Von Robert Lessmann
Mit der Nominierung von Vizepräsidentin Kamala Harris zur Spitzenkandidatin der Demokraten ging ein Ruck durch die Partei und ein Aufatmen durch die Welt. Ein frischer Wind scheint durch die US-Politik zu wehen, in einem freilich weithin inhaltsleeren Wahlkampf. Nunmehr stehen ein Glücksversprechen („Joy“) und eine begeisternd lächelnde Kandidatin mit migrantischem Hintergrund gegen einen grantigen, polternden Greis. Das Rennen um die Präsidentschaft ist jedoch keineswegs schon entschieden, und jenseits aller Bauchgefühle steht die Frage: Was hätte die Welt, was hat Lateinamerika von einer möglichen Harris–Walz–Administration zu erwarten?
Vorweg: Außenpolitik spielt im US-Wahlkampf eine Nebenrolle und Lateinamerika so gut wie gar keine, sieht man von Migration, Drogen und Rohstoffen (Öl, Lithium) ab. Das ist nicht neu: Coletta Youngers, bis vor Kurzem jahrzehntelange Mitarbeiterin des renommierten Washington Office on Latin America nennt auch die Lateinamerikapolitik der Regierung Biden-Harris „awful“ (heillos – um hier die schwächstmögliche Übersetzung zu gebrauchen).
Ausgerechnet General Laura Richardson, Chefin des für Südamerika zuständigen US Southern Command der Streitkräfte, beklagte im letzten Jahr mehrfach öffentlichkeitswirksam, dass die Vereinigten Staaten im Ringen um Rohstoffe ins Hintertreffen geraten seien, insbesondere im Lithiumdreieck: Argentinien, Bolivien, Chile. Ziel müsse es sein (wörtlich) „to box out our adversaries, box out our competitors“ (Widersacher und Konkurrenten wegzuboxen). Diplomatie stellt man sich in den betroffenen Ländern anders vor.
Vizepräsidentin Harris führte eine Initiative zur Eindämmung des Migrantenstroms an und konnte in diesem Zusammenhang mehr US-Hilfen für zentralamerikanische Länder durchsetzen sowie Direktinivestitionen von US-Unternehmen einfädeln. Auch wenn für viele NGOs, die in den USA zu diesem Thema arbeiten, die ganze Strategie fragwürdig ist: Der Ansatz, in Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren Fluchtursachen zu bekämpfen, unterscheidet sich deutlich von der menschenverachtenden Mauerbaurhetorik der Vorgängerregierung unter Trump. Harris gilt als besonnene, abwägende Politikerin, die langfristig denkt und nachhaltige Lösungen anstrebt statt publicityträchtige Schnellschüsse. Den frischgebackenen guatemaltekischen Präsidenten Bernardo Arévalo hatte sie im Weißen Haus empfangen.
Harris war allem Anschein nach direkt in die Verhandlungen zum Häftlings-/Geiselaustausch mit Moskau eingebunden, was ein Plus auf der Habenseite für sie und Präsident Biden darstellt. Und sie ist deutlich kritischer gegenüber der israelischen Kampagne in Gaza und lauter in ihrer Forderung nach humanitärer Hilfe für die Menschen dort. Doch sicherlich kann sie nicht allzu kritisch gegenüber ihrer eigenen Regierung sein. Und was in näherer Zukunft mit dem Pulverfass Nahost geschehen wird, weiß niemand.
Kamala Harris prägte den Begriff „smart on crime“ (klug oder clever bei der Kriminalitätsbekämpfung), galt als Staatsanwältin aber eher als Hardlinerin. Zum Thema Drogen hat sie sich nicht explizit geäußert. Man darf annehmen, dass sie hier für Kontinuität der Biden-Administration steht und eine Fortsetzung der Angebotsbekämpfung. Und obwohl hier heutzutage Fentanyl und andere künstliche Opioide mit jährlich mehr als 100.000 Toten durch Überdosen klar das Hauptproblem darstellen – sie sind die häufigste Todesursache für Männer zwischen 18 und 50 Jahren in den USA und Opioide werden überwiegend aus Mexiko importiert – gilt das auch für die klassischen, pflanzengestützten Substanzen wie Kokain, wobei hier die Hoffnung besteht, dass eine über Jahrzehnte ergebnislose Politik mit hohen Nebenkosten für die betroffenen Länder stillschweigend einschläft. Seit Beginn der Opioid-Krise im Jahr 2020 starben laut World Drug Report der UN rund eine halbe Million Menschen an Überdosen – und auch wenn hier aktuell die Zahlen leicht rückläufig sind, bleibt die Situation sehr ernst und die Verfügbarkeit noch potenterer illegaler Drogen, sogenannter Nitazene, gibt zu neuer Besorgnis Anlass (UNODC, World Drug Report 2024).
