Kein rechter Erdrutschsieg, aber weiterhin Sorgen um Menschenrechte

Interview von Jürgen Schübelin über den Ausgang der Kommunal- und Regionalwahlen in Chile


Nicht nur in den USA wurde gewählt: Ende Oktober wurden in Chile im logistisch aufwändigsten und komplexesten Wahlakt, den es in diesem Land jemals gegeben hat, die Stimmen ausgezählt. Erstmals herrschte bei der Abstimmung über sämtliche Bürgermeister, Gemeinderäte, Regionalgouverneure und die Mitglieder der 16 Regionalräte Wahlpflicht. Vor dem zweitägigen Megaevent am 26. und 27. Oktober hatten uns José Horacio Wood und Claudia Vera von der Fundación ANIDE geholfen, die Bedeutung dieser Wahlen einzuordnen und erklärt, was beim Blick auf die Kinderrechte auf dem Spiel steht. Jetzt haben wir nachgefragt und wollten wissen, wie es ausgegangen ist – und welche Konsequenzen die regional und lokal doch sehr unterschiedlichen Ergebnisse für die Arbeit von Kinder- und Menschenrechtsorganisationen im Land haben.

In den USA, Moldau oder Georgien wurde zuletzt erbittert über den Vorwurf von Wahlmanipulation und Betrug gestritten und es gab ja auch genug Belege dafür, dass in den beiden letztgenannten Ländern von interessierter Seite massiv falschgespielt wurde. Auch bei wichtigen Wahlen in Lateinamerika, wie jüngst in Venezuela, wurde offenkundig nach allen Regeln der Kunst gefälscht und betrogen. Ist es da nicht eine gute Nachricht aus Chile, dass dieses Thema hier so überhaupt keine Rolle spielt?

José Horacio Wood: Doch! Und darauf sind wir und andere Engagierte aus der chilenischen Zivilgesellschaft auch stolz! Die Menschen, die im ganzen Land zwei Tage lang als Wahlhelfer arbeiteten und bis in die frühen Morgenstunden des 28. Oktober Stimmzettel auszählten, haben einen großartigen Job gemacht. Das Innenministerium mit der Wahlbehörde Servicio Electoral de Chile (SERVEL) bereitete diesen Wahlmarathon professionell vor und brachte ihn unfallfrei über die Bühne. Nicht einmal von den politisch extremsten Rändern gab es irgendwelche Zweifel an den Auszählungs-Ergebnissen. So oft wir gegenüber staatlichen Institutionen immer wieder reichlich Anlass zur Kritik haben, bei diesen Wahlen hat alles geklappt. Zumindest diese formale Seite der Demokratie in unserem Land ist nicht das Problem.

Und die Ergebnisse? Im Vorfeld hattet Ihr große Sorgen vor einer Vertiefung der gesellschaftlichen und politischen Spaltung im Land – und einem massiven Rechtsruck auch auf kommunaler und regionaler Ebene. Wie schätzt Ihr die Zahlen zum Wahlausgang ein?

Claudia Vera: Chile war seit Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts immer eine Gesellschaft, die sich bei Wahlen politisch um drei Blöcke herum gruppierte: die rechten Parteien, die in der Mitte und die aus einem sehr divers und heterogen zusammengesetzten demokratisch progressiven Lager. Genau diese Aufteilung ist jetzt auch bei diesen Wahlen zu erkennen. Ganz grob gesprochen, gab es rund 37 Prozent der Stimmen für die Parteien von rechts bis extrem rechts, 32 Prozent für den Mitte-Links-Sektor, der hinter der Regierung von Präsident Gabriel Boric steht, und dann 30 Prozent für unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten, die sich keinem der beiden Lager zurechnen lassen.

