Ralf Leonhard, ein Nachruf

Von Hermann Klosius

© Sophie Kirchner

Die zunächst kaum fassbare Nachricht von Ralfs Tod erreichte mich am Nachmittag des 21. Mai, seinem Todestag. Mir war sofort klar, dass mit diesem Verlust einschneidende Veränderungen für mich selbst und die IGLA verbunden sein würden. Ihre Tragweite habe ich und haben wir auch heute noch nicht ganz erfasst.

Vor jetzt 43 Jahren ist Ralf Leonhard zur IGLA gestoßen. Wenige Monate vorher hatte er eine erste Reise nach Lateinamerika unternommen und dabei zwei Monate lang Zentralamerika besucht, vor allem das seit 1979 sandinistisch regierte Nicaragua, aber u.a. auch Guatemala. Seither trug er das unheilbare Virus der Liebe zu diesem Kontinent und der Solidarität mit seinen Menschen in sich.

Gerade am Beispiel Guatemalas hat mich schon damals Ralfs profundes Wissen über das Land und seine Geschichte beeindruckt. Er war also nicht zufällig dabei (wenn ich mich richtig erinnere), als wir 1981 zu einer Gesprächsrunde mit Rigoberta Menchú ins Andino einluden (dabei aber mangels professioneller Erfahrung im Organisieren von Pressekonferenzen unter uns geblieben sind). Ralf war auch dabei, als die IGLA im September 1981 den Impuls zur Gründung des Solidaritätskomitees für Guatemala gab. (Dass sich seine Expertise in den folgenden Jahren auf ganz Zentralamerika ausgeweitet hat, davon zeugt eindrucksvoll sein im Jahr 2016 veröffentlichtes Buch „Zentralamerika. Porträt einer Region“.)

Im Jahr 1982 nahm Ralf schließlich Leo Gabriels Angebot an, mit ihm in Nicaragua die alternative Nachrichtenagentur apia aufzubauen. Während der nächsten 15 Jahre bestand unser Kontakt – abgesehen von meinem Besuch in Managua im Jahr 1985, als ich Ralfs Gastfreundschaft genießen durfte – vor allem in der Lektüre seiner Beiträge im apia-Nachrichtendienst (die wir zum Teil in Lateinamerika Anders übernahmen) sowie in der spanischsprachigen Zeitschrift Tierra Nuestra, an deren Gestaltung Ralf maßgeblich mitwirkte.

1996 kehrten Leo und Ralf nach Österreich zurück. Zentralamerika war nach der Niederlage der Sandinisten bei den Wahlen 1990 und den Friedensprozessen in El Salvador und Guatemala aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit geraten. Die personelle Verstärkung war der IGLA sehr willkommen, Ralfs journalistische Ambitionen reichten aber schon damals weit darüber hinaus, sei es als Korrespondent der taz für Nicaragua und nunmehr auch Österreich oder als regelmäßiger Autor für Südwind-Magazin, Furche, Wiener Zeitung, ORF und andere.

Ralf war journalistisch äußerst produktiv und auch flexibel: Neben der regionalen Spezialisierung auf Nicaragua und Kolumbien, die er regelmäßig besuchte (und er hatte sich sehr auf den für den 22. Mai geplanten Abflug nach Kolumbien und Peru gefreut) griff Ralf auch überregionale Themen auf, wie etwa in seinem letzten Journal Panorama für den ORF über 200 Jahre Monroe-Doktrin. Nicht einmal vor österreichischen innenpolitischen Entwicklungen schreckte er zurück.

Dabei arbeitete er rasch und professionell: Immer wieder ist es vorgekommen, dass er auf die Zusendung von Material über ein für mich neues wichtiges Geschehen etwa in Nicaragua oder Kolumbien reagierte, indem er mir seinen gerade in der taz zu diesem Thema publizierten Text zurückmailte. Wann immer sich eine Gelegenheit zum Interview mit einer spannenden Persönlichkeit aus Lateinamerika ergab, nahm er sie als Erster von uns wahr oder nahm von sich aus Kontakt auf, um notfalls auch ein Telefoninterview zu führen (wie zuletzt mit Dora Maria Téllez nach ihrer Verbannung aus Nicaragua).

Gerade in der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua stieß Ralfs Berichterstattung vielfach auf Kritik, wenn er etwa autoritäre Entwicklungen schon früh aufzeigte und auf den Widerspruch zwischen fortschrittlichem Anspruch und diktatorischen Tendenzen hinwies. Auch wenn er damit zunächst oft eine Minderheitenposition vertrat und mit Anfeindungen von dogmatisch-solidarischer Seite konfrontiert war, blieb er unbeirrbar  und sein kritischer Blick unbestechlich, stets aber verknüpft mit einer solidarischen Haltung gegenüber emanzipatorischen Bestrebungen.  Wie recht Ralf mit seiner Einschätzung der nicaraguanischen Regierung (von Daniel Ortega und Rosario Murillo) hatte, hat inzwischen der Großteil der lateinamerikanischen Linken erkannt und sich der Kritik an der Diktatur angeschlossen.

Niemand von uns konnte Ralf journalistisch das Wasser reichen – außer vielleicht Werner Hörtner, der uns auch viel zu früh verlassen hat. Ralf hätte das Wasser vermutlich auch nicht angenommen, hat er doch den Weißwein in der Regel pur genossen. Bei passender Gelegenheit gern zugesprochen hat er – wohl ein Vermächtnis seiner Jahre in Nicaragua – auch dem als „Flor de Caña“ bekannten „Feuerwasser“ (von dem wir ihm zu seinem 60er eine Flasche reichen durften).

Gegenüber der mit dem Jahreswechsel erfolgten Umstellung von Lateinamerika Anders auf digitales Erscheinen war Ralf anfangs zwar skeptisch eingestellt, hat sich damit aber relativ rasch vertraut gemacht. Wir werden ihn auch in dieser Hinsicht schmerzlich vermissen, aber auch seinen trockenen britischen Humor und seine manchmal aufblitzende feine Ironie.

Noch immer ist uns das ganze Ausmaß des Verlusts nicht bewusst und sind die Folgen nur zum Teil absehbar. Und schmerzlich sickert erst nach und nach ins Bewusstsein, dass wir auch sein „caballeros“, mit dem er sich von unseren Treffen zu fortgeschrittener Stunde zu verabschieden pflegte, nie wieder hören werden.

Hasta siempre, compañero Ralf!