Mexiko: Die hohe Kunst der politischen Doppelgleisigkeit

Von Leo Gabriel

Nach dem überragenden Wahlsieg der ersten Frau an der Regierungsspitze sind die Weichen für die Zukunft gestellt.

„Como México no hay dos“ (Wie Mexiko gibt es kein zweites) ist ein viel bedeutender Ausspruch, den man oft hört, wenn Ausländer angesichts der scheinbaren und der wirklichen Widersprüche darauf aufmerksam werden, dass dieses Land ein ganz besonderes ist. André Breton hat darin die Wiege des Surrealismus entdeckt, dessen Wurzeln er in einer „doppelten Identität“ zwischen indianischem Stoizismus und neokolonialem Führerkult, zwischen ritueller Unterwürfigkeit und machoartiger Überheblichkeit vermutete.

Die Wähler:innen mussten fünf Wahlzettel ausfüllen: für die Präsidenschaft, den/die Bürgermeister:in, den Gemeinderat, die Nationalversammlung und den Senat; © Leo Gabriel

Diese Doppelgleisigkeit, welche die gesamte mexikanische Geschichte durchzieht, trat auch in letzter Zeit zu Tage, als es darum ging, über die sechsjährige Amtszeit eines Präsidenten Bilanz zu ziehen, der behauptet hatte, er werde sowohl den Neoliberalismus als auch die damit einhergehende Korruption und Gewalt überwinden, die das Land seit der mexikanischen Revolution (1914 bis 1918) bis auf einige wenige Ausnahmen in Geiselhaft genommen hatten. Von 1929 bis 2000 herrschte in Mexiko die sogenannte Partido Revolucionario Institucional (PRI), an deren Spitze jeweils für sechs Jahre ein nahezu allmächtiger „Señor Presidente“ stand. Die Einschätzungen der namhaftesten Politologen schwankten zwischen „Diktatur auf Zeit“ und parlamentarischer Demokratie.

Durchbrochen wurde dieses auf der ganzen Welt einzigartige Modell, das sich weder mit dem Kapitalismus westlicher Prägung noch mit den Ländern des sogenannten Realsozialismus osteuropäischer Provenienz identifizierte, im Jahr 2000, als Vicente Fox, ein ehemaliger CEO von Coca Cola von der erzkonservativen Partido de Acción Nacional (PAN), die Präsidentschaftswahlen gewann. Mit ihm hat sich der bereits von den PRI-Regierungen eingeführte Neoliberalismus voll durchgesetzt. Sein Nachfolger Felipe Calderón (2006 bis 2012) ging sogar so weit, mit dem Boss des mächtigen Sinaloa-Kartells, dem inzwischen in den USA zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilten „Chapo“ Guzmán, zu vereinbaren,  einen so genannten „War on Drugs“ (Drogenkrieg) gegen alle anderen Kartelle zu führen.

Obradors langer Marsch durch die Parteienlandschaft

Es war zu dieser Zeit, als der politische Stern des ehemaligen Gouverneurs von Tabasco, Andrés Manuel López Obrador (im Volksmund AMLO genannt), aufging. Zusammen mit vielen anderen Politiker:innen, die der Korruption und steigenden Gewalt im Lande überdrüssig waren, hatte sich auch er von der ehemaligen Einheitspartei PRI abgespalten und zusammen mit Cuauhtémoc Cárdenas, dem prominenten Sohn des reformfreudigen linken Ex-Präsidenten Lazaro Cárdenas (der u.a. auch gegen die Vereinnahmung Österreichs durch Hitlerdeutschland protestiert hatte) die sozialdemokratisch orientierte Partido de la Revolución Democrática (PRD) gegründet. Der Zulauf zur PRD und zu AMLO war derart groß, dass dieser im Jahr 2000 die Regentschaft von Mexiko-Stadt einnahm und sechs Jahre später beinahe zum Präsidenten Mexikos gewählt worden wäre, wäre ihm diese Funktion nicht durch massiven Wahlbetrugs aberkannt worden.

AMLO musste nach Monaten heftigen Widerstands einsehen, dass mit der PRD, die sich bald mit der PRI und der PAN zusammentat, nichts mehr anzufangen war. Deshalb gründete er seine eigene Wahlpartei, das Movimiento de Regeneración Nacional (MORENA, was auf Deutsch so viel wie „die Dunkelhäutige“ heißt), der sich innerhalb kürzester Zeit Millionen Menschen anschlossen. Nicht zuletzt wegen seiner an Sturheit grenzenden Standhaftigkeit, die ihn dazu bewog, jährlich Hunderte Gemeinden im Landesinneren zu besuchen, schaffte er es schließlich doch, am 1. Juli 2018 mit 53,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zum Präsidenten gewählt zu werden.

