Ohne Zauberstab, aber mit Zivilcourage und Kreativität: Wie in Chile Organisationen der Zivilgesellschaft der Gewalt Paroli bieten

Von Jürgen Schübelin (Text und Fotos)


La Victoria, zwei Tage vor Sylvester, kurz nach acht: ein typischer Hochsommerabend in einem chilenischen Armenviertel mit vielen Menschen draußen auf der Straße. Weil er zu einem neuen Song für sein Social Media-Portal einen Videoclip produzieren wollte, kam einem jungen Musiker die Idee, drei Mädchen auf der Straße anzusprechen und sie einzuladen, spontan an Ort und Stelle zu seiner Musik zu tanzen. Viele Passanten blieben stehen und schauten zu. Niemand achtete auf den Pickup, der auf die Gruppe zufuhr. Plötzlich – ohne jegliche Warnung – begannen die Männer aus dem Fahrzeug heraus mit Schnellfeuerwaffen auf zwei kolumbianische Jugendliche zu schießen. Die beiden waren sofort tot. Acht Personen wurden durch die Schüsse verletzt, darunter Mayra Castillo (13), eines der drei tanzenden Mädchen. Alle Versuche, ihr Leben zu retten, blieben vergeblich. Noch in der Nacht erlag sie im benachbarten Hospital Barros Luco ihren Verletzungen.

Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für die Kinder und Jugendlichen aus dem Zentrum „Nuestra Señora de la Victoria“, für das Mitarbeiterinnen-Team und für die gesamte Nachbarschaft war der Tod von Mayra ein Schock, der bis heute nachwirkt. Die sensible, immer vor kreativer Energie sprühende 13jährige verbrachte seit ihren Kindergartenjahren jede freie Minute in dem von der Kindernothilfe Österreich unterstützten Projekt mitten im geschichtsträchtigen Viertel in der Kommune Pedro Aguirre Cerda im Südwesten der Hauptstadt Santiago. Valentina Campos, Direktorin des Kinder- und Jugendzentrums, und ihre Kollegin Rosani Lagos, Verantwortliche für die Stadtteilarbeit des Projektes, wussten sofort, als sie in dieser Nacht des 29. Dezember von dem Blutbad – wenige hundert Meter vom Gemeindezentrum entfernt – erfuhren, was jetzt auf dem Spiel stand. Zunächst begleiteten sie Mayras Familie während der bangen Stunden im Spital, anschließend in die Gerichtsmedizin und dann bei der Beisetzung ihrer Tochter. Hunderte reihten sich in den Trauerzug hinter Mayras Sarg ein und ließen so diese Beerdigung zu einem Aufbäumen und Protest der Menschen aus La Victoria gegen die Gewalt in ihrem Viertel und die immer brutaler ausgetragenen Revierkämpfe rivalisierender Drogengangs werden.

Ein Kind aus La Victoria hat einen Schusswechsel zwischen der Polizei und einem Gang-Mitglied gemalt und sein Bild mit der Forderung „Schluss mit der Gewalt“ überschrieben.

Mayras Eltern hatten inständig darum gebeten, es solle am offenen Grab ihres Kindes trotz der aufgeheizten Stimmung zu keinen Ausschreitungen kommen. Denn bereits unmittelbar nach den tödlichen Schüssen griffen Carabineros, Chiles uniformierte Polizei, mit Tränengas und Wasserwerfern aufgebrachte Nachbarn an, die spontan gegen die fehlende Sicherheit im Viertel protestierten und den Polizisten vorwarfen, vor den schwer bewaffneten Narko-Kriminellen kapituliert zu haben oder sogar gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. Deshalb geriet die Beisetzung der 13jährigen auch zu einem Hochrisikoevent mit der Anwesenheit von Polizei-Spezialeinheiten, was jedoch eine Gruppe junger Männer aus einer der La Victoria-Gangs nicht daran hinderte, mit viel Macho-Gehabe ostentativ Präsenz zu zeigen.

