„Der Krieg in Kolumbien ist unsere Tragödie“

Interview mit José Miguel Gamboa


Mit der Wahl von Gustavo Petro zum ersten linken Präsidenten Kolumbiens im Juni 2022 waren enorme Hoffnungen auf einen Ausweg aus Gewalt und Bürgerkrieg verbunden, die das Land Jahrzehnte hindurch geprägt hatten. Doch der „totale Friede“, den er sich auf die Fahnen geschrieben hatte, ist bisher ausgeblieben. Auch mit seinem ehrgeizigen sozial-ökologischen Reformprogramm konnte sich Petro großteils nicht durchsetzen. Dabei neigt sich seine Amtszeit dem Ende zu und eine Wiederwahl 2026 ist nicht möglich.

Einen viel längeren Zeithorizont haben soziale Bewegungen wie die progressive Bauernorganisation ANUC, die seit Anfang der 1970er Jahre eine wichtige Rolle in Kolumbien spielt. Emil Engels traf den langjährigen politischen Berater der ANUC, den Politikwissenschaftler José Miguel Gamboa, Ende Dezember in Cali. Sie sprachen über die Gründe für sein über 30 Jahre langes politisches Exil in Österreich, über die Rolle der Bauern und Bäuerinnen in der politischen Landschaft Kolumbiens und seine Zwischenbilanz von Petros Amtszeit.

Du musstest 1983 aufgrund deines politischen Aktivismus aus Kolumbien flüchten und ins Exil nach Österreich gehen. Wieso genau musstest du flüchten, wie war die Situation damals in Kolumbien?

Damals waren Menschenrechtsverletzungen sehr verbreitet in Kolumbien und es gab viele Arten davon. Ermordung war eine, Folter eine andere. Es gab auch falsche Anschuldigungen. Das war bei mir und meinen Freunden der Fall. Wir arbeiteten hauptsächlich mit der Bauernbewegung, aber wir nahmen auch an Wahlen teil und ich wurde zum Kongress gewählt, in einer Allianz mit Luis Carlos Galán. Er war ein Reformist, sozial-liberal, und er schätzte die Bauernbewegung sehr. Der linke Flügel dieser Bauernbewegung, unsere ANUC-Organisation, meinte, dass man mit Galán zusammenarbeiten könne.

Er hatte damals eine Bewegung mit dem Namen Nuevo Liberalismo, musste aber immer erklären, warum Nuevo Liberalismo nicht Neoliberalismus ist, sondern wirtschaftspolitisch in eine andere Richtung geht. Denn Galán war ein Gefolgsmann von Carlos Lleras Restrepo (Präsident von Kolumbien 1966-70, Anm.). Lleras Restrepo war ein Protektionist. Er hat den Pacto Andino gefordert und durchgesetzt.

Was war im Pacto Andino enthalten?

Eine gemeinsame Industrialisierungspolitik für sieben Länder Südamerikas, was nebenbei gesagt zu viele waren. In dem Raum waren die Zölle niedriger und gegenseitige Investitionen wurden gefördert. Den großen Firmen aus dem Ausland, die in den Andenländern investiert hatten, wurde gesagt: Ihr müsst mindestens 51 Prozent verkaufen, mit dem anderen Teil, 49 Prozent, könnt ihr an den Vorteilen dieses gemeinsamen Raumes teilhaben. Das war das Angebot für die ausländischen Investoren, die das ignoriert haben.

Ein anderer Punkt war, dass die Andenstaaten das Recht haben, die Naturressourcen zu enteignen oder zu nationalisieren. Damals, nicht mit Chávez, gelangten die Rechte am venezolanischen Öl mehrheitlich in die Hände des venezolanischen Staates. Die Nationalisierung des Öls in Venezuela ist also schon alt.

Diese wirtschaftlichen Reformen waren theoretisch am Programm der CEPAL (ECLA – Economic Commission for Latin America, Anm.) orientiert. CEPAL war eine Wirtschaftsschule in Lateinamerika, die protektionistisch ausgerichtet war. Sie war sehr kritisch gegenüber der US-Wirtschaftspolitik. Sie wollte sich zwar nicht gegen den Imperialismus als Ganzes stellen, hat aber punktuell immer wieder Kritik geäußert. Dadurch, dass CEPAL eine Abteilung der Vereinten Nationen in Lateinamerika ist, hat sie einen gewissen Status, tritt aber mittlerweile deutlich gemäßigter auf.

