LATEINAMERIKA: Álvaro García Linera: Abschied vom Wolkenkuckucksheim
Robert Lessmann
Der Soziologe und ehemalige Vizepräsident Boliviens sprach in Kolumbien im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Zukunft vom Süden aus denken“ unter dem Eindruck des Wahlsieges von Javier Milei in Argentinien über die Perspektiven der Linken, den Vormarsch der radikalen Rechten in Lateinamerika zu stoppen. Sein Interview für die Zeitschrift „Jacobin“ wurde vom kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro zur Lektüre empfohlen. Robert Lessmann hat es übersetzt und fasst zusammen.
Álvaro García Linera kennt die politische Realität Lateinamerikas aus Theorie und Praxis. Er wurde 1962 in Cochabamba/Bolivien geboren. Soziologie studierte der gelernte Mathematiker als Autodidakt während einer fünfjährigen Untersuchungshaft, die er ab 1992 als Mitglied des Ejército Guerillero Túpac Katari (EGTC) verbüßte. Für sein politisches Denken war neben Karl Marx und Antonio Gramsci auch der Vordenker des bolivianischen „Indianismus“ Fausto Reinaga von großer Bedeutung. Nachdem er ohne Urteilsspruch entlassen wurde, arbeitete er als Hochschullehrer und wurde einer der gefragtesten Talkshowgäste und politischen Analytiker. Zentral für sein politisches Denken blieb stets die Frage der indigenen Emanzipation. Im Jahr 2005 wurde er an der Seite von Evo Morales zum Vizepräsidenten seines Landes gewählt, ein Amt, das er bis zu beider Sturz im November 2019 innehatte. Gemeinsam wurden sie ins Exil gezwungen. Nach der Rückkehr der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS) an die Macht, kehrte auch er nach Bolivien zurück, hält sich aber im Gegensatz zu Evo Morales aus der Tagespolitik heraus.
García Linera sieht Lateinamerika – und die Welt – in einer Übergangsphase. Sie sei von Unklarheit und Instabilität gekennzeichnet, wo eine „monströse Rechte“ die Bühne betrete, was wiederum in gewisser Weise eine Folge der Defizite progressiver Kräfte sei. Er nennt diese Zeit „tiempo liminar“. Andere Autoren sprechen vom Kampf zwischen progresismo und Regression. Die Linke, so García Linera, müsse kühner sein und einerseits mit historischer Verantwortung Antworten auf die profunden Fragen an der Basis des sozialen Zusammenhalts geben und andererseits die Sirenengesänge der neuen Rechten neutralisieren. Sie müsse bei grundlegenden Reformen zu Fragen der Eigentumsverhältnisse weiterkommen, bei Steuern, bei der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands und der Wiedergewinnung der Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Nur so werde man, ausgehend von den grundlegendsten Forderungen der Gesellschaft und realen Fortschritten bei der Demokratisierung, die Ultrarechten in die Schranken weisen.