Der heute 70 jährige  Vollblutpolitiker, dessen sechsjährige Amtszeit als Staatspräsident am 1. Oktober dieses Jahres zu Ende geht, schuf sich bereits zu seinen Lebzeiten sein eigenes Denkmal, indem er seine Regierungsperiode als die „Vierte Transformation“ in der mexikanischen Geschichte einordnete, nach der Unabhängigkeit von Spanien 1815, dem Sieg der Liberalen unter Benito Juárez über den Habsburger Maximilian im Jahr 1867 und der Mexikanischen Revolution.

Die prall gefüllten Urnen spiegeln die für Mexiko hohe Wahlbeteiligung von über 60% wider; © Leo Gabriel

Doch was ist von den großspurigen Versprechungen des Mannes, der auszog, um die mexikanischen und in Mexiko ansässigen ausländischen Eliten des Großkapitals das Fürchten zu lehren, tatsächlich geworden? Der Wahltag am 2. Juni 2024, an dem nicht nur die Präsidentschaft, die Abgeordneten der Nationalversammlung und des Senats, sondern auch ein Großteil der Gouverneure und Bürgermeister gewählt wurden, gab reichlich Gelegenheit, diese Frage zu beantworten.

Dabei geht es dem Schreiber dieser Zeilen, der in den 1970er und teilweise auch in den 1980er Jahren in Mexiko gelebt hat, in erster Linie darum, Menschen aus möglichst vielen unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Milieus zu Wort kommen zu lassen und weniger darum festzustellen, ob die angesprochenen Personen auch tatsächlich recht haben oder nicht.

Konvergenzen und Diskrepanzen am Wahltag

Zunächst einmal gilt es zu bemerken, dass die zusammengetragenen 35 Millionen Stimmen (ca. 60 Prozent), die sich für die MORENA-Kandidatin Claudia Sheinbaum ausgesprochen haben, nicht so sehr ihr selbst, sondern dem noch amtierenden Präsidenten gegolten haben. Dasselbe gilt auch, mutatis mutandis, für die Oppositionsparteien PRI, PAN und PRD, die sich bereits kurz nach ihrer Abwahl im Jahr 2018 zu einer Wahlallianz namens PRIAN gegen AMLO zusammengeschlossen haben. Ihre Kandidatin Xóchitl Gálvez konnte jedoch nicht mehr als 28 Prozent erreichen. Wo immer man die Menschen in den Schlangen vor ihren Wahllokalen nach dem Grund ihrer Wahlentscheidung fragte, tauchte AMLO auf: entweder als Gottkönig oder als Buhmann.

Dabei hätte die Persönlichkeit von Claudia Sheinbaum, die, ebenso wie AMLO, zuletzt Bürgermeisterin der mexikanischen Hauptstadt war, ihrem Werdegang, ihrem Charakter und ihrer Erscheinung nach nicht unterschiedlicher sein können. Denn im Gegensatz zu AMLO, der wegen seines populistischen Auftretens und seiner kritischen Haltung gegenüber Intellektuellen von der Opposition als „linker Caudillo“ verteufelt wurde, ist Sheinbaum eine eher kühl wirkende Erscheinung, die in der mexikanischen Innen- und Außenpolitik keine größere Rolle gespielt hat. Dass die studierte Naturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Ökologie und Energiewirtschaft keinerlei Wurzeln in der von der PRI und PRD beherrschten Vergangenheit hat, gereicht ihr eher zum Vorteil.

Claudia Sheibaum, die künftige Präsidentin; Kontinuität, aber eigene Akzente; © Leo Gabriel

Denn was an AMLO u.a. von der Basis der MORENA stark kritisiert wurde, war der Umstand, dass er sich während seiner Amtszeit als Präsident zusehends mit ehemaligen PRI- und PAN-Politikern umgab, die meist aus opportunistischen Gründen die Seiten gewechselt hatten. Wenngleich dieses Vorgehen rein wahlarithmetisch zu einer „win-win-Situation“ geführt hat, stand dieses Verhalten im Gegensatz zum moralbetonten Image, das López Obrador während seiner allmorgendlichen Fernsehauftritte (den so genannten mañaneras) zelebrierte.

Was hingegen dem scheidenden Präsidenten von allen hoch angerechnet wird, ist seine Entscheidung, sich dem verfassungsmäßig verankerten Prinzip der „No reelección“ (Nicht Wiederwahl) unterzuordnen, und er nicht, wie andere ehemalige Präsidenten der Linken wie Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien und Daniel Ortega in Nicaragua versucht hat, dieses tief in der Geschichte Lateinamerikas verankerte Prinzip zu umgehen.

