Venezuela: Kaum zu glauben

Von Pablo Stefanoni

Das Wahlergebnis in Venezuela weckt angesichts der Vorgänge bei der Auszählung der Stimmen und in den Monaten zuvor begründete Zweifel und stürzt das Land erneut in Unsicherheit. Weder die Opposition noch zahlreiche Regierungen weltweit erkennen die Proklamation von Nicolás Maduro zum Wahlsieger durch den Nationalen Wahlrat an und fordern die Veröffentlichung der detaillierten Wahlakten. Während die Niederschlagung der oppositionellen Proteste bisher zumindest elf Todesopfer gefordert hat und die Regierung von 2000 verhafteten Demonstrant:innen spricht, bemühen sich Nachbarländer – Brasilien, Kolumbien und Mexiko – um eine Verhandlungslösung. Hat die venezolanische Opposition einen Plan B?

Der chilenische Präsident Gabriel Boric fasste das weit verbreitete Gefühl zusammen, als die offiziellen Ergebnisse der venezolanischen Wahlen nach Auszählung von 80 Prozent der Stimmen bekannt gegeben wurden: „Kaum zu glauben“. Die Art und Weise, wie Elvis Amoroso, der Präsident des Nationalen Wahlrates, die Ergebnisse um Mitternacht präsentierte, verstärkte nur noch die Zweifel, die bereits durch den Wahlkampf und den Wahltag selbst entstanden waren, der von verschiedenen Arten von Zwischenfällen geprägt war.

Amoroso führte eine „Aggression gegen das Übertragungssystem“ an, um die Unterbrechungen beim Zusammenzählen der Daten zu rechtfertigen, und verlas dann das „erste Bulletin“, das „beim Stand von 80 % ausgezählten Wahllokalen und einer Wahlbeteiligung von 59 %“ einen „eindeutigen und unumkehrbaren Trend“ zugunsten der Regierungspartei aufweise. Nach diesen Ergebnissen hätte Nicolás Maduro 51,20 % und der Oppositionskandidat Edmundo González 44,2 % der Stimmen erhalten. Schließlich kündigte der Beamte eine Untersuchung „terroristischer Aktionen“ gegen das Wahlsystem an. Als ehemaliger Abgeordneter der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) und Vertreter des Hardliner-Flügels des Chavismo ist Amoroso nicht gerade jemand, der ein Bild der Unparteilichkeit in einem Rat vermittelt, in dem es der Opposition im Rahmen der vor den Wahlen getroffenen Vereinbarungen gelungen ist, zwei der fünf Mitglieder zu ernennen (die sich zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels noch nicht geäußert hatten, aber laut Amoroso die Erklärung Maduros zum Sieger des Prozesses unterzeichnet haben). Die Opposition fordert, die Protokolle überprüfen zu können.

Edmundo González kandidierte an Stelle von María Corina Machado, der eigentlichen Wortführerin der Opposition; © Federico Parra, AFP

 „Von Beginn unserer Berichterstattung über diesen Wahlkampf an wussten wir, dass der Tag der Präsidentschaftswahlen nicht das Ende sein würde, sondern den Ton für den Tag danach angeben würde“, schrieb der Journalist Raúl Stolk in der englischsprachigen Zeitung Caracas Chronicles. Und der Tag danach ist ein Vorgeschmack auf neue Krisen, die die relative Wiedereingliederung von Maduros Regierung in die „internationale Gemeinschaft“ zunichte machen könnten, nachdem 2019 etwa 50 Länder Juan Guaidó als amtierenden Präsidenten anerkannt hatten, was – angesichts mehrerer Korruptionsfälle in seiner Parallelverwaltung – zu einem starken Vertrauensverlust der Opposition geführt hat. Die Neupositionierung der Opposition ging von María Corina Machado aus, die von einer als zu extrem rechts angesehenen Person zu einer Führungsfigur wurde, die einen bedeutenden Teil der Bevölkerung für sich einnehmen konnte, selbst in traditionell Chávez-freundlichen Gebieten.