Politische Schubumkehr
Das Jahrhundert hatte mit einer Dominanz progressiver Regierungen begonnen. Mit dem Wahlsieg von Mauricio Macri in Argentinien habe 2015 gewissermaßen eine Schubumkehr in Lateinamerika eingesetzt. Andere Länder, wie Brasilien und Uruguay, folgten. Teilweise wurden diese Rechtsregierungen inzwischen wieder von progressiven ersetzt. García Linera sieht das als Ausdruck einer Umbruchphase des zeitgenössischen Kapitalismus – Gramsci hatte von „Interregnum“ gesprochen –, wo sich Wellen und Gegenwellen ablösen, ohne dass sich eine Tendenz durchsetzt. Lateinamerika habe damit eine Entwicklung vorweggenommen, die wir heute auf der ganzen Welt beobachten können. Der Halbkontinent erlebte eine intensive progressive Welle, die von einer konservativen Gegenbewegung gefolgt wurde und dann von einer neuerlichen progressiven. Möglicherweise, so García Linera, werden wir sehen, dass sich eine solche Abfolge kurzfristiger Wechsel noch fünf bis zehn Jahre fortsetzt, bis sich ein neues Modell der Akkumulation und Legitimation durchsetzt, das neue Stabilität für Lateinamerika und die Welt bringt. Insoweit das nicht geschieht, werden wir in einem Wirbel der Zeit des Interregnums feststecken. Man erlebe progressive Wellen, ihre Erschöpfung, konservative Gegenreformen, neue progressive Wellen. Und jede dieser Wellen sei verschieden von der anderen. „Milei ist unterschiedlich zu Macri, obwohl er manches von ihm übernimmt. Alberto Fernández, Gustavo Petro und Manuel López Obrador unterscheiden sich auch von ihren Vorgängern, obwohl sie einen Teil von deren Erbe übernahmen“, stellt García Linera fest: „Und so wird es weiter gehen bis sich eines Tages eine neue Weltordnung definiert, denn diese Instabilität und dieses Leid können nicht endlos sein“, meint er. Im Grunde würden wir einen zyklischen Niedergang des Akkumulationsmodells sehen, wie wir das bereits nach der liberalen Phase des Kapitalismus (1870-1920), der staatskapitalistischen (1940-1980) und der neoliberalen (1980-2010) gesehen haben, argumentiert er in Anlehnung an Nicolai Kondratiews Theorie der Wirtschaftszyklen. Das Chaos sei Ausdruck des historischen Niedergangs und des Kampfes um ein neues und dauerhaftes Modell der Akkumulation, das wieder Wachstum und sozialen Zusammenhalt bringt.
Polarisierung
Die Rechte verwende dabei Praktiken, die man glaubte überwunden zu haben, wie Putsche, politische Verfolgung, Mordversuche. Zu dieser Übergangszeit gehöre, dass die politischen Eliten auseinanderdriften. Wenn die Dinge gut liefen, wie etwa bis zur Jahrtausendwende, fänden sie sich um ein Akkumulations- und Legitimationsmodell zusammen. Die Linke mäßigt sich, „neoliberalisiert“ sich, obwohl es immer eine radikale Linke ohne Publikum geben wird. Die Rechten streiten unter sich. Wenn der Niedergang beginnt, tauche die extreme Rechte auf und werde stärker. Die extreme Rechte fresse die moderate Rechte auf, und die radikale Linke trete aus ihrer Marginalität und politischen Bedeutungslosigkeit. Sie gewinne an Resonanz und Publikum. Sie wachse. „Im Interregnum ist das Auseinanderdriften der politischen Projekte die Regel, weil es bei der Suche nach Lösungen für die Krise der alten Ordnung Dissidenten auf beiden Seiten gibt“, konstatiert er. Die rechte Mitte, die den Halbkontinent und die Welt über 30 oder 40 Jahre regiert hat, finde keine Antworten mehr auf die deutlichen Fehler des globalisierten, neoliberalen Kapitalismus und die Zweifel und Ängste der Menschen.
Es tauche eine extreme Rechte auf, die weiter das Kapital verteidigt, die aber glaubt, dass die alten Rezepte nicht mehr genügen und man die Gesetze des Marktes mit Gewalt durchsetzen müsse. Sie will die Menschen domestizieren, wenn nötig mit Gewalt, um zu einem reinen, ursprünglichen freien Markt ohne Zugeständnisse und Doppelbödigkeiten zurückzukehren. Sie konsolidiert sich, indem sie von Autorität, von Schocktherapie des freien Marktes und Reduzierung des Staates spricht. Und wenn es dagegen soziale Widerstände gibt, müsse man dem mit Stärke und Zwang begegnen, und wenn nötig auch mit Staatsstreich und Massakern, um die Widerspenstigen, die sich der Rückkehr zur guten Gewohnheit des freien Unternehmertums und des zivilisierten Lebens widersetzen, zu disziplinieren: mit den Frauen am Herd, den Männern, die befehlen, den Chefs, die entscheiden und den Arbeitern, die schweigend ihre Arbeit tun. Ein weiteres Symptom des liberalen Verfalls tritt zu Tage, wenn sie nicht mehr überzeugen und verführen können, sondern Zwang brauchen, was bedeutet, dass sie bereits dem Untergang geweiht sind. Nichtsdestoweniger bleiben sie gefährlich.