José Horacio Wood: Was auf alle Fälle ausblieb, war der befürchtete Erdrutschsieg der Rechtsaußen-Parteien. So konnte die Partei Partido Republicano des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast, die bei den Wahlen zum Verfassungsrat im Mai 2023 noch 35 Prozent der Stimmen holte, diesmal nur 13 Prozent auf sich vereinigen. Trotzdem ist klar, dass auf kommunaler und regionaler Ebene vor allem die ehemalige Pinochet-Unterstützer-Partei Renovación Nacional sehr erfolgreich war und sich als wichtigste politische Kraft des rechtskonservativen und Rechtsaußen-Lagers konsolidieren konnte. Das hat auch direkte Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen im November nächsten Jahres: Sehr wahrscheinlich wird niemand mehr der derzeit noch amtierenden Bürgermeisterin von Providencia, Evelyn Matthei, der Tochter des letzten Oberbefehlshabers der chilenischen Luftwaffe während der Diktaturjahre, die Kandidatur für das Präsidentenamt nehmen können. Trotzdem – und auch das haben diese Wahlen gezeigt – ist dieser Sektor des rechten politischen Lagers in Chile mit vier untereinander erbittert konkurrierenden Parteien heillos zerstritten.

In Chile seit einigen Jahren Trend: Wahlplakate ohne jeden Hinweis auf die Parteizugehörigkeit der Kandidatinnen und Kandidaten; © Ximena Galleguillos

Eine Besonderheit fällt – von außen betrachtet – besonders auf: Es gab jede Menge Kandidatinnen und Kandidaten, die sich als „Unabhängige“ zur Wahl stellten, sich also partout keinem der Parteienbündnisse anschließen wollten, aber mit 30 Prozent Stimmenanteil doch sehr erfolgreich waren. Was steckt hinter diesem Phänomen?

Claudia Vera: Das ist eine Tendenz, die wir bereits seit einigen Jahren beobachten und die es so auch in Europa gibt: Weil politische Parteien in der öffentlichen Wahrnehmung sehr stark an Reputation verloren haben und nicht mehr als Instrumente der politischen Willensbildung, sondern nur noch als Zweckbündnisse zur Durchsetzung von Klientelinteressen und dem Zugang zu Ressourcen und Posten empfunden werden, versuchten selbst Kandidat:innen, die von ihren jeweiligen Parteigremien nominiert und im Wahlkampf unterstützt wurden, so zu tun, als ob sie mit diesen Parteien gar nichts am Hut hätten. Das ist natürlich total lächerlich und unglaubwürdig, wenn auf den Wahlplakaten dann nur noch das Gesicht und der Name der Kandidatin oder des Kandidaten auftaucht, aber keinerlei Information zur Parteizugehörigkeit. Im Wahlkampf haben nur die Kommunistische Partei Chiles (PC) und die bereits erwähnte rechtsextreme Partei Partido Republicano dieses „Verkleidungsspiel“ nicht mitgemacht, sondern auf die Parteizugehörigkeit ihrer Leute hingewiesen.

Der relative Erfolg so vieler unabhängiger Kandidat:innen, die sich bewusst keinem der Bündnisse anschlossen, hat aber auch damit zu tun, dass seit dem Estallido Social, den Protesten von Millionen Menschen zwischen Oktober 2019 und März 2020, Nachbarschafts- und Stadtteilorganisationen, Kultur-, Umwelt- und LGBT-Initiativen auf lokaler Ebene eine so wichtige Rolle gespielt haben. Viele derjenigen, die jetzt als Kandidat:innen erfolgreich waren, haben jahrelanges zivilgesellschaftliches Engagement hinter sich – oder sie konnten sich beim Kampf gegen Korruption und Nepotismus in einigen Kommunalverwaltungen einen Namen machen.