Diese Wahlen waren besonders komplex. Der Opposition, der Machados Popularität Auftrieb gab, gelang es, große Demonstrationen zugunsten der Kandidatur von Edmundo González zu organisieren. Der Diplomat wurde im Konsens gewählt, nachdem die Regierung Machado, die im Oktober 2023 die Vorwahlen der Opposition mit 90 % der Stimmen gewonnen hat, von der Kandidatur ausgeschlossen hatte. Anders als in Nicaragua, wo das Regime von Daniel Ortega einfach alle Oppositionellen, die für das Amt des Präsidenten kandidieren wollten, verhaftete und dann des Landes verwies, versuchte die Regierung in Venezuela, die Opposition auf kontrollierte Weise zu schwächen, indem sie Personen aus dem Umfeld Machados verhaftete, sie als populärste Kandidatin ausschloss, weil sie zu einer ausländischen Intervention in Venezuela aufgerufen hatte, und die Stimmabgabe im Ausland einschränkte, obwohl sich rund fünf Millionen Venezolaner:innen im Wahlalter außerhalb des Landes befinden.

Diese Wahlen waren auch das Ergebnis von Verhandlungen mit der Opposition und den Vereinigten Staaten, die eine Lockerung der Ölsanktionen beinhalteten. Venezuela lieferte auch in Caracas inhaftierte Amerikaner im Austausch gegen den Geschäftsmann Alex Saab aus, der als Strohmann für hochrangige chavistische Funktionäre gilt, als Held ins Land zurückgekehrt ist und in die oberen Ränge der Macht aufgenommen wurde. Die Lockerung der Sanktionen ermöglichte es Petróleos de Venezuela (PDVSA), sich um Geschäfte mit transnationalen Unternehmen zu bemühen.

Im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung der Vereinbarungen durch Venezuela kam es zu einem Tauziehen, aber die Situation kehrte nicht zum Stand vor den Verhandlungen zurück. Ein Teil der venezolanischen Bourgeoisie – heute eine Mischung aus alten und neuen Eliten – hat sich schon vor einiger Zeit der Regierung angenähert, insbesondere der mächtigen Vizepräsidentin Delcy Rodríguez, weil sie annahm, dass Maduro im Rahmen der relativen „Normalisierung“ der Wirtschaft der Garant für ihre Geschäfte sei.

Nach 25 Jahren Chavismus und mehr als einem Jahrzehnt Maduro an der Macht waren diese Wahlen in der Tat Teil der Bemühungen der Regierung zu zeigen, dass die Krise vorbei und in Venezuela „alles ganz normal“ sei. Geschäfte und Supermärkte voller importierter Produkte, neue schicke Restaurants in Caracas, neue Flüge nach Spanien und Portugal… die Mischung aus faktischer Dollarisierung und wirtschaftlicher Liberalisierung bewirkte Reichtum inmitten starker sozialer Ungleichheit, wobei große Teile der Bevölkerung von staatlicher Hilfe oder von verschiedenen legalen oder illegalen prekären Aktivitäten abhängig sind – was man in Venezuela „matar tigritos“ (kleine Tiger töten) nennt. Viele Maduro-freundliche Journalisten, die während der Wahlen nach Venezuela reisten, zeigten dieses prunkvolle Caracas, das nach den schlimmsten Jahren des Mangels, der Gewalt in den Städten und des sozialen Zusammenbruchs – auch dank einer Abnahme der Unsicherheit, die mit ziemlich brutalen Methoden erreicht wurde – eine Wiedergeburt des gesellschaftlichen Lebens erlebte, als Widerlegung der „Lügen“ über die Situation in Venezuela.

Machado, inzwischen unangefochtene Oppositionsführerin, war die erste, die sich zu Wort meldete und darauf hinwies, dass Venezuela „mit Edmundo González Urrutia einen neuen gewählten Präsidenten hat“ und dass die Wähler der Opposition einen „überwältigenden Sieg“ beschert haben. Ihren Angaben zufolge gewann González Urrutia mit 70 Prozent der Stimmen gegenüber Maduros 30 Prozent.