Außenminister Antony Blinken sprach bei seiner Intervention auf der UN Commission on Narcotic Drugs im vergangenen Frühjahr in Wien ausschließlich über die Opioidkrise in seinem Land. Unterdessen ist im aktuellen Wildlife Crime Report desselben UNODC (ebenfalls 2024) zu lesen, dass mexikanische Drogenorganisationen auch im illegalen Fischfang involviert sind, wo sie einen Teil ihrer Gewinne investiert haben. Würde man die Dinge in der Zusammenschau betrachten, könnte man sehen: Ob Kokain oder Fentanyl, längst sind wichtige Akteure zu multidivisionalen kriminellen Unternehmen geworden, denen mit den herkömmlichen, eindimensionalen Ansätzen nicht beizukommen ist. Wann besinnt man sich auf Giovanni Falcone, der im Fall der italienischen Mafia forderte: Follow the money? Und zwar konsequent.
Damm gegen Rechts
Als sich Anfang Juli die Präsidenten der MERCOSUR-Mitgliedsländer in Asunción/Paraguay trafen, um die Aufnahme Boliviens als Vollmitglied der Wirtschaftsgemeinschaft zu feiern, fehlte Argentiniens Javier Milei. Der selbsternannte Anarchokapitalist nahm lieber neben Jair Bolsonaro, dessen Sohn Eduardo (der als Bindeglied zu rechtsextremen Parteien Europas fungiert) und dem gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Antonio Kast aus Chile an einem zeitgleich stattfindenden Treffen der Confederación de Acción Política Conservadora (CPAC) im brasilianischen Santa Catalina teil. Die internationale Rechte ist vernetzt. Ebendort verkündete der notorische Speiseöl-Tykoon Branco Marinkovic seine Absicht, bei den im nächsten Jahr in Bolivien angesetzten Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Marinkovic ist eine langjährige Schlüsselfigur der extremen Rechten in Bolivien. Er war dort wesentlich am Zivilputsch von Santa Cruz 2008 beteiligt und nach der Machtergreifung der Rechten (2019) im Jahr 2020 kurzzeitig auch Wirtschaftsminister in der sogenannten „Interimsregierung“ von Jeanine Añez.
Bedauert wurde in Santa Catalina die Abwesenheit des wahlkämpfenden Expräsidenten Donald Trump, doch dessen ehemaliger Chefstratege Steve Bannon, der seit 1. Juli eine Haftstrafe wegen Missachtung des Kongresses absitzt, gilt als Koordinator rechter Netzwerke weltweit. Der Horror vor einer erneuten Präsidentschaft von Donald Trump ist womöglich die größte Stütze der demokratischen Kandidatin, gerade bei frustrierten, aber politisch wachen jungen Wählerinnen und Wählern, um deren Reaktivierung an den Wahlurnen sie sich besonders bemüht. Auch wenn die progressiven Kräfte eines Tages womöglich von einer Harris-Adminstration enttäuscht sein werden – so, wie sie es auch von Clinton und Obama waren –, ist es doch das Gebot der Stunde, einen weiteren Vormarsch der gesellschaftspolitisch reaktionären, neonationalistischen und xenophoben Kräfte von Putin über Orban und Erdogan bis hin zu Bolsonaro und eben Trump zu verhindern. Da steht einiges auf dem Spiel – wie wir wissen auch in europäischen Ländern wie Frankreich oder Österreich.