Mit wachsender Beklemmung beobachten Valentina Campos und Rosani Lagos seit langem den schleichenden Transformationsprozess der – seit 1957 und ihrer Gründung nach einer Landbesetzung durch wohnungssuchende Familien – für ihre Selbstorganisation und Nachbarschafts-Solidarität, aber auch ihren mutigen Widerstand gegen das Pinochet-Regime über Chile hinaus bekannten Población La Victoria. In einem Gespräch mit Robert Fenz, dem Vorstandsvorsitzenden der Kindernothilfe Österreich, der La Victoria 2022 besuchte, hatte es Valentina Campos so formuliert: „Es ist, als würden wir ungebremst in einer Achterbahn sitzen, in der die Kurven immer enger und die Abstürze immer steiler werden.“

Dieses Gefühl des Verlusts von Sicherheit und der Ohnmacht angesichts der schleichenden Übernahme der Kontrolle über die vertraute Nachbarschaft durch kriminelle Gangs, die durch den Drogenverkauf und andere schwere Straftaten über sehr viel Geld verfügen, ist auch für viele andere – in chilenischen Armenvierteln engagierte – zivilgesellschaftliche Organisationen und Initiativen zu einer der größten Herausforderungen für ihre Arbeit geworden. Die Ursachen für die massive Zunahme von Gewalt, denen sich Kinder und Jugendliche, ihre Familien, aber auch die Teams in den Projekten ausgesetzt sehen, sind hochkomplex und vielschichtig: „Eine verhängnisvolle Rolle spielte ganz sicher die Corona-Pandemie mit dem monatelangen Eingeschlossen-Sein“, ist José Horacio Wood, Direktor der ökumenischen Stiftung ANIDE, überzeugt: „Kinder und Jugendliche hatten fast zwei Jahre lang keine Möglichkeit, mit Gleichaltrigen außerhalb ihrer Familien zusammen zu sein. Sie erlebten den ständigen, massiven Stress zuhause und in ihrer Nachbarschaft, aber auch den brutalen Kampf um das tägliche Über-die-Runden-Kommen.“ COVID führte dazu, dass Nachbarn öffentliche Räume nicht mehr gemeinsam nutzten. Dafür übernahmen Gangs fast überall in den dichtbesiedelten Armenvierteln der großen Städte die Kontrolle über Straßen und Plätze.

Außerdem stieg während der Pandemie der Konsum von Drogen besorgniserregend an, mit immer dichteren Kuriernetzwerken und ausgefeilteren Techniken der Haus-zu-Haus-Belieferung nach online-Bestellung – im Stil eines Pizza-Service. „Und natürlich wird um diese Märkte und das viele Geld, das hier verdient wird, mit allen Mitteln gekämpft“, so José Horacio Wood: „Dass sich inzwischen in Chile internationale kriminelle Kartelle wie das berüchtigte „Tren de Aragua“-Syndikat aus Venezuela festgesetzt haben und mit lokalen Gangs teils konkurrieren, teils kooperieren, hat eindeutig zu einer Brutalisierung dieser Kämpfe um Territorien, Märkte und Macht beigetragen und zu einer immer massiveren Bewaffnung dieser Banden.“ Die Liquidierung der beiden Jugendlichen aus Kolumbien, die auch Mayra das Leben kostete, war Teil eines solchen Machtkampfes.

Claudia Vera und José Horacio Wood vor der „Animita“, dem Ort, an dem drei Jugendliche aus der población „El Cobre“ im Südosten von Santiago bei einer Auseinandersetzung zwischen Drogengangs erschossen wurden

Claudia Vera, die ANIDE-Programm- und Projektkoordinatorin, schlägt den Bogen zwischen der Normalisierung der Gewalt auf der Straße, dem, was Kinder an Gewalt in den eigenen vier Wänden erleben und den sich häufenden Episoden von Gewalt durch Eltern gegen Mitarbeitende in Krankenhäusern, Gesundheitsposten, Lehrerinnen und Lehrer und auch Erzieherinnen in Projekten: „Kinder werden unmittelbar Zeugen, wie schnell Erwachsene selbst bei kleinsten Problemen die Kontrolle verlieren und Diskussionen in physischen Angriffen enden.“ Deshalb ist es für sie auch nicht überraschend, dass immer mehr Lehrerinnen und Lehrer berichten, von Schülern körperlich angegriffen zu werden.

„Einen Zauberstab, um dieser Gewalt in all ihren unterschiedlichen Facetten zu begegnen“, sagt José Horacio Wood, „gibt es nicht.“ Aber es ist ihm ganz wichtig, das Problem in seiner ganzen Dimension zu sehen: „Wie immer hängt alles mit allem zusammen: Der ‚Erfolg‘ der bewaffneten Gangs in den Vierteln, ihre ‚Attraktivität‘ als Teil einer Macho-Kultur mit der Verheißung von Macht und schnellem Geld, ist auch das Ergebnis eines extreme Ungleichheit vertiefenden Wirtschaftssystems, das jungen Menschen aus Armenvierteln die Chance auf gute Bildung und ein ordentliches Auskommen verweigert.“ Und, fügt er hinzu, eines Staates, dessen politisch Verantwortliche nie verstanden haben, dass sein Schutzversprechen für alle gelten muss, nicht nur für die Reichsten und Privilegiertesten.