Maduro gab sich nach der Wahl als seines Sieges sicher, ist bisher jedoch die Belege dafür, dass er die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, schuldig geblieben. © Nueva Sociedad

Nach Jahren der Spaltung zwischen den Befürwortern einer Teilnahme an den Wahlen und jenen eines Wahlboykotts herrschte diesmal Einigkeit darüber, dass der Kampf in der Wahlarena ausgetragen werden sollte, da Maduro stark an Popularität verloren hat. Der „Barinas-Effekt“ – die Niederlage des Chavismo im „Land von Chávez“ bei den Regionalwahlen 2022 dank der Geschlossenheit und Beharrlichkeit der Opposition – trug dazu bei, Radikale wie Machado selbst davon zu überzeugen, dass es sinnvoll war, an der Wahlurne anzutreten und Aufstandsfantasien hinter sich zu lassen, die darauf abzielten, die Streitkräfte zu spalten, und die letztlich der Regierung zugute kamen, die ihre Gegner als „Putschisten“ zu beschuldigen pflegt.

María Corina stammt aus dem harten Flügel der Opposition und der Elite von Caracas und erwarb sich vor mehr als einem Jahrzehnt ein kämpferisches Image, als sie Hugo Chávez zu einer Debatte herausforderte und er ihr antwortete, sie solle erst die Vorwahlen der Opposition gewinnen, um der Aufgabe gewachsen zu sein, denn „Adler fangen keine Fliegen“. Die Anführerin von Vente Venezuela war eine der prominenten Figuren der Straßenproteste, die 2014 unter dem Namen „La Salida“ (Der Ausstieg) bekannt wurden, und gehörte zum härtesten Flügel der Opposition, der de facto von einer offiziellen Politik der Repression und Wahlmanipulation profitierte, die die Gemäßigten diskreditierte. Am Ende gewann Machado, wie von Chávez gefordert, die Vorwahlen. Und ihre Anziehungskraft war im Landesinneren Venezuelas, weit entfernt von der neuen wirtschaftlichen „Normalität“ in Caracas, besonders groß. María Corina gelang es, einen transideologischen Block mit gemäßigten Sektoren zu bilden, der sich für die Wiederherstellung eines institutionellen Rahmens einsetzt, in dem politische und soziale Streitigkeiten ausgetragen werden können. Dies gilt unter anderem für die Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung, der ehemalige Minister aus der Ära Hugo Chávez angehören, die sich vom „Madurismo“ distanziert haben.

Die Regierung versuchte im Vorfeld, das Wahlergebnis mit massiven Wahlkampfveranstaltungen zu legitimieren, die die Unterstützung des Volkes zeigen und an die „rot-roten“ Zeiten der Chávez-Ära erinnern sollten, als der bolivarische Prozess seine mangelhafte Regierungsführung mit einer gigantischen Dosis an epischen Erzählungen kompensierte. Doch die bürokratischen und bisweilen mafiösen Cliquen verdrängten schließlich die Energie des Volkes. Maduro selbst betonte die militärisch-polizeiliche Dimension des derzeitigen Regimes. „Wir sind eine militärische Macht, denn die Bolivarische Nationalarmee unterstützt mich, sie ist chavistisch, sie ist bolivarisch, sie ist revolutionär; wir sind eine Polizeimacht. Wir sind die perfekte zivil-militärisch-polizeiliche Union“, sagte er wenige Tage vor den Wahlen. Er sprach auch von einem „Blutbad“, sollte die Rechte an die Macht kommen.

Es ist schwer zu glauben, dass Maduro das Kommando auf „normale“ Weise übergeben wird, denn der Bolivarismus ist ein Geflecht aus Macht und Geschäften, an dem alte und neue Bourgeoisien und die Militärführung selbst beteiligt sind. Bei der so genannten PDVSA-Kryptoverschwörung, die eine Säuberung innerhalb des Chavismo auslöste, die zum Sturz des einst mächtigen Ölministers Tareck El Aissami führte, könnte das veruntreute Geld schätzungsweise 16 Milliarden Dollar erreichen. Mehr als 65 Beamte und Geschäftsleute wurden bei dieser bolivarischen „Perestroika“ verhaftet.