AMLOs unheilige Allianz mit der Armee

Ein anderer Kritikpunkt, mit dem AMLO innerparteilich zu kämpfen hatte, war seine unheilige Allianz mit der mexikanischen Armee, der er gleich nach seiner Amtsübernahme eine neugegründete Guardia Nacional gegenüberstellte, der vor allem polizeiliche Aufgaben zukommen. Inzwischen ist die Armee jedoch zu seinem privilegierten Instrument bei der Umsetzung von vier Megaprojekten geworden. Dazu gehört der ökologisch und anthropologisch nicht unbedenkliche „Tren Maya“ (Maya-Zug), der den Süden des Landes zu einer groß angelegten Touristenregion machen soll. Aber auch beim Ausbau eines quer durch Mexiko verlaufenden „trockenen“ (d. h. mit Hochgeschwindigkeitszügen versehenen) Container“kanals“, der dem Panamakanal bald Konkurrenz machen soll, kommen Soldaten als billige Arbeitskräfte zum Einsatz.

„Die Frage ist, wer kontrolliert wen: der Präsident die Armee oder die Armee den Präsidenten?“ sagte ein Vertreter  des sogenannten Movimento Ciudadano, einer Bürgerbewegung, die bei den Wahlen 2018 mit MORENA koaliert hatte und diesmal getrennt von AMLO mit zehn Prozent der abgegebenen Stimmen einen beachtlichen Erfolg erzielte.

Die Allianz von López Obrador mit der Armee ist auch die Achillesferse seiner Innenpolitik geworden, was sich auch auf die neugewählte Präsidentin überträgt. Denn die meisten Mexikanerinnen und Mexikaner sehen in dieser Allianz den eigentlichen Grund, warum AMLO sein Versprechen, nach Jahrzehnten der Korruption des mexikanischen Justizsystems endlich Gerechtigkeit walten zu lassen, nicht eingelöst hat. Die Bevölkerung hatte sich, unabhängig von ihrer Partei- und Religionszugehörigkeit, erwartet, dass die Regierung das organisierte Verbrechen besiegen und seine politischen Hintermänner aburteilen und lebenslang hinter Gittern setzen würde. In Wirklichkeit ist aber die Kriminalitätsrate mit Ausnahme der Hauptstadt kaum zurückgegangen und in den Bundesstaaten des Nordens wegen der Abschottung der Migrant:innen auf Befehl der US-Regierung stark gestiegen. Symbolhaft wird dabei immer wieder auf das Massaker an 43 Studierenden der pädagogischen Lehrerakademie von Ayotzinapa in Guerrero verwiesen, das, journalistischen Recherchen zufolge, von der Armee in Zusammenarbeit mit den Verbrecherbanden verübt wurde.

Tatsächlich ist das Problem der persönlichen Sicherheit das vielleicht schwierigste Erbe, das AMLO seiner Nachfolgerin hinterlässt. Denn noch immer werden Tausende Migrant:innen (vor allem Frauen) von den Banden entführt, vergewaltigt, gefoltert und zum Verschwinden gebracht, ohne dass die Guardia Nacional und/oder die Gerichte etwas dagegen unternehmen.

Warum also diese Zusammenarbeit mit der mexikanischen Armee? Warum breiten sich die Drogenkartelle auch weiterhin aus, ohne dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden? Warum erscheinen korrupte Politiker, Staatsanwälte und Richter:innen nie auf der Anklagebank?

Zu diesem Thema gibt es völlig unterschiedliche Meinungen. Die Angehörigen der Opposition meinen, die MORENA-Funktionäre selbst seien schon vom Virus der Korruption angesteckt. Sie sind allerdings in der Minderzahl, wie nicht zuletzt die Wahlen gezeigt haben, bei denen ihre Kandidatin Xóchitl Gálvez nicht einmal halb so viele Stimmen wie Sheinbaum auf sich vereinigen konnte. Aber auch innerhalb von MORENA gibt es zwei unterschiedliche Meinungen. Während die einen glauben, dass AMLO dem Problem nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt habe, meinen diejenigen, die sich schützend vor ihn stellen, dass der Präsident selbst einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, hätte er sich den gut bewaffneten Einheiten des organisierten Verbrechens entgegengestellt – genauso wie die ca. 30 Kandidat:innen verschiedener Parteien, die während des Wahlkampfs auf Anordnung des organisierten Verbrechens ermordet wurden. Und dann gibt es noch diejenigen, die behaupten, AMLO habe auf Druck der US-Regierung dieser Allianz mit der Armee zustimmen müssen, weil das für sie die einzige Garantie wäre, dass nicht noch mehr illegale Migrant:innen in die USA kommen. „What a beautiful wall!“ hatte Donald Trump einmal zynisch gesagt.

