EU – Lateinamerika: Holpriger Neustart
Von Robert Lessmann
Vergangenen Dienstag (18.7.) ging in Brüssel der EU/ CELAC-Gipfel zu Ende. Die Protagonisten sparten nicht mit Lob. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von einem erfolgreichen Treffen, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von einem ausgezeichneten Gipfel. Es fühle sich an wie ein Neuanfang. Auch die Lateinamerikaner gaben sich vorsichtig optimistisch, obwohl es im Vorfeld und zwischendurch ordentlich geknirscht hatte. Was war los? Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer?
Dass der Gipfel nach acht Jahren Abstinenz überhaupt stattfand ist sicherlich ein Erfolg per se, der nicht zuletzt dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, beziehungsweise der Abwahl seines Vorgängers Jair Bolsonaro, geschuldet ist. CELAC – die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Comunidad de Estados Latinoamericanos y Caribeños) wurde Anfang Dezember 2011 in Caracas offiziell gegründet, noch unter dem bereits an Krebs erkrankten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez – und zwar ausdrücklich ohne die USA und Kanada, also als Gegengewicht zu der von Washington dominierten OAS (Organisation Amerikanischer Staaten). Manche Analysten sehen darin eine Reaktion auf den von Washington unterstützten „Pyjama-Putsch“ 2009 in Honduras. Die 33 Mitgliedstaaten haben zusammen fast 600 Millionen Einwohner. Dass Brüssel heute mit der CELAC verhandelt ist zunächst einmal Ausdruck ihrer historischen Emanzipation von Bevormundungen aus dem Norden.
Deutliche Meinungsverschiedenheiten traten wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine zutage. Die Europäer hätten gerne eine Verurteilung Russlands gesehen. Stattdessen wurde tiefe Besorgnis über den anhaltenden Krieg konstatiert, eine friedliche Lösung gefordert und die Einhaltung des Völkerrechts angemahnt – immerhin. CELAC erklärte sich solidarisch mit den Opfern, verschiedene Redner stellten den Konflikt in eine Reihe mit anderen, zum Beispiel dem in Palästina. Russland wird im Abschlussdokument nicht genannt. Insbesondere Nicaragua, Venezuela und Kuba hatten sich gesträubt. Letztlich verweigerte aber nur Nicaragua die Unterschrift. Andererseits fand der chilenische Präsident Gabriel Boric klare Worte zum russischen Krieg gegen die Ukraine. Es gehe hier nicht um Sympathie oder Antipathie, sondern um einen Verstoß gegen das Völkerrecht, und zwar durch den Angreifer: Russland. Heute sei es die Ukraine, aber morgen könne es jeder von uns sein, sagte er an seine Kolleginnen und Kollegen gerichtet.
Aber alle zusammen sind es leid, nach der Pfeife des Westens zu tanzen. Schließlich ist man lange genug den Taktgebern aus Washington gefolgt. Und während sich auch Europa nach deren Rhythmus bewegte – seien es diverse Sanktionen oder die umgehende Anerkennung der gescheiterten Parallelregierung unter Juan Guaidó in Venezuela – hatte Moskau die sogenannten progressistischen Regierungen unterstützt. Der scheidende argentinische Präsident Alberto Fernández hatte auch die historische Schuld Europas an Sklavenhandel und Kolonialismus angesprochen. Angesichts der Diversität der Lateinamerikaner (von denen AMLO aus Mexiko und Daniel Ortega aus Nicaragua fehlten, ebenso „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte aus Peru; anwesend war dagegen Miguel Díaz-Canel aus Kuba) sicherlich ein diplomatischer Kompromisserfolg. Der bolivianische Präsident Luis Arce erklärte anschließend seinen Landsleuten, es sei nicht einfach, zwischen 60 Delegationen (33 aus CELAC und 27 aus der EU) zu einem Konsens zu kommen. Dazu sei viel politische Reife nötig.
Die wurde freilich aus Europa mit der Ankündigung von Investitionen in Höhe von 45 Milliarden Euro (davon 9 allein von Pedro Sánchez aus Spanien) gefördert. Bei diesem Punkt blieb Arce, der Präsident des Landes mit den größten Lithium-Vorkommen, freilich sehr deutlich: Lithium gebe es für alle, die sich an die Regeln halten. In seinem Land müsse auf allen Ebenen der Staat in Gestalt des Staatsunternehmens Yacimientos de Litio Bolivianos beteiligt sein. Schließlich seien die Rohstoffe hier laut Verfassung Eigentum des Volkes, verwaltet vom Staat. Zur Erinnerung: Die Europäer hatten sich erst im November 2019 durch ihr (im besten Falle tollpatschig zu nennendes) Verhalten beim Sturz von Präsident Evo Morales und der kurzfristigen Machtergreifung der Rechten selbst aus der Pole-Position geschossen. Das Geschäft machen nun einmal mehr chinesische Investoren.