Der Diskurs des regierungstreuen linken Lagers, der davon ausgeht, dass man sich zwischen Maduro und María Corina Machado letztlich für den Erstgenannten entscheiden muss, weil die Opposition für die Abschaffung sozialer Rechte und die Preisgabe öffentlichen Eigentums (durch die Privatisierung von PDVSA) eintritt, neigt dazu, das Ausmaß der Ausplünderung und die Dynamik des „räuberischen Staates“ zu übersehen, in welche die Bolivarische Revolution abgedriftet ist. Wenn María Corina mit Javier Milei gleichgesetzt wird, soll damit ignoriert werden, dass die Regierung Maduro den Staat in der Praxis mit revolutionärer Rhetorik zerstört hat, während letzterer aufgrund seines delirierenden Paläoliberalismus darauf aus ist, ihn von innen zu zerstören. Sie hat den Zusammenbruch des Gesundheits- und Bildungswesens und den Absturz der Ölproduktion verursacht. In diesem Sinne ist der „Arbeiterpräsident“ Maduro nicht das Gegenteil von Milei, aber beide sind das Gegenteil eines von soliden demokratischen Institutionen getragenen Sozialstaates. Die Kommunistische Partei Venezuelas selbst beschuldigte Maduro, neoliberal und autoritär zu sein, und ihre Führung wurde, wie die anderer Parteien, vom Staat interveniert. Es war der Madurismus selbst, der die Linke in Venezuela diskreditiert hat.

Die Maduro-nahe oder Maduro rechtfertigende Linke – die alle Probleme auf die US-Sanktionen zurückführt – pflegt auch nicht zu bedenken, dass der venezolanische Fall als Schreckgespenst in der Region wirkte, zum Nachteil der Linken. Als einziges Land, das sich nach dem Fall der Berliner Mauer für sozialistisch erklärt hat, war der Fall Venezuela seit Mitte der 2010er Jahre ein großer Gewinn für die lateinamerikanische Rechte, in einer Region, die sich mit venezolanischen Einwanderern zu füllen begann, als Beweis für das Scheitern des „Sozialismus“, der so zum Synonym für wirtschaftliches Chaos und Menschenrechtsverletzungen wurde.

In den nächsten Tagen werden wir die Fortsetzung der Beleidigungsshow zwischen Maduro und Milei erleben. Maduro beschuldigte den argentinischen Staatschef, ein „sadistischer Soziopath“, ein „Nazi“ und ein „feiges, hässliches und dummes Ungeziefer“ zu sein, und Milei denunzierte ihn als „kommunistischen Diktator“, Förderer von „Elend, Dekadenz und Tod“. „Diktator, raus“, twitterte er… Die Kontroverse ist ein Gewinn für beide Seiten.

Heute richten sich alle Augen auf den brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Kurz vor der Wahl sagte er in einem Gespräch mit Journalisten, dass ihn Maduros Aussage über das Blutbad erschreckt habe und dass der venezolanische Präsident verstehen müsse, „wenn man verliert, geht man“. Maduro antwortete darauf, wer Angst habe, solle einen Kamillentee trinken. Lula da Silva schickte Celso Amorim, seinen außenpolitischen Berater, nach Caracas, um ihn von dort aus zu informieren. Maduro seinerseits wird mit der Unterstützung Chinas und Russlands darauf setzen, dass sich der Sturm legt und er de facto und de jure Präsident bleibt. Nach dem Scheitern der Guaidó-Strategie steht die Anerkennung von Edmundo González nicht auf der Speisekarte der „internationalen Gemeinschaft“1. Es bleibt abzuwarten, wie der Plan B der Opposition aussieht und in welche Richtung es in den Tagen nach den Wahlen gehen wird, in einem Land, in dem sich die Macht von der Entscheidung an der Wahlurne entfernt hat.

1 Allerdings haben in der Woche nach den Wahlen sowohl die USA als auch ein halbes Dutzend lateinamerikanische Länder González als Sieger der Wahlen anerkannt.

Der Autor ist Chefredakteur der Zeitschrift Nueva Sociedad; seinen Ende Juli auf nuso.org publizierten Beitrag haben wir – unter Verwendung von deepl.com – aus dem Spanischen übersetzt.