Interview: Jürgen Schübelin
Vielleicht hilft ja Galgenhumor. „15 Monate lang, seit dem 4. September 2022, dachten wir, dass die Mehrheit der Chileninnen und Chilenen in ganz Lateinamerika die mit den wenigsten Tassen im Schrank wären“, sagt Claudia Vera: „Jetzt müssen wir anerkennen, dass uns die Wahlberechtigten in Argentinien in dieser Disziplin klar überholt haben!“ Für diesen Sonntag, 17. Dezember, hofft die Programm- und Projektkoordinatorin der Kindernothilfe-Partnerorganisation in Chile, Fundación ANIDE, dass der imaginäre Nicht-alle-Tassen-im-Schrank-Pokal nicht wieder zurück auf die westliche Seite der Andenkordillere nach Chile wandert. 15 Millionen Stimmberechtigte sind am dritten Adventsonntag zum zweiten Mal in eineinviertel Jahren aufgerufen, über einen Entwurf für eine neue chilenische Verfassung zu entscheiden, nachdem der erste Vorschlag 2022 mit lediglich 32,13 Prozent Zustimmung und 61,87 Prozent Ablehnung dramatisch gescheitert war. Vor wenigen Tagen konnten wir mit Claudia Vera, einer für lateinamerika anders seit vier Jahren wichtigen Gesprächspartnerin und engagierten Beobachterin der Entwicklungen in Chile, während ihres kurzen Aufenthalts in Berlin über die Gefühlslage vor diesem Volksentscheid in Chiles Bevölkerung und den Organisationen der Zivilgesellschaft, die zum Thema Kinderrechte arbeiten, sprechen.
Die zurückliegenden vier Jahre seit dem Estallido Social, der Rebellion von Millionen Chileninnen und Chilenen gegen das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und gegen die politischen und institutionellen Hinterlassenschaften der autoritären Pinochet-Verfassung von 1980, bescherten Verteidiger:innen der Menschen- und Kinderrechte und demokratisch Engagierten aus der Zivilgesellschaft ein extremes Wechselbad der Gefühle. In den Tagen vor dem Verfassungsentscheid am 17. Dezember irritiert beim Blick nach Chile die Stille und das merkwürdige Desinteresse an dem, was da entschieden wird. Wie lässt sich das erklären?

Claudia Vera: Diese Achterbahnfahrt, die wir hinter uns haben, erst mit den brutalen Auseinandersetzungen während der Massenproteste 2019/2020 und der Polizeirepression, die 34 Menschen das Leben kostete und bei der es über 11.000 Verletzte gab, dann mit dem auf der Straße erkämpften Volksentscheid vom 25. Oktober 2020 und dem euphorisierenden Ergebnis einer Zustimmung von fast 80 Prozent für den Vorschlag, durch einen aus der Zivilgesellschaft gewählten Verfassungskonvent den Entwurf für ein neues Grundgesetz zu erarbeiten, Monate des intensiven Engagement an der Basis, in den Stadtteilen und Organisationen, diesen Verfassungsprozess zu begleiten und mitzugestalten: Da gab es ganz viel Hoffnung auf einen Neuanfang für unser Land! Dann der brutale Absturz am 4. September 2022 und die Ablehnung der demokratischsten, sozialsten, inklusivsten und ökologischsten Verfassung, die es je in Lateinamerika gegeben hätte, durch eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden: All das hat unglaublich viel Kraft gekostet! Als danach ein komplett von den rechten Parteien dominierter Verfassungsrat ab Mai 2023 den jetzt zur Abstimmung stehenden Text ausarbeitete, verfolgten das höchstens noch ein paar Spezialistinnen und Spezialisten mit. Die breite Öffentlichkeit hatte sich weitestgehend aus diesem Prozess ausgeklinkt.
Kann es sein, dass genau das das Ziel derjenigen war, die 2022 mit allen Mitteln das Projekt einer demokratischen Verfassung für Chile zu Fall bringen wollten? Und was ist der Kern des Entwurfs, über den jetzt abstimmt wird?
Claudia Vera: Die Entmutigung und Diffamierung sozialer Bewegungen und das Kaltstellen einer engagierten, kritischen Zivilgesellschaft sind sicherlich Schlüsselstrategien derjenigen, die verhindern wollen, dass sich in Chile irgendetwas an den ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen verändert. Der Entwurf, der jetzt zur Abstimmung steht, ist in weiten Teilen extremer als die vom Pinochet-Regime oktroyierte Verfassung von 1980. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Sachen Geschlechter-Gerechtigkeit würden wir, sollte dieser Text Verfassungswirklichkeit werden, um ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen. Es geht hier um ein nationalistisch-konservatives Gesellschaftsbild – eingebettet in eine marktradikale Wirtschaftsordnung, die keinerlei Einschränkungen, etwa beim Schutz von Ressourcen, Natur und Umwelt kennt.