Unterschätzte Vizepräsidentschaft
In den Vereinigten Staaten kursiert ein Witz: Fragt ein Mann den anderen: „Was ist eigentlich aus Ihren Kindern geworden? Man hat lange nichts von ihnen gehört!“ Antwort: „Der eine ist Matrose, der andere Vizepräsident.“ Eine Vizepräsidentschaft gilt als undankbarer Job, der wenig Aufmerksamkeit verspricht. Dem oder der Vize werden gerne unlösbare Aufgaben übertragen. Insofern mag Kamala Harris als Präsidentin im Amt womöglich für viel mehr stehen als für eine ehemalige Staatsanwältin, die nun die erneute Präsidentschaft eines verurteilten Straftäters verhindert. Eine Vizepräsidentschaft ist jedenfalls alles andere als das Tor in die politische Versenkung. Immerhin 15 von 49 US-Vizepräsidenten wurden später Präsident. Manche durch Tod, wie Lyndon B. Johnson für den ermordeten John F. Kennedy, oder wegen eines Rücktritts, wie Gerald Ford für Richard Nixon. Der wiederum hatte es als ehemaliger Vize im zweiten Anlauf geschafft, zum Präsidenten gewählt zu werden. George Bush (sen.) schaffte es nach zwei Amtszeiten von Ronald Reagan direkt, Joe Biden nach einer Amtszeit von Donald Trump. Unter den bisher 49 Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten ist Kamala Harris die erste und einzige Frau. Sie hat gute Chancen, die sechzehnte ehemalige Vizepräsidentin unter dann 47 Präsidenten zu werden und damit die historische erste Frau in diesem Amt.
Ihren Vizepräsidentschaftskandidaten dürfte sie nach wahlstrategischen Überlegungen ausgewählt haben. Jedenfalls wird das gegenwärtig so diskutiert. Doch Tim Walz mag darüber hinaus eine Rolle spielen, wenn es darum geht, in einer Harris-Walz-Administration stärker auf Diplomatie zu setzen statt auf militärischen Interventionismus. Seinen Wahlkampf zum Kongressabgeordneten führte er 2006 in Opposition zum Irakkrieg. Später führte er im Kongress eine Gruppe von Demokraten an, die Präsident Barack Obama vor einem Eintritt in einen Krieg in Syrien warnte, und er trat für eine Resolution zur Beendigung der Unterstützung Saudi Arabiens bei dessen Krieg im Jemen ein. Daneben unterstrich er anlässlich der Öffnungspolitik unter Präsident Obama 2016/17 die wechselseitigen Chancen eines möglichen Handels mit Kuba. Dazu kam es dann freilich nicht.
Kamala Harris’ National Security Advisor Philip H. Gordon schließlich beschreibt in seinem letzten Buch „Losing the Game: The False Promise of Regime Change in the Middle East“ von 2020, wie alle US-Versuche, im Mittleren Osten Regimewechsel herbeizuführen, scheiterten. In der Einführung zu diesem Buch nimmt er Bezug darauf, dass auch alle diesbezüglichen Versuche im 20. Jahrhundert in Lateinamerika im Fiasko endeten.
Dollardemokratie
Dass der Zustand der Demokratie in den Vereinigten Staaten besorgniserregend ist, weiß man nicht erst seit der Kandidatenwahl bei den Republikanern, die von sich selbst gern als von der „Grand Old Party (GOP)“ sprechen, und dem Sturm auf das Kapitol nach der von Trump verlorenen Wahl. Während man sich weltweit als Wächter der Demokratie geriert, spielt hier der Dollar eine entscheidende Rolle. In der Demokratischen Partei hielt man trotz aller Zweifel an einer Kandidatur Joe Bidens fest, bis die Wahlkampfspenden wegbrachen. Und Kamala Harris setzte zum Höhenflug an und wurde im Eilverfahren nominiert, als diese auf Rekordniveau kletterten. Da ist es einmal mehr alarmierend, wenn der steinreiche Gegenkandidat mit Elon Musk den reichsten Mann der Welt als glühenden Verehrer und Wahlkämpfer an seiner Seite hat, der für seine Extravaganzen bekannt ist und sich gleich auch noch selbst als möglichen Minister vorschlägt. Daher: The Kamalamania must go on. Nicht nur, weil die Alternative eine Katastrophe wäre. Es gibt auch Anlass zu vorsichtigem Optimismus.