Angesichts dessen könnten die progressiven Kräfte und die Linke nicht nachgiebig sein und versuchen, es allen sozialen Sektoren und Fraktionen recht zu machen. Die Linke tritt in der Übergangszeit aus ihrer Marginalität heraus, indem sie sich als Alternative zum wirtschaftlichen Desaster präsentiert, das vom unternehmerischen Neoliberalismus verursacht wird. Ihre Funktion könne es nicht sein, einen Neoliberalismus „mit menschlichem Antlitz“ einzuführen, einen grünen oder progressiven Neoliberalismus. „Die Menschen gehen nicht auf die Straße oder wählen die Linke, um den Neoliberalismus zu verzieren. Sie mobilisieren sich und wechseln radikal ihre alten politischen Bindungen, weil sie ihn satt haben und ihn loswerden wollen, weil er nur einige wenige Familien und Unternehmen reich gemacht hat. Und wenn die Linke es nicht schafft, sich als Alternative zu präsentieren, ist es unausweichlich, dass die Menschen sich der extremen Rechten mit ihren (illusorischen) Auswegen aus der allgemeinen Misere zuwenden“, fürchtet García Linera.
Dazu müsse die Linke, wenn sie die Rechte aus dem Feld schlagen will, Antworten auf die drängenden Fragen geben. Sie muss die Armut der Gesellschaft bekämpfen, die Ungleichheit, die Unsicherheit der Dienstleistungen, Bildung, Gesundheit, Wohnen. Und um die materiellen Bedingungen dafür zu schaffen, muss sie radikal sein in ihren Reformen zu Fragen des Eigentums, der Steuerpolitik, der sozialen Gerechtigkeit, der Verteilung des Wohlstands, der Wiedergewinnung der gemeinsamen Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft. Zurückhaltung dabei wird die sozialen Krisen vergrößern. Angesichts des Ausmaßes der Krise wird moderates Vorgehen die Extreme stärken. Wenn es die Rechten tun, stärken sie die Linken und umgekehrt. Worum es geht, sind wirtschaftliche und politische Reformen, die zu sichtbaren und dauerhaften materiellen Verbesserungen der Lebensbedingungen für die gesellschaftliche Mehrheit führen, zu einer größeren Demokratisierung der Entscheidungen, einer größeren Demokratisierung des Reichtums und der Eigentumsverhältnisse. Die Eindämmung der extremen Rechten wird nicht einfach ein Diskurs sein, sondern aus einer Reihe von praktischen Maßnahmen zur Verteilung des Reichtums bestehen, die es erlauben, die wichtigsten Ängste und Forderungen der Bevölkerung anzugehen: Armut, Inflation, Unsicherheit, Ungleichheit. Man darf nicht vergessen, dass das Erscheinen der extremen Rechten ja eine pervertierte Antwort auf diese Ängste ist. „Je mehr du den Reichtum verteilst, desto mehr betrifft das die Privilegien der Mächtigen, aber die bleiben bei deren wütender Verteidigung in der Minderheit, während sich die Linke in dem Maße konsolidiert, wie sie sich um die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes kümmert“, sagt der Exvizepräsident.
