Leonardo Padura: Literarischer Chronist Kubas mit geringer Sichtbarkeit
Von Robert Lessmann
Mit den Kriminalgeschichten um seine Detektivfigur Mario Conde hat Leonardo Padura ein Weltpublikum erobert. Gleichzeitig gelten seine Romane unter Kennern als die besten Studien über das gesellschaftliche Leben auf Kuba.
Mit ihm sprach Robert Lessmann.
Willkommen in Wien, Herr Padura. Sie werden hier zum Thema „Der Charme der Bücher“ sprechen. Worin besteht der?
Lesen erschließt die Möglichkeit zur Veränderung. Bücher haben nicht nur Personen verändert, sondern die Welt. Literatur kann Wissen und Erfahrung vermitteln, Formen, die Realität zu verstehen. Eine Form von Literatur ist der Roman. Und der Roman erlaubt außerdem, nicht nur die Realität zu verstehen, sondern versucht zu erklären, wie die Menschen sind, wie sie denken, was sie fühlen. Ich glaube, das ist der große Charme, den die Bücher haben können. Milan Kundera hat einmal gesagt, der Daseinszweck der Bücher sei die Erforschung des menschlichen Wesens. Und ich stimme dem voll und ganz zu.
Ihre Bücher handeln hauptsächlich von Kuba. Ist das die wichtigste Perspektive?
Meine Arbeit, meine Form, das Leben zu verstehen, mich mit den Menschen zu verbinden, ist von einer Kultur geprägt und das ist die kubanische Kultur, der ich angehöre. Vor 13 Jahren gab mir Spanien die Staatsbürgerschaft. Ich habe auch einen spanischen Pass, und einige Journalisten fragten mich: „Nun, wo Sie doppelte Nationalität haben…“ Und ich sagte: „Nein, ich habe doppelte Staatsbürgerschaft“. Staatsbürgerschaft ist eine juristische Kategorie. Die Nationalität ist eine Zugehörigkeit. Und ich gehöre zu einer Kultur, der kubanischen.
In meiner Literatur gibt es Episoden, die an anderen Schauplätzen stattfinden. „Der Mann, der Hunde liebte“ spielt in Russland, der Türkei, Frankreich, Norwegen, Mexiko und Kuba, aber alles fängt mit Kuba an und hört mit Kuba auf. Die Vision, die Perspektive dieses Romans ist von Kuba aus. Es gibt eine Person, die die Geschichte empfängt und aus einer kubanischen Perspektive weitererzählt.
Sie sind im Oktober 1955 geboren und haben das ganze Leben mit der kubanischen Revolution (1.1.1959) gelebt, einem Prozess mit verschiedenen Phasen, das halbe Leben in der Krise, der sogenannten „Spezialperiode“. Wie nehmen Sie diese Prozesse wahr?
Die ganze Zeit seit 1959 ist von einem revolutionären Prozess gekennzeichnet, der sehr tiefgreifend war, weil er die wirtschaftlichen und politischen Strukturen grundlegend veränderte. Das Land ist nach 1959 ein anderes geworden und das hat auch die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert. Wir sind durch verschiedene Etappen gegangen. In den 1960er Jahren gab es große Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen, eine neue Institutionalisierung des Landes, sehr nach sowjetischem Vorbild, Veränderungen einschließlich der Beziehungen zwischen den Personen. Und das rief verschiedene Reaktionen hervor. Zum Beispiel in der Kultur gab es in den 1970er Jahren eine große Repression, von der ich in meinem neuen Roman „Personas Decentes“ erzähle, der im kommenden Jahr auch auf Deutsch erscheinen wird. (Der Titel auf Deutsch steht noch nicht fest.)
In den 1980er Jahren erlebte das Land die besten Momente. Die Leute bekamen für ihren Lohn etwas zu kaufen. Aber am Ende des Jahrzehnts fiel die Berliner Mauer und die Sowjetunion bracht zusammen. Für uns begann damit eine kritische Zeit, die euphemistisch „Spezialperiode“ genannt wurde, die aber eine Krise aller Bereiche war. Für meine Generation zerschlugen sich viele Möglichkeiten und Hoffnungen.