Aus diesem Grund hat die neue Präsidentin, die am 1. Oktober dieses Jahres ihr Amt antreten wird, angekündigt, sie werde gemeinsam mit AMLO eine grundlegende Reform der Justizbehörden verabschieden. Das würde eine Verfassungsreform bedingen, für die sie jetzt höchstwahrscheinlich über die notwendige qualifizierte Mehrheit im Senat und in der Nationalversammlung verfügen würde (laut Verlautbarung der offiziellen Wahlresultate durch das Instituto Nacional Electoral INE).

Zögerliche Solidarität in einem feindlichen geopolitischen Umfeld

Alle diese Doppelbödigkeiten, die, wie anfangs erwähnt (siehe u.a. auch Octavio Paz: „Laberinto de la Soledad“ – Labyrinth der Einsamkei“) das kulturelle Umfeld der mexikanischen Politik charakterisieren, kommen auch in der mexikanischen Außenpolitik zum Ausdruck. Dabei ist der oberste Grundsatz, den auch Claudia Sheinbaum vor und nach ihrer Wahl immer wieder zitierte, die „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder“, ein Grundsatz, der sich schon beim liberalen Reformer Benito Juárez (1806 bis 1872) wiederfindet. Dieser war und ist dem noch amtierenden Präsidenten in mehrfacher Hinsicht Vorbild: „El respeto al derecho ajeno es la Paz“ (Der Respekt vor dem Recht des anderen ist der Friede) ist dabei ein viel zitierter Ausspruch von ihm, der über dem Gebäude des berühmten Nationalen Anthropologiemuseums hängt.

Im Schatten des überdimensionalen Kopfes des großen liberalen Reformers Benito Juárez (1806 bis 1872); © Leo Gabriel

Diese Grundsätze der mexikanischen Außenpolitik dienen in erster Linie dazu, das Land vor etwaigen Übergriffen der USA zu schützen, hatte sich doch die aufsteigende Großmacht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ein Drittel des mexikanischen Territoriums einverleibt. Allerdings bleibt dabei die Frage offen, wie sich die mexikanische Regierung verhalten soll, wenn es zu massiven Verletzungen der Menschen- und Völkerrechte durch andere Staaten kommt. Das war und ist zum Beispiel beim gegenwärtigen Genozid im Gazastreifen der Fall. Die Regierung von López Obrador hat sich in diesen Fällen zunächst auf eine vermittelnde Position zurückgezogen, obwohl die überwiegende Mehrzahl der mexikanischen Bevölkerung eindeutig auf der Seite der Palästinenser steht. Erst Monate nachdem die Staatsanwaltschaft des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag entschieden hatte, der von Südafrika vorgebrachten Anklage stattzugeben, war das mexikanische Außenministerium kurz vor den Wahlen bereit, sich dieser Anklage anzuschließen.

Abschließend kann man sagen, dass die mexikanische Regierung eine vorsichtig solidarische Außenpolitik betreibt, insbesondere was Lateinamerika und die Karibik betrifft. So unterstützt sie zum Beispiel Kuba, ein Land, das sich derzeit in einer verzweifelten Situation befindet, massiv mit Erdöl- und Medikamentenlieferungen, wie Miguel Diaz, der mexikanische Botschafter in Havanna, berichtete. Wie nachhaltig sich das linksliberale Dreigestirn Lula da Silva (Brasilien), Gustavo Petro (Kolumbien) und jetzt Claudia Sheinbaum (Mexiko) trotz der zu erwartenden Widerstände aus den USA durchsetzen wird, wird die Zukunft weisen.

Dazu passt auch der Spruch, den jeder Mexikaner und jede Mexikanerin auswendig kann: „Armes Mexiko: so weit von Gott entfernt und so nahe bei den USA“.


Dr. Leo Gabriel, geb. am 27. Juli 1945, ist Journalist, Dokumentarfilmer und Sozialanthropologe; Mitgründer des Weltsozialforums, dessen Internationalem Rat er bis heute als Koordinator der internationalen Friedensbewegungen angehört; er hat von 1970 bis 1996 in Lateinamerika mit Sitz in Mexiko und Managua gelebt und war in Mexiko als Wahlbeobachter eingesetzt.