Analyse statt Etikettierung
Was ist nun neu an der neuen Rechten? Soll man sie faschistisch nennen oder was sonst? Baut sie an einem postdemokratischen Labor, nicht zuletzt in den USA? Ohne Zweifel tendiere die liberale Demokratie – als bloßer Austausch der Eliten durch das Volk – zu autoritären Formen. Wenn sie manchmal Früchte einer sozialen Demokratisierung hervorgebracht habe, so war es durch das Wirken anderer demokratischer Formen von unten, wie Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Organisationen, Stadtteilkomitees, unterstreicht der Soziologe. Wenn man aber die liberale Demokratie sich selbst überlasse, als bloße Auswahl der Regierenden, tendiere sie zur Konzentration von Entscheidungen, zu dem, was der Nationalökonom Josef Schumpeter „Demokratie als bloße Auswahl der Regierenden, die über die Gesellschaft entscheiden“ nannte und was eine autoritäre Form der Konzentration von Entscheidungen ist. Und dieses Monopol autoritärer Entscheidungen, fallweise auch ohne die Auswahl aus den Eliten, ist es, was die extreme Rechte auszeichnet. Daher gibt es keinen Antagonismus zwischen der liberalen Demokratie und der extremen Rechten. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass sie durch Wahlen an die Macht kommt.
„Was die liberale Demokratie am Rande und lustlos erlaubt, die extreme Rechte aber offen ablehnt, sind andere Formen der Demokratisierung von unten, wie Gewerkschaften, Stadtteilversammlungen, ländliche Organisationen, kollektive Aktionen. In diesem Sinne sind die extremen Rechten antidemokratisch“, sagt García Linera. Sie erlauben nur, dass man aus ihren Reihen jemanden wählt, der regiert, lehnen aber andere Formen der Teilhabe und der Demokratisierung des Reichtums ab, die sie als Beleidigung ansehen, als Absurdität, die man mit der Ordnungsmacht und Zwangsdisziplinierung bekämpfen muss. Ist das Faschismus? „Schwer zu sagen,“ meint García Linera. Es gebe dazu eine akademische Debatte, aber die politischen Auswirkungen sind eher klein. Die Generation über 60 in Lateinamerika erinnere sich vielleicht noch an die faschistischen Militärdiktaturen, aber der jüngeren Generation sage es nicht viel, vom Faschismus zu reden. Er ist nicht gegen diese Debatte, sieht sie aber nicht als sehr nützlich an. Der soziale Erfolg oder die Ablehnung von Forderungen der extremen Rechten hänge schließlich nicht von alten Symbolen ab, sondern von der Antwort auf die sozialen Ängste. Problematisch sei es indessen, sie als faschistisch zu bezeichnen ohne zu bedenken, auf welche kollektiven Forderungen sie antworten oder vor dem Hintergrund welchen Scheiterns sie auftauchen. Bevor man ihnen Etikette umhängt, sei es besser über die sozialen Bedingungen für ihr Auftauchen nachzudenken. Persönlich spricht er lieber von der extremen oder der autoritären Rechten.
Ob man Milei einen Faschisten nennen soll? Zuerst solle man sich fragen, warum er gewonnen hat, wer ihn gewählt hat, als Reaktion auf welche Sorgen. Ihm ein Etikett umzuhängen, erlaubt moralische Ablehnung, aber es hilft nicht, die Realität zu verstehen oder zu verändern. Wenn die Antwort ist, dass Milei sich auf die Ängste einer verarmten Gesellschaft beruft, dann ist klar, dass Armut das Thema ist. Darauf müssen der progresismo und die Linke eine Antwort geben und die extreme Rechte oder (wenn man so will) den Faschismus stoppen. Man muss die Probleme erkennen, mit denen die extreme Rechte in der Gesellschaft Anklang findet, denn ihr Anwachsen ist auch ein Symptom für das Scheitern der Linken und der Progressiven. Sie tauchen nicht aus dem Nichts auf, nachdem die Progressiven nicht sahen, nicht bereit waren, konnten oder wollten, die Frage der Klasse, der prekären Jugend, die Bedeutung der Armut, der Wirtschaft zu verstehen und über jene des Rechts auf Identität zu stellen. Man müsse verstehen, dass das Grundproblem die Wirtschaft ist, die Inflation, „das Geld, das dir in der Tasche schmilzt“. Man dürfe nicht vergessen, dass auch die Identität eine Dimension der wirtschaftlichen und politischen Macht hat, die sie an Unterordnung bindet. In Bolivien eroberte beispielsweise die indigene Identität Anerkennung zunächst durch die Übernahme der politischen Macht und dann schrittweise wirtschaftlicher Macht innerhalb der Gesellschaft.
