geistert ferner der notorische Speiseöltycoon Branco Marincovic herum, der bereits beim Zivilputsch von Santa Cruz 2008 die Fäden zog.

Bolivien hat eine sehr junge Bevölkerung. Viele Wählerinnen und Wähler sind unter 30 Jahre alt und dürften sich kaum noch an die erfolgreichen ersten Jahre der Morales-Regierung erinnern, geschweige denn an das vorausgegangene Chaos und die damit verbundenen politischen Dinosaurier. Eine wichtige Rolle dürfte die Präsenz in den sozialen Medien spielen.

Der Faktor Andrónico

Politologen sprechen von einem dysfunktionalen Parteiensystem. Die einzige Partei mit nationaler Reichweite und Verankerung ist die MAS – und selbst die hatte vor den Regionalwahlen 2021 Probleme mit der Kandidatenaufstellung. Die Finanzierung ist ein großes Problem. Man ist in einer Partei, weil man im Falle ihres Wahlsiegs auf einträgliche Posten hofft. Umgekehrt suchen sich Persönlichkeiten eingetragene Wahlkürzel, die sich mitunter sogar in Familienbesitz befinden und vermietet werden. Morales etwa ist aktuell verzweifelt auf der Suche nach so einer Taxipartei. Ferner will er mit einem Marsch auf La Paz seine Kandidatur erzwingen.

Wird Andrónico Rodríguez (hier mit Evo im April in Cochabamba) von Evos politischem Ziehsohn zum neuen Präsidenten?

Ebenfalls auf der Suche nach einer „politischen Heimat“ ist Andrónico Rodríguez. Der 36-jährige Senatspräsident stammt aus Morales’ Kernland im Trópico und wurde von ihm als potenzieller Nachfolger aufgebaut. Lange führte er im Parlament die Fraktion der „evistas“ an, war dabei aber eher moderat und besonnen. Nach langem Zögern ist er nun vielfachen Rufen nach einer politischen Frischzellenkur nachgekommen und hat erklärt, dass er kandidieren wolle. Die „evistas“ sprachen umgehend von Verrat. Er steht für eine Fortführung des proceso de cambio und der bäuerlich-plebejischen Orientierung, kommt mit seiner Dialogbereitschaft aber auch bei den städtischen Intellektuellen an. Nun sucht der erklärte Kandidat nach einer Partei. Noch ist nicht abzusehen, wohin die Reise geht. In Frage kommt das Movimiento Tercer Sistema von Felix Patzi, der einmal Bildungsminister unter Morales war und gefeuert wurde, oder das Movimiento de la Renovación Nacional der Bürgermeisterin Eva Copa, denen er erst Statur geben könnte. Oder ist Andrónico die letzte Chance für die MAS? Die hat nach der Kandidatur von Andrónico Rodríguez einen für vergangenes Wochenende vorgesehenen Parteitag, auf dem Luis Arce zum Präsidentschaftskandidaten gekürt werden sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben. Nach einer letzten Meldung hat Präsident Arce nun erklärt, er würde nicht kandidieren, und Morales aufgefordert, es ihm gleich zu tun:

“Hoy doy a conocer al pueblo boliviano con absoluta firmeza mi decisión de declinar mi candidatura a la selección presidencial en las elecciones de agosto próximo. Lo hago con la más clara convicción de que no seré un factor de división del voto popular y mucho menos facilitaré en la hora presente que se haga realidad un proyecto de derecha fascistoide con el cual se pretende destruir el Estado plurinacional“ (…) “No puede ser nuestro destino el dividirnos, pelearnos y ser derrotados. No puede ser nuestro destino allanar el camino al fascismo, a la derecha y a la estrategia imperialista de dividir el campo popular.“…