Darauf folgte eine seltsame Epoche, wo die Wirtschaft sich nicht erholte und die Gesellschaft zunehmend gespalten wurde. Heutzutage leben die Menschen in Kuba je nach ihrem Zugang zu Geld, was nicht heißt, dass sie mit ihrer Arbeit zu Geld kämen. Manche ja, andere spekulieren – und wieder andere bekommen von ihrem Bruder aus den Vereinigten Staaten 500 Dollar und leben damit besser, weil ein durchchnittlicher Monatslohn bei umgerechnet 20 Dollar liegt. Wenn dir jemand 100 Dollar schenkt, sind das fünf Monatslöhne. Wir erleben einen Moment großer Hoffnungslosigkeit im Hinblick auf die Zukunft.
Davon handelt der neue Roman?
Es geht um zwei historische Momente. Um 1909/1910 herum, kurz nach der kubanischen Unabhängigkeit, passieren viele Dinge in der Gesellschaft. Es ist eine Zeit der Modernisierung, des wirtschaftlichen Aufschwungs, weil die Präsenz der USA sehr stark ist. Kuba geht aus dem Unabhängigkeitskrieg hervor und keine zehn Jahre später gibt es auf den Straßen von Havanna mehr Automobile als in Madrid und Barcelona zusammen. Havanna wächst, und im Zentrum dieser Geschichte steht eine berühmte Person auf die alle schauen, ein Zuhälter, eine reale Person: Alberto Yarini, der italienische Wurzeln hat, aber 100 Prozent Kubaner ist. Um diese Figur herum entwickelt sich die Geschichte, die von einem jungen Polizisten erzählt wird, der im damaligen Rotlichtviertel von Havanna ermittelt. Und es gibt eine zweite Ebene: Im Jahr 2016 ermittelt Mario Conde andere Fälle. Warum 2016? Weil das auch so ein Hoffnungsmoment war. Im Jahr 2016 wurden die Beziehungen zu den USA wieder angeknüpft. Obama besuchte Havanna, die Stones und Chanel kamen nach Kuba. Die Hauptfigur ist im Grunde Havanna und was in diesen Momenten dort passierte. Die Geschichte dreht sich um die Hoffnungen der Menschen, die sich später auflösen.
Die Figur Mario Conde wird von Kollegen als Romantiker beschrieben, mit Widersprüchen, mit enttäuschten Hoffnungen, nostalgisch. Trägt er autobiographische Züge?
Mario Conde ist eine fiktive Figur. Ursprünglich Polizist in den ersten vier Romanen. Dann hört er auf, handelt mit Büchern aus zweiter Hand und betätigt sich als Detektiv. Er ist ein Mann meiner Generation mit den Erfahrungen des Lebens meiner Generation in Kuba und einer Reihe von Zügen, die seine sind, die aber meinen nahe kommen: Sein Gefallen an der Literatur, an Büchern, sein Verhältnis zu Freunden – sehr kubanisch, aber mit charakteristischen Eigenheiten. Zu romantisch für seine Arbeit. Er hat einen pessimistischen Charakter in Bezug auf die Wirklichkeit und eine Art, sich durch Ironie gegen die Aggressionen der Welt zu verteidigen, die ihn umgibt. Vor allem teilt er mit mir die Sicht auf die kubanische Realität aus der Perspektive eines einfachen Mannes. Mario Conde ist kein Intellektueller, hat keine herausgehobene politische oder wirtschaftliche Stellung. Er ist ein normaler, einfacher Mann und aus dieser Perspektive schaut er auf die Realität.
Viele „Kubanologen“ sehen in Ihren Romanen die besten soziologischen Studien über die zeitgenössische kubanische Gesellschaft, denn solche Studien im eigentlichen Sinne gibt es ja nicht. „Die Durchlässigkeit der Zeit“ führt die Leserinnen und Leser in eine Halbwelt der Homosexuellen, der „Palestinos“ („Palästinenser“ – halblegale Zuwanderer aus dem Osten der Insel) und der illegalen Geschäfte mit Kunstwerken. Haben Sie Probleme mit den Behörden bekommen, wenn Sie solche Themen aufgreifen?