Schlüsselfrage Informalität
Das grundlegende soziale Verhältnis der modernen Welt ist Geld, entfremdet, aber immer noch fundamental, das, wenn es dir wegschmilzt, auch deinen Glauben und deine Treue auflöst. Das ist das Problem, das die Linke zuerst lösen muss. Dann komme der Rest, befindet García Linera. Wir befinden uns in einer historischen Zeit, wo der progresismo und die extreme Rechte auftauchen. Die klassische, neoliberale, universalistische Rechte verfällt, und zwar wegen der Wirtschaft. Aber die Gesellschaft, deren wirtschaftliche Probleme die alte Linke der 50er und 60er Jahre und der progresismo der ersten Welle (im neuen Jahrtausend) angingen, hat sich verändert. Die Linke hat sich immer um die formale, entlohnte, arbeitende Klasse gekümmert. Heute ist die informelle arbeitende Klasse für den progresismo eine große Unbekannte. Die Welt der Informalität, die man auch unter dem Begriff „la economía popular“ versteht, ist für die Linke ein schwarzes Loch. Dafür hat sie keine produktiven Vorschläge. In Lateinamerika umfasst dieser Sektor aber bis zu 60 Prozent der Bevölkerung. Und es handelt sich nicht um eine vorübergehende Erscheinung, die bald in der formellen Wirtschaft aufgehen würde. Nein, die gesellschaftliche Zukunft wird eine mit Informalität sein, mit diesen kleinen Arbeitern, kleinen Bauern, kleinen Unternehmern, verbunden durch familiäre Bindungen und kuriose lokale und regionale Wurzeln, wo die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit nicht so klar sind wie im formellen Unternehmen. Diese Welt wird noch in den nächsten 50 Jahren existieren und sie schließt in Lateinamerika die Mehrheit der Bevölkerung ein. „Was sagst Du diesen Menschen? In welcher Weise kümmerst du dich um ihr Leben, ihr Einkommen, ihre Lebensbedingungen, ihren Konsum?
Das sind die Schlüsselthemen für die Progressiven und die zeitgenössische Linke in Lateinamerika. Was bedeutet das? Mit welchen Werkzeugen macht man das?“, fragt der Politiker und Soziologe. Natürlich mit Enteignungen, Nationalisierungen, mit Umverteilung des Reichtums, Erweiterung der Rechte. Das sind die Werkzeuge, aber das Ziel muss die Verbesserung der Lebensbedingungen dieser 80 Prozent der Bevölkerung sein, gewerkschaftlich organisiert oder nicht, formell oder informell, die „lo popular“ in Lateinamerika darstellen, meint García Linera. Und das außerdem mit einer größeren Beteiligung an den Entscheidungen. Die Leute wollen gehört werden, wollen teilnehmen. Das vierte Thema ist die Umwelt, Umweltgerechtigkeit mit sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, nie getrennt und nie vorweg.
Kolumbien als Vorreiter
Zur Frage nach dem Kontext und der Rolle des Gastlandes Kolumbien sagt García Linera: „Wenn man sich die Vorgeschichte Kolumbiens ansieht, wo wenigstens zwei Generationen von Aktivisten und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit von Ermordung bedroht waren und ins Exil gehen mussten, wo Formen legaler kollektiver Aktionen vom Paramilitarismus in die Enge getrieben wurden und wo die USA versuchten, nicht nur aus dem Staat eine Militärbasis zu machen, sondern das Land auch kulturell zu vereinnahmen, ist es nur heroisch zu nennen, dass ein Kandidat der Linken hier an die Regierung gewählt worden ist. Und klar, wenn man das machtvolle Sediment des ‚tiefen Kolumbien‘ (Colombia profunda) erfühlt, das in den Gemeinschaften und den Stadtteilen keimt, versteht man die soziale Explosion von 2021 und das „Warum“ dieses Wahlsiegs.“ Dass ihm kollektive soziale Mobilisierungen vorausgingen, habe einen gesellschaftlichen Raum für Reformen geschaffen. Daher sei die Regierung von Präsident Gustavo Petro heute die radikalste dieser zweiten progressistischen Welle auf dem Halbkontinent.