Und trotzdem haben sich die rechten Parteien Chiles offenbar total zerstritten, was die Zustimmung oder Ablehnung des Verfassungsentwurfs betrifft. Worum geht es bei diesem Konflikt?
Claudia Vera: Die extreme Rechte hat Probleme damit, dass der ultranationalistische und populistische Ex-Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast von der Partei der Republicanos, der im Dezember 2021 die Stichwahlen gegen den jetzigen chilenischen Präsidenten Gabriel Boric verloren hat, bei den Beratungen über den Verfassungsentwurf an einer Stelle die Formulierung „sozialer Rechtsstaat“ durchgehen ließ. Deswegen ruft ein Teil dieses Sektors jetzt zur Ablehnung des Textes auf.
Beim ersten Verfassungs-Plebiszit am 4. September 2022 und der Niederlage der Unterstützer:innen des damaligen fortschrittlichen Grundgesetz-Entwurfs spielten mit viel Geld orchestrierte professionelle fake news-Kampagnen in den sozialen Medien eine wesentliche Rolle. Wie ist das jetzt im Vorfeld der Abstimmung am 17. Dezember?
Claudia Vera: Auch diesmal spielt die Musik in den sogenannten „sozialen Medien“: Diejenigen, die für den neuen Verfassungstext trommeln, behaupten: „Wir werden alle Flüchtlinge und Migranten aus dem Land werfen!“ Oder sehr beliebt ist auch das an den neuen argentinischen Kettensägen-Präsidenten Javier Milei erinnernde Versprechen, in Zukunft keine Steuern mehr zahlen zu müssen. Noch mehr Wirkung erzielt jedoch das Argument, mit der Zustimmung zum Verfassungsprojekt die Regierung von Gabriel Boric und die verhasste kritische Zivilgesellschaft zu bestrafen – und natürlich im Kampf gegen die Kriminalität zukünftig keinerlei Rücksicht mehr auf angebliche (rechtsstaatliche) Beschränkungen bei Polizeieinsätzen nehmen zu müssen.
Diese dystopischen Aussichten fügen sich ziemlich nahtlos in die demokratiefeindlichen, autoritären Prozesse in anderen Ländern auf dem amerikanischen Doppelkontinent ein. Wie ist es in einem solchen Umfeld möglich, im „Kleinen“, in der Arbeit auf der Ebene von Projekten, die sich für Kinderrechte engagieren, den langen Atem zu bewahren und perspektivisch doch noch eine Chance für einen demokratischen und sozialen Neuanfang zu erarbeiten?
Claudia Vera: Das mit dem langen Atem ist ein gutes Stichwort! In einer der Umfragen der zurückliegenden Wochen wurden die Menschen gefragt, was für sie der Begriff „langfristig“ bedeutet. In den allermeisten Antworten reicht dieser Zeithorizont maximal bis zu 90 Tagen. Was jenseits dieser drei Monate passiert, welche Hoffnungen und Perspektiven es für sie persönlich jenseits dieser Zeitmarke gibt, dazu konnten die Befragten nichts sagen. Ich halte diesen Befund für symptomatisch für das, was in dieser Gesellschaft vor sich geht. Aus unserer Sicht und nach Jahrzehnten des Engagements für Demokratie und Kinderrechte sehen wir als Fundación ANIDE zusammen mit den Kindernothilfe-Partnerorganisationen in Chile keinen anderen Weg als den, der über eine Bildung mit Qualität führt. Dem endemisch schlechten Zustand des in fünf Jahrzehnten heruntergewirtschafteten öffentlichen Schulsystems in diesem Land stellen die Projekte eine Alternative entgegen: eine Bildungs- und Sozialarbeit mit Qualität!
Was bedeutet das konkret?
Claudia Vera: Wir waren vor kurzem in Concepción, zu einem längeren Besuch im Projekt Agüita de la Perdiz. Dort konzentriert sich das Team darauf, neben den sozialen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen auch den Schulerfolg zu unterstützen. Um den Kindern zu helfen, die Defizite des prekären Schulunterrichts in diesem Armenviertel auszugleichen, hat das Zentrum seine Öffnungszeiten angepasst, um jetzt quasi im Zwei-Schicht-Betrieb arbeiten zu können. Es gelang, weitere Freiwillige zu gewinnen, die mit den Kindern Hausaufgaben machen und den Unterrichtsstoff noch einmal neu bearbeiten. Kurzum: Es geht darum, Kindern mehr Selbstbewusstsein und Sicherheit zu geben – und die Freude am Lernen neu zu wecken! Natürlich müsste das alles auch in der Schule geschehen. Tut es aber nicht. Wir sind davon überzeugt, dass es nur dann eine Perspektive für eine demokratischere und sozialere Gesellschaft in Chile geben kann, wenn das Recht auf Bildung eingelöst wird – und die Kinderrechte als Wertesystem jeden Tag verteidigt und neu erstritten werden! Dafür leisten Organisationen aus der Zivilgesellschaft selbst bei extremem politischem und medialem Gegenwind einen wichtigen Beitrag. Und daran wird auch der Ausgang dieses erneuten Verfassungsplebiszit nichts ändern!
Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei der ökumenischen Stiftung Fundación ANIDE, bzw. ihrer Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Darüber hinaus begleitet und betreut Claudia Vera seit vielen Jahren die Lern- und Freiwilligendienst-Leistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.
Nach dem Referendum:
Nichts gewonnen, aber auch nicht alles verloren
Erleichterung, Erschöpfung, Resignation: Claudia Vera kommentiert an dem Tag nach der Abstimmung vom 17. Dezember den Ausgang des zweiten chilenischen Verfasungsreferendums innerhalb von nur 15 Monaten mit dem Satz: „Ja, da ist ein Gefühl von Erleichterung. Aber die Wahrheit ist, wir haben nichts gewonnen, stattdessen waren wir kurz davor, alles zu verlieren.“ Mit 55,76 Prozent Nein-Stimmen – gegenüber 44,24 Prozent Zustimmung – bei einer Wahlbeteiligung von 84,48 Prozent (es bestand Abstimmungspflicht) lehnte am 17. Dezember eine Mehrheit der in Chile und im Ausland in die Wählerregister Eingeschriebenen den vom „Verfassungsrat“, einem von den Parteien am rechten und extrem rechten Rand des politischen Spektrums dominierten Gremium, vorgelegten Grundgesetzentwurf ab.

© Ximena Galleguillos
15 Monate zuvor, am 4. September 2022, war ein damals von einem Verfassungskonvent mit deutlich progressiver Mehrheit und unter Beteiligung der indigenen Ethnien im Land erarbeiteter fortschrittlicher Verfassungsentwurf, der der Verteidigung der Menschenrechte, dem Sozial- und Rechtsstaatsprinzip, dem Schutz von Umwelt und Natur, den Themen Geschlechtergerechtigkeit und Minderheitenrechte Priorität einräumte, nach einer in diesem Ausmaß in Chile nie zuvor erlebten Fake News-Kampagne mit 61,87 Prozent Nein-Stimmen ebenfalls klar abgelehnt worden.
Vor dem zweiten Verfassungsreferendum am 3. Adventsonntag hatten sich nicht nur die Parteien aus dem Mitte-Links-Spektrum und Chiles Koalitionsregierung unter Präsident Gabriel Boric, sondern auch zahlreiche Initiativen aus der Zivilgesellschaft, Menschen- und Kinderrechtsorganisationen, Verteidiger:innen von Umwelt-, Kultur- Indigenen- und LGBTQ-Rechten für eine Ablehnung des vorgelegten Verfassungsentwurfs ausgesprochen. Überall im Land – mit Ausnahme der Kommunen, auf die sich der wohlhabendste Teil der chilenischen Bevölkerung konzentriert – gab es mehr Nein- als Ja-Stimmen. Unter den Auslands-Chileninnen- und Chilenen in Europa, die sich in den Botschaften und Konsulaten an der Abstimmung beteiligten, fiel die Ablehnung des ultra-konservativen Verfassungsentwurfs noch einmal sehr viel kategorischer aus als in Chile selbst: In Österreich etwa stimmten 76,35 Prozent der Wählerinnen und Wähler gegen den Entwurf, in Deutschland waren es 80,36, in Belgien 86,27 und in Frankreich 86,50 Prozent.
Wie geht es jetzt in Chile weiter? „Zunächst werden wir weiter mit der Verfassung von 1980, die den autoritär-nationalistischen Geist des Pinochet-Regimes, kombiniert mit einem marktradikalen Wirtschaftsmodell, atmet, leben müssen“, erklärt Claudia Vera von der Fundación ANIDE. Zwar gab es Anfang der Nuller-Jahre, unter dem damaligen Präsidenten Ricardo Lagos, einige Verfassungsänderungen, etwa die Abschaffung von Senatoren auf Lebenszeit. „Aber die Substanz dieses Dokuments aus den Jahren des Militärregimes, das die extreme Spaltung unserer Gesellschaft mit ihren Abgründen zwischen extremem Reichtum und Prekarität, legitimiert“, findet Claudia Vera, „wurde nie angetastet!“. Die Hoffnung aufgeben, dieses Korsett doch irgendwann abstreifen zu können, will die Programm- und Projektkoordinatorin der Fundación ANIDE nicht: „Aber vielleicht wird erst die nächste Generation wieder eine solche Chance, wie wir sie nach dem Estallido Social, der Massenrebellion von 2019/2020 gegen das zutiefst ungerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, hatten und am Ende leider doch nicht nutzen konnten, erkämpfen müssen.“
Jürgen Schübelin