Ein Wahllokal auf dem Pausenhof einer Grundschule im Santiagoer Stadtteil Ñuñoa;
© Ximena Galleguillos

José Horacio Wood: Was diese Wahl jedoch so kompliziert gemacht hat, war die wirklich extreme Zersplitterung, mit mehr als 23 verschiedenen Gruppen, die in den unterschiedlichsten Bündnissen auf den Wahlzetteln auftauchten. Um herauszufinden, wer denn nun wohin gehört, sich wie politisch verortet und für welche inhaltlichen Anliegen – jenseits der üblichen populistischen Sprechblasen – steht, war eine Menge Aufwand und Internetrecherche notwendig. Die Tatsache, dass bei der Wahl von Gemeinderäten und der Abgeordneten der Regionalräte 18 Prozent der Leute ungültige oder gar nicht ausgefüllte Stimmzettel abgaben, spricht für sich. Im Fall der Bürgermeisterwahlen war der Anteil der ungültigen Stimmabgaben oder Enthaltungen mit 11 Prozent etwas geringer. Trotzdem sind diese nulos y blancos-Voten ein sehr hoher Preis für die Entscheidung, auch bei Kommunal- und Regionalwahlen eine Teilnahmepflicht einzuführen.

Ihr habt erwähnt, dass es bei diesen Wahlen landesweit sehr unterschiedliche und uneinheitliche Ergebnisse gab. Wie sieht es denn in den Kommunen aus, in denen eure Partnerorganisationen engagiert sind? Und was werden die Wahlergebnisse an möglichen Folgen für die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Initiativen, etwa Kinder- und Menschenrechtsorganisationen haben?

Claudia Vera: Dort, wo die Rathäuser an Kandidat:innen aus dem demokratisch progressiven Lager oder auch an unabhängige Bewerber:innen, die sich im weitesten Sinn dem Mitte- oder Mitte-Links-Spektrum zugehörig fühlen, gingen, hoffen die mit uns zusammenarbeitenden oder in Netzwerken verbundenen Kinderrechtsorganisationen, ihr Engagement ohne Querschüsse weiterführen zu können – und sehen die Kommunalverwaltungen teilweise durchaus als Verbündete und Mitstreiter. Mit einem ganz neuen und möglicherweise sehr schwierigen Ansprechpartner auf kommunaler Ebene hat es hingegen das von uns unterstützte Projekt-Team in dem Armenviertel Agüita de la Perdiz am Stadtrand von Concepción zu tun. In der wichtigsten Stadt in Südchile wurde in einem sehr engen Rennen Hector Muñoz vom Partido Social Cristiano, einer ganz weit am rechten Rand angesiedelten und von fundamentalistisch evangelikalen Gruppen unterstützten Partei, gewählt. Hier sind Konflikte vorprogrammiert, weil im Weltbild dieser ultrarechten Partei – ganz vergleichbar mit der militant-evangelikalen Wählerschaft von Trump in den USA – Familien- und Geschlechterbilder vorherrschen, die diametral zu den Werten etwa eines Kinder- und Menschenrechte-basierten Ansatzes stehen. Welche Auswirkungen das konkret für die Arbeit in Agüita haben wird, muss sich in den nächsten Monaten zeigen.

José Horacio Wood: Richtig schwierig wird es wohl auch in der Kommune Independencia, also nördlich des Stadtzentrums von Santiago. Hier arbeitet unser Partner Colectivo sin Fronteras mit Kindern und Jugendlichen aus Migranten- und Flüchtlingsfamilien. In Kooperation mit der Stadtverwaltung von Independencia wurde in den zurückliegenden Jahres Einiges erreicht. So entstand hier ein kommunales Büro für Migration als zentrale Ansprech- und Anlaufstelle, eine Art Modellprojekt für Chile. Die Bürgermeisterwahlen in dieser wichtigen Kommune gewann jedoch Agustín Iglesias vom rechten Parteienbündnis Chile Vamos, der in seiner Kampagne mit populistischen und fremdenfeindlichen Versatzstücken gespielt und immer wieder gefordert hatte, dass sich Migranten – notfalls mit Gewalt – der chilenischen Kultur unterordnen müssten.