Lleras Restrepo war ein sozial orientierter Liberaler. Seine Partei hat in der Vergangenheit in Kolumbien eine progressive Rolle gespielt. Die anderen waren konservativ und sehr eng mit der katholischen Kirche und mit den Großgrundbesitzern verbunden. Als dieser liberale Flügel in Kolumbien großen Widerstand gegen seine geplante Agrarreform vorfand, gründete Lleras Restrepo eine Bauernorganisation: die Asociación Nacional de Usuarios Campesinos, ANUC.

54 Jahre nach ihrer Gründung setzt sich die ANUC nach wie vor für die Interessen der bäuerlichen Bevölkerung Kolumbiens ein.

Usuario, heißt das so etwas Ähnliches wie Konsument? Also quasi die ländlichen Konsument:innen?

Ja. Wenn du aber ein Konsument eines staatlichen Service bist, hast du das Recht, an der Junta Directiva (Leitung, Anm.) teilzunehmen. Die Bauernorganisationen konnten Vertreter in die Einrichtungen für Kredite, für die Agrarreform, für technische Hilfe, für den Agrarhandel und andere entsenden. Das war großartig.

Lleras Restrepo hat diese Politik verfolgt und seine Regierungsperiode beendet, aber danach kam eine Wende. Innerhalb seiner liberalen Partei wurden die Stimmen der Neoliberalen laut: Wir können uns mit dem Pacto Andino nicht zum Tibet von Südamerika machen. Stattdessen müssen wir das Japan von Südamerika sein und uns wirtschaftlich öffnen. Diese Wende war gegen die Agrarreform, gegen die Bauernorganisationen und so weiter. Dazu kam die Machtübernahme von Pinochet. Dessen erstes Dekret war, aus dem Andenpakt auszutreten. Und damit begann in den 70er Jahren in ganz Südamerika eine neoliberale Wende.

Was war der Inhalt der Agrarreform? Ging es um die großflächige Rückverteilung von Land?

Das Gesetz war nicht so radikal, nur einzelne Instrumente waren radikal. Eines davon war zum Beispiel die Möglichkeit der Enteignung, mit rechtlicher Deckung. Aber nicht alles Land wurde deshalb enteignet. Es war punktuell. Es ging also nur langsam vonstatten, weil das in jedem Einzelfall ein juristischer Prozess war. Nach der reformistischen Regierung war die Sache noch schwieriger und 1971 und 72 entstand deshalb eine bedeutende Bewegung, bei der die Bauern begannen, Land zu besetzen.

Als die Regierung diese Besetzungen mit voller Härte bekämpfte, sagten einige: „Wir brauchen eine Vertretung in den politischen Organen.“ Teile der Linken antworteten, Wahlen seien sowieso Betrug und man sollte deshalb nicht daran teilnehmen. Das war ein fatales Erbe von Camilo Torres (katholischer Priester, der in die prokubanische Guerilla ELN eintrat; Anm.). Bei vielen Menschen gab es die Illusion, die Guerilla könnte eine Alternative sein. Zugleich wurde gegen die Reformisten gekämpft, es wurden Schimpfwörter wie „Electoreros“ benutzt. Dadurch hat sich die Bauernbewegung gespalten.

Wir waren dafür, an Wahlen teilzunehmen. Zuerst bildeten wir mit linken Gruppierungen Koalitionen. Danach mit diesem reformistischen Flügel der Liberalen und gewannen auf regionaler Ebene einige Ämter und einen Platz im Kongress. Leider wurde dann eine prominente Dame entführt, wobei die Täter absichtlich Indizien gegen uns hinterlassen haben. Die Reaktion darauf war heftig: „Das sind diese linken Gruppierungen, die Galán unterstützt. Doktor Galán, schauen Sie, mit welchen Leuten Sie zusammenarbeiten.“ Der Justizminister (auch ein Reformliberaler) verteidigte uns bei Debatten im Kongress, wurde dafür massiv attackiert und später ermordet. Mafiosi wie Pablo Escobar und Carlos Lehder haben Galán und uns attackiert, um bei der Armee und in korrupten politischen Kreisen  Sympathie zu gewinnen.