Zwei Aktionen machen die Regierung von Gustavo Petro zur Vorhut: Eine Steuerreform mit progressivem Charakter, womit jene, die mehr haben, auch höhere Steuern bezahlen. In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten ist die wichtigste Steuer die Mehrwertsteuer, die eine höhere Last für jene darstellt, die am wenigsten haben. An zweiter Stelle steht die Energiewende. Kein Land auf der Welt, schon gar nicht die, die sie am meisten kontaminieren (die USA, Europa, China), hat über Nacht die fossilen Brennstoffe aufgegeben. Man hat sich vielmehr Jahrzehnte zum Übergang vorgenommen und will immer noch einige Jahre lang mit einer Rekordproduktion dieser Brennstoffe leben. Kolumbien gehört zusammen mit Dänemark, Spanien und Irland zu den einzigen Ländern auf der Welt, die neue Exploration von Erdöl verbieten. Im Fall Kolumbiens ist es besonders relevant, weil Erdölexporte mehr als die Hälfte des Exportvolumens ausmachen, was diese Entscheidung zu einer sehr kühnen und weltweit sehr fortschrittlichen macht. „Es handelt sich um Reformen, die dem Leben verpflichtet sind und die den Weg ausleuchten, den andere Progressive über kurz oder lang auch gehen müssen.“ Man dürfe jedoch die kontinuierliche Verbesserung der Einkommen der kolumbianischen Unterschichten nicht aus dem Blick verlieren, weil jede Klimagerechtigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nichts als liberale Umwelttümelei sei. Das verlange eine millimetergenaue Abstimmung zwischen dem, was die Regierung in den nächsten Jahren an Einkommen verlieren wird, und der Erschließung neuer Einkommen, sei es durch andere Exporte oder höhere Steuern für die Reichen, und spürbare Verbesserungen der Lebensbedingungen für die Mehrheit des Volkes.
Was die Rolle Lateinamerikas und der Karibik in der Welt betrifft, meint García Linera: Am Beginn des 21. Jahrhunderts habe Lateinamerika den ersten Gongschlag für die Erschöpfung des neoliberalen Zyklus gegeben. Hier lag der Beginn der Suche nach einer hybriden Mischung aus Protektionismus und Freihandel. „Heute ist die Welt im Wandel hin zu einem Regime der Akkumulation und der Legitimation, das den neoliberalen Globalismus ablöst – trotz der melancholischen Rückfälle in einen Paleo-Neoliberalismus wie in Brasilien unter Bolsonaro und in Argentinien unter Milei.“ Trotzdem sei der Halbkontinent heute etwas zu erschöpft. Es scheint, als müsse der postneoliberale Übergang erst im globalen Maßstab voranschreiten, damit Lateinamerika seine Kräfte erneuert, um den ursprünglichen Antrieb wieder aufzunehmen. Die Möglichkeit postneoliberaler Strukturreformen der zweiten Generation – oder noch radikalerer – die die transformatorische Kraft auf dem Kontinent wiedererlangen, wird auf größeren Wandel in der Welt warten müssen, und natürlich auf eine Welle kollektiver Aktionen von unten, die das Feld der denkbaren und der möglichen Transformationen verändern. So lange dies nicht geschieht, werde Lateinamerika ein Szenario von Pendelschlägen zwischen kurzfristigen Siegen des Volkes und kurzfristigen Siegen der Konservativen, zwischen kurzfristigen Niederlagen des Volkes und solcher der Oligarchien sein.
Das ursprüngliche Interview führte die kolumbianische Politologin, Feministin und Aktivistin Tamara Ospina Posse. Übersetzung und Zusammenfassung: Robert Lessmann
Zahlreiche Beiträge zur politischen Situation in Bolivien, dem Heimatland von García Linera, finden sich unter: robert-lessmann.com > Blog