Letztlich, so die Analyse von José Horacio Wood und Claudia Vera, ist es das von einer Verfassung voller autoritärer Elemente geschützte hyperkapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das in Chile der Gewalteskalation – etwa durch bis an die Zähne bewaffnete Drogengangs – Vorschub leistet. „Diese Narko-Kultur, die wir in den Armenvierteln der chilenischen Städte beobachten, fügt sich“, so José Horacio Wood, „perfekt in die Verheißungen der Konsumwelt, die uns unablässig propagiert werden, ein.“ Ablesen lasse sich das etwa am Einkaufsverhalten der jungen Gang-Mitglieder: „Zum Shoppen geht es grundsätzlich in die teuersten Malls der Stadt,“ schildert Wood eigene Beobachtungen, „und eingekauft werden dann die hochpreisigsten Marken-Turnschuhe, Uhren und Designer-Klamotten, immer in bar bezahlt – mit großen Scheinen.“

Und noch ein Statussymbol ist zum festen Bestandteil dieser Gang-Kultur geworden: Aufwändige Schönheitsoperationen, Brustvergrößerungen, Lippen-Aufspritzen für die Freundinnen der harten Jungs: „Enchulando a las pololas“ – Freundinnen-Aufhübschen, nennt sich das im Szene-Social Media-Sprech. „Wirklich fatal ist“, fügt Claudia Vera hinzu, „dass es den Narko-Gangs gelingt, sich mit ihrem ganzen sexistischen Macho-Gehabe als coole Rebellen, als Systemsprenger zu gerieren – und damit eine unheimliche Attraktivität auf Jugendliche auszuüben.“ Besonders anfällig, in die Fänge einer der Gangs zu geraten, so beobachtet es das Projektteam des „Nuestra Señora de la Victoria“-Zentrums, sind männliche Jugendliche mit niedrigem Selbstwertgefühl, die für sich weder eine schulische noch eine berufliche Perspektive sehen: „Wenn dann bereits 14jährige am helllichten Tag offen auf der Straße mit ihren Waffen herumfuchteln“, sagt Valentina Campos, „ist das wie ein Adrenalin-Kick, Macht, andere Menschen einzuschüchtern.“ Dazu passt ein makabrer Todeskult: Immer wieder bekommen sie und ihre Kolleginnen von den Jugendlichen zu hören: „Wenn ich erschossen werde, ist es dann eben so, aber vorher will ich noch richtig einen draufmachen und gut leben!“

Wie verwirrend und gebrochen die Trennlinien zwischen den Lagern in der Población La Victoria mittlerweile verlaufen, illustriert eine groteske Episode aus dem vergangenen Jahr, als aufgebrachte Nachbarn den örtlichen Posten der Carabineros stundenlang belagerten, um gegen die Untätigkeit der Polizei gegenüber den Narko-Gangs im Viertel zu protestieren – und es dann ausgerechnet schwerbewaffnete Bandenmitglieder waren, die die Demonstrantinnen und Demonstranten vertrieben, um einen Einsatz von zu Hilfe gerufenen „Fuerzas Especiales“ der uniformierten Polizei zu verhindern.

Vor allem kirchliche und humanistische Nichtregierungs-Organisationen haben in den zurückliegenden Jahren angesichts dieser Entwicklung gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Bündnissen und Initiativen ganz unterschiedliche Ansätze und Strategien entwickelt, um die Kinder und Jugendlichen in den Projekten bestmöglich zu schützen und sie dabei zu fördern, selbst Akteure gegen die Gewalt um sie herum zu sein. In La Victoria standen Valentina Campos, Rosani Lagos und ihr Team jedoch zu allererst vor der extrem schwierigen Aufgabe, mit den Kindern im Projekt den Tod ihrer erschossenen 13jährigen Freundin Mayra zu verarbeiten. Claudia Vera und José Horacio Wood von der Stiftung ANIDE sorgten – mit finanzieller Unterstützung durch Kindernothilfe Österreich – dafür, dabei auch professionellen therapeutischen Beistand zu erhalten: „Conversatorios“ – frei übersetzt: Nachdenk- und Gesprächsrunden – nennt das La Victoria-Team die neu geschaffenen Formate, um altersgerecht mit den Kindern und Jugendlichen über Trauer und Verlust zu sprechen, aber auch die gewaltfreie Lösung von Konflikten einzuüben. Wie lassen sich Beziehungen untereinander verbessern, wie ist es möglich, zu streiten, ohne sich zu verletzen? Wie gehen wir mit Wut, wie mit Angst um? Und ganz wichtig: Wie können wir uns gegenseitig schützen, auf Gefahrensituationen aufmerksam machen?