Der große weiße Elefant im Raum
Dass hierzulande die selbsternannten Anwältinnen und Anwälte der „Normaldenkenden“ auf Kriegsfuß mit Begrifflichkeiten stehen, dürfte hinreichend bekannt sein. Die Frage ist, ob sie tatsächlich so schlampig denken, wie sie sprechen. Kanzler Karl Nehammer jedenfalls ließ sich im Vorfeld des Gipfels vom ORF mit dem Hinweis zitieren, dass es ja ein Veto des Parlaments gegen MERCOSUR gebe. Das gibt es natürlich nicht. Gemeint dürfte er damit den Entwurf eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem MERCOSUR haben. Dieser südamerikanischen Freihandelszone gehören zwar nur vier der 33 CELAC-Staaten an, aber mit Brasilien und Argentinien (neben Paraguay und Uruguay) eben zwei politische und wirtschaftliche Schwergewichte. So wurde in Brüssel zwar nicht darüber verhandelt, doch das Thema war ständig präsent und es gab am Rande dazu einen Dialog der Außenminister.
Bereits seit 24 Jahren verhandelt die EU mit dem MERCOSUR über ein Freihandelsabkommen, das einen gemeinsamen Markt für mehr als 700 Millionen Menschen schaffen würde. Das Veto der österreichischen Parlamentsmehrheit gegen den vorliegenden Entwurf zeigt die vielen unterschiedlichen Interessen, die im Spiel sind: Einerseits geht es um den Schutz der heimischen Agrarlobby vor vermeintlichen Billigimporten, vor allem von Rindfleisch und Futtermitteln auf Soyabasis. Andererseits befürchten Umweltschützer eine weitere Abholzung der Regenwälder, die gerade zu deren Produktion dazu nötig sei. Noch grundsätzlichere Kritik stellt überhaupt das dahinter stehende Wachstumsdenken in Frage: Stichwort Lithium für Elektroautos statt neuer Mobilitätskonzepte. Den Europäern gehe es bei ihrer Charmeoffensive in erster Linie um Rohstoffe. Nutznießer seien vor allem transnationale Automobil- und Agrarkonzerne. Die Südamerikaner wiederum wehren sich gegen Bevormundungen und wollen sich nicht auf den Status von Rohstoffexporteuren reduzieren lassen. Lula da Silva etwa will das Abkommen forcieren, nennt den vorliegenden Entwurf der EU vom März diesen Jahres aber „inakzeptabel“. Eine strategische Partnerschaft lasse sich nur mit Vertrauen aufbauen und nicht mit Sanktionsdrohungen. Gerade die sind aber Umweltschützern wichtig für den Fall einer erneuten Präsidentschaft von Politikern vom Zuschnitt Bolsonaros. Vor allem wegen dessen Umweltbilanz lagen die Verhandlungen seit 2009 auf Eis. Brasilien will nun einen verbesserten Entwurf vorlegen. Die Fortsetzung der Verhandlungen wird bereits für August erwartet. Wir werden zu gegebener Zeit ausführlich berichten.
Zwischenbilanz
In Lateinamerika fand der Gipfel große Aufmerksamkeit. Vielleicht weniger euphorisch als in Europa sieht man ihn auch dort als „Anfang von etwas Neuem“. Konkrete Ergebnisse habe man auch gar nicht erwartet. Viel sei von „Augenhöhe“ und von „Dialog unter Gleichen“ die Rede gewesen. Wie weit das trägt, ob es gar für den Bau einer „Brücke der Brüderlichkeit“ reicht, wie es der bolivianische Präsident Arce formulierte, wird an den Akteuren diesseits und jenseits des Atlantiks liegen. Dort erwartet man als Voraussetzung, dass dies auf der Basis der Anerkennung von Souveränität und Selbstbestimmung geschieht und ein größerer Teil der Wertschöpfung in den Erzeugerländern verbleibt. Denn dass die europäische Charmeoffensive von der Suche nach Rohstoffsicherheit getrieben und die „Wiederentdeckung Lateinamerikas“ durch die geopolitische Zeitenwende bestimmt ist, blieb nicht verborgen. Doch auch die Lateinamerikaner wollen ihren Reichtum an Rohstoffen verwerten. In Kommentaren zum Gipfel wird gefragt, ob es gelingt, CELAC zu einer artikulations- und handlungsfähigen Gemeinschaft zu verfestigen. Angesichts der Herausforderung, zu einer neuen Weltordnung zu finden, wird allseits das Bekenntnis zum Multilateralismus hervorgehoben, das vom Gipfel ausging.
Im letzten Jahrzehnt haben ausländische Direktinvestitionen in erneuerbare Energien in Lateinamerika jene in Kohlenwasserstoffe übertroffen. Tendenz steigend. Und 75 Prozent dieser Investitionen in erneuerbare Energien kamen aus Europa. Unter den vorhandenen Alternativen scheint die EU nicht die schlechteste, auch hinsichtlich eines überfälligen wirtschaftlichen Umbaus.