In gewisser Weise versuche ich, eine literarische Chronik des zeitgenössischen Lebens in Kuba zu schreiben – ich betone: von der Literatur aus. Es gibt viele Perspektiven, über die Wirklichkeit zu schreiben: Historisch, soziologisch, journalistisch. In meinem Fall ist es romanhaft. Ich versuche also, diese fiktive Chronik des zeitgenössischen Lebens in Kuba zu schreiben. Im Fall der Romane mit Mario Conde zum Beispiel bin ich mit ihm durch die Jahre 1989 bis 2016 gegangen, zuerst als Polizist und dann als Verkäufer von Büchern aus zweiter Hand. „Der Mann, der Hunde liebte“ handelt von der Wahrnehmung der egalitären Utopie des 20. Jahrhunderts und vom Stalinismus. Mein Diskurs ist dabei nicht derselbe wie der offizielle kubanische. Das hat dazu geführt, dass ich als Schriftsteller in Kuba eine sehr geringe Sichtbarkeit habe. Ich stehe nicht in der Zeitung, bin nicht im Fernsehen oder im Radio präsent. Meine Bücher werden in Kuba wenig und schlecht publiziert. Aber ich habe alle möglichen Preise bekommen, einschließlich des kubanischen Literaturpreises. Das kubanische System ist weniger kompakt als das der Sowjetunion. Aber ich lebe in Kuba, schreibe über Kuba – doch wo ich die geringste mediale Präsenz habe, das ist in Kuba.
Aber in kulturellen und intellektuellen Kreisen liest man Sie?
Ja, durchaus. Viele Leute lesen meine Bücher. Aber sie lesen sie über die elektronischen Medien. Mein jüngstes Buch, „Personas Decentes“, kam in Spanien am 28. August letzten Jahres heraus und am 1. September gab es schon eine Raubkopie in Kuba im Netz.
Ich möchte auf das Thema der großen Einkommensunterschiede zurückkommen. In „Die Durchlässigkeit der Zeit“ wird Mario Conde in ein Restaurant im Stadtteil „El Vedado“ von Havanna eingeladen, über das er dann sagt, seine Freunde und Kollegen hätten keine Vorstellung, dass es so etwas überhaupt gibt. Ich habe persönlich auch den Eindruck, dass hier eine Neobourgeoisie entsteht.
Ja, ja.
Und die wächst. Das stellt doch eine Herausforderung für das System dar. Wohin führt diese Entwicklung?
Wie sich das in Zukunft entwickeln wird, weiß ich nicht. Es ist sehr schwierig, die Zukunft vorherzusagen. Überall auf der Welt. In Kuba ist es nahezu unmöglich, weil uns Information fehlt. Die kubanische Gesellschaft ist ja sehr wenig transparent. Das System generell und besonders das Finanzsystem ist derart deformiert, dass man nicht weiß, was etwas kostet. Man kann einen Artikel finden um 40 kubanische Pesos und am anderen Tag zahlt man 40 Dollar dafür. Und auch das Verhältnis des Peso zum Dollar schwankt stark. Mal entspricht der Peso dem Dollar, dann liegt der Dollar bei 24 Pesos und am Schwarzmarkt bei 200. Im Augenblick gibt es Leute, die wegen ihrer Beziehungen oder wegen ihrer Fähigkeiten private Unternehmen besitzen, und einige davon machen viel Geld. Das Problem ist die Ineffizienz der kubanischen Regierung. Es passieren viele undurchsichtige Dinge, aber was ich spüre ist: Da bewegt sich eine Menge Geld von der wir nicht wissen wo es herkommt und wo es hingeht.
Ihr letzter Roman, „Wie Staub im Wind“, handelt von einer Gruppe von Freunden aus einer desillusionierten Generation, die sich auseinanderlebt. Fast alle möchten Kuba verlassen. Doch die Geschichte handelt auch von der Liebe als Verbindendem, der untereinander und der Liebe zu Kuba. Haben die Kubaner ein besonderes Verhältnis zu ihrer Insel?
Ja. Ich glaube wir Kubaner haben ein besonders inniges Verhältnis zu dem Land, zu dem wir gehören. Wie überall, denke ich. Das Problem ist, wenn man beschließt, irgendwo anders zu leben, sagen wir in Südafrika oder Europa, dass dies mit Schwierigkeiten verbunden ist. Mal durfte man überhaupt nicht raus, mal nicht wieder zurück. Eine Schlüsselfigur in meinem Roman sagt an einer Stelle: „Die Gründe zu gehen, sind triftig. Die Gründe zu bleiben, sind es auch.“ Darum geht es. Beides sollte man respektieren.