Erneut eine Parallele zu den Wahlen in den USA und der dortigen Rolle der kubastämmigen US-Amerikaner bildet dabei ein bemerkenswerter Aspekt: Untersuchungen zeigen, dass gerade Menschen, die vor dem Maduro-Regime aus Venezuela flüchten mussten und jetzt in großer Zahl in Independencia oder anderen Kommunen im Zentrum von Santiago leben – sobald sie in Chile wahlberechtigt geworden sind – mehrheitlich für rechte und extrem rechte Parteien stimmen. Das ist vermutlich ein Reflex auf ihre Erfahrungen in Venezuela, aber angesichts der populistischen Hetze gegen Migranten und Geflüchtete aus rechten und Rechtsaußen-Parteien geradezu tragisch. Für unseren Partner Colectivo sin Fronteras stellen die Verschiebungen der politischen Kräfteverhältnisse im Rathaus von Independencia auf alle Fälle eine große Herausforderung dar. 

Mit einem selbtgefertigten Linolschnitt-Plakat erinnern Aktivist:innen im Kommunal- und Regionalwahlkampf an die Menschenrechtsverbrechen während der Pinochet-Diktatur.
© Ximena Galleguillos

Vor den Wahlen am 26. und 27. Oktober hattet ihr beklagt, dass Kinderrechtsthemen in den Kampagnen von Parteien und Kandidaten so gut wie keine Rolle gespielt haben. Gibt es denn jetzt Aussagen von gewählten Mandatsträger:innen zu diesem Bereich?

Claudia Vera: Was durchaus für eine gewisse mediale Aufmerksamkeit gesorgt hat, sind die Sprüche des gewählten neuen Bürgermeisters von Santiago, also der Kernkommune der chilenischen Hauptstadt. Hier hat der ehemalige Polizeioffizier und kurzzeitige Verteidigungsminister unter Präsident Piñera, Mario Desbordes, die Wahlen gegen die amtierende Bürgermeisterin Irací Hassler von der PC gewonnen. Er kündigte gegenüber Schülerinnen und Schülern, die sich an Protestaktionen gegen die prekären Bedingungen an ihren Schulen beteiligen, harte Polizeieinsätze und offene Repression an. Mit seinem law and order-Diskurs und seinen Anschuldigungen gegen Lehrer:innen, aber auch Schulleitungen, die seiner Meinung nach zu wenig energisch gegen Demos und Proteste von Jugendlichen vorgehen, setzte er in seiner Kampagne und auch danach einen Ton, in dem es nur noch um das Disziplinieren und Bestrafen ging. Aus einer Kinderrechte-Perspektive ist das ein Rückfall in ganz finstere Zeiten, der aber offenbar bei jenen, die Desbordes gewählt haben, gut ankam. Wir sehen darin eine ganz gefährliche Tendenz, die die in Chile in den vergangenen Jahren erreichten bescheidenen Erfolge in Sachen Kinder- und Jugendschutz und Kinderrechte sehr schnell wieder zunichte machen kann. Ganz viel hängt jetzt davon ab, welche Antworten die zum Thema Kinderrechte arbeitenden Organisationen aus der Zivilgesellschaft geben können – und über welche Kraft die bis zum 11. März 2026 amtierende Regierung unter Gabriel Boric noch verfügt, um ihre eigenen, durchaus ehrgeizigen Initiativen zu diesem Aufgabenbereich voranzutreiben, um einen derartigen roll back-Prozess zu verhindern. Es bleibt spannend und es bleibt viel zu tun!

Zu den Interviewten: Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Österreich-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Ihr Bruder wurde vom Pinochet-Regime ermordet – und ihre Familie schaffte es, in der DDR Asyl zu erhalten. Claudia Vera begleitet und betreut seit vielen Jahren auch die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste und anderer Freiwilligenorganisationen in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.