„Friedensorte schaffen“ nennt das Projektteam des Centro Comunitario „Belén El Cobre“ seine wöchentlichen Aktionen, um sich die Plätze und Straßen des Armenviertels wieder anzueignen.

„Ganz entscheidend“, sagt Claudia Vera, „war in dieser Phase aber auch, mutig und lautstark einzufordern, dass Kinder ein Recht haben, sicher und ohne Bedrohung auf den Straßen und Plätzen in ihrem Viertel spielen zu können, dort Musik zu machen, sich zu treffen, Spaß zu haben.“ Mit einer Gruppe von Müttern organisiert das La Victoria-Zentrum jeden Freitag Spiel-, Sport- und Kulturprogramme für Hunderte Kinder und Jugendliche im André-Jarlan-Park, der – nach dem 1984 von Carabineros erschossenen Pfarrer von La Victoria benannten – einzigen Grünfläche des Armenviertels. Unterstützt werden sie dabei auch vom Radio Comunitario La Victoria, einem der historischen chilenischen Bürgerradios. „Und natürlich geht es mehr denn je darum“, erklärt José Horacio Wood, „alles Menschenmögliche zu unternehmen, um die Kinder und Jugendlichen zu motivieren, täglich zur Schule zu gehen, den Unterrichtsbesuch nicht abzubrechen. Noch nie war eine nachhaltige Bildungsperspektive für diese Kinder so wichtig wie heute!“

Im Projekt „Belén El Cobre“, im Südosten von Santiago, rund zehn Kilometer von La Victoria entfernt, wo vor drei Jahren ebenfalls drei Jugendliche, die in dem gleichnamigen Zentrum groß geworden sind, auf offener Straße bei einem Konflikt mit Drogendealern erschossen wurden, nennt das Team diese Wiederaneignung von öffentlichen Räumen: „Friedensorte schaffen!“ Die gesamte Nachbarschaft wird eingeladen, während die Kinder aus dem Projekt einen Platz mitten im Armenviertel verschönern, Wandbilder malen, Ornamente mit bunten Steinen gestalten, Blumen pflanzen. Was auf den ersten Blick wie eine harmlose, sympathische Initiative wirkt, ist in Wirklichkeit ein kreativer Akt von Zivilcourage, weil er, ist Claudia Vera überzeugt, „zeigt, dass das Projekt-Team, die Jugendlichen und ihre Familien nicht bereit sind, sich den Regeln der Gangs und der Mechanik der von ihnen losgetretenen Gewaltspirale zu unterwerfen!“

Und im Projekt „Niñas y Niños sin Fronteras“ im Norden von Santiago – einer 2002 gegründeten Organisation zur Verteidigung der Rechte von Kindern aus Flüchtlings- und MigrantInnen-Familien – haben sich Mütter zusammengeschlossen, um „Cuidadoras Colectivas“ zu sein – Frauen, die gemeinsam ein Auge auf die Sicherheit ihrer Kinder haben. Sie begleiten Mädchen und Jungen, wenn sie spät noch auf den Straßen des Stadtteils Independencia unterwegs sein müssen, reden mit Kindern und ihren Eltern über mögliche Gefahrensituationen, trainieren untereinander den Umgang mit Risiko-Begegnungen und informieren das Colectivo-Projektteam und sich gegenseitig über die Präsenz und Aktivitäten von Personen und Gruppen, die ihnen verdächtig vorkommen.    

Aber auch das Sich-Erinnern – und angemessene Orte und Formen dafür – sind wichtig: So entschied das Projektteam des „Nuestra Señora de la Victoria“-Zentrums gemeinsam mit den Jugendlichen und den Eltern, in La Victoria ein Zeichen für mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu setzen und ein Matura- und Hochschul-Vorbereitungsprogramm mit und für junge Leute aus dem Viertel aufzubauen. Der Name ist Programm: „Pre-Universitario Mayra Castillo“.