Aufgrund dieser Anschuldigungen wurden einige Freunde und Freundinnen unserer Gruppe inhaftiert und gefoltert. Einige richterliche Entscheidungen fielen auch zu unseren Gunsten aus und manche konnten das Gefängnis kurzfristig wieder verlassen. Der Prozess ging jedoch weiter und so entschieden wir, mit Hilfe von Solidaritätsgruppen und Amnesty International das Land zu verlassen und Asyl zu suchen. Einige erhielten Asyl in Frankreich, andere in Österreich, wie in meinem Fall, und wieder andere in Schweden.

Nach drei Jahrzehnten im Exil in Österreich lebt ANUC-Berater Miguel Gamboa inzwischen wieder in Cali.

Kreisky war da gerade weg, aber der Justizminister und der besondere Stellenwert der Menschenrechte standen noch eindeutig unter dem Einfluss von Kreiskys Politik. So landete ich also in Österreich, und danach wurden diese rechtlichen Anschuldigungen immer schwächer, bis sie 17 Jahre später zugeben mussten, rechtlich nichts gegen uns in der Hand zu haben.

Also erst im Jahr 2000 gab derOberste Gerichtshof zu, dass es nie Beweise für die Anschuldigungen gab, und ließ die Anklagen fallen?

Ja, aber sie sagten nicht, wer schuld war an diesen Anschuldigungen. Dabei waren es offensichtlich die Militärs. Dann sind wir zum ersten Mal zurück nach Kolumbien gekommen, nur zu Besuch. Und schließlichist einer nach dem anderen zurückgekehrt. Ein paar blieben für immer im Ausland, aber kommen ab und zu. Unser Fall wurde von der Comisión de la Verdad (Wahrheitskommission; Anm.) aufgenommen, wie jener der vielen politisch verfolgten Anhänger der UP.

UP war die Unión Patriótica, die linke kolumbianische Partei der 90er Jahre?

Ja, die verloren viele Leute hier, fast 6.000 wurden ermordet. Und dann sind Tausende ins Ausland geflüchtet. Die Wahrheitskommission Kolumbiens hat in Bezug auf die Asylfrage diese zwei Fälle behandelt.

Du bist dann erst 2019 endgültig zurückgekommen, wieso nicht schon früher?

Rechtlich gesehen war es möglich zurückzukommen, aber politisch war es während der ersten Regierungszeit von Uribe (rechter kolumbianischer Präsident Anfang der 2000er; Anm.), und da erregte er nur Angst. Danach kam Santos und das Vertrauen wuchs. Er hat sogar Verhandlungen mit der FARC begonnen. In der Zeit von Uribe kam ich ein paar Mal zu Besuch, aber nur eine Woche, 14 Tage, ein Monat, nicht lange. Danach mit Santos konnte ich schon monatweise an politischen Aktivitäten arbeiten. Im Ausland war das immer möglich, ich habe mit Menschenrechtsorganisationen oder mit linken Gruppierungen gearbeitet. Aber unter Santos war es schon möglich im Land, sich für Petro einzusetzen. Es war eine neue Atmosphäre. Und mit Petro gab es dann noch mehr Freiheiten.

ANUC gibt es ja immer noch. Wie konnte sich diese Organisation über diese ganze Zeit halten? Wie gestaltet sich die Arbeit von ANUC heute?

Einige Teile von ANUC passten sich immer wieder an die jeweiligen Regierungen an. Andere änderten die Strategie. Keine Landbesetzungen mehr, denn die brachten nichts, außer Bauern ins Gefängnis. Besser, es in andere Richtungen zu versuchen: die Menschenrechtslage anprangern, Kredite für die Kleinbauern zu verlangen und so weiter. Aber der kritische Teil bildet jetzt langsam wieder die Mehrheit in den regionalen Organisationen. So waren in der Zeit von Santos alle für das Friedensabkommen. Danach, in der Zeit der ersten Kandidatur von Petro 2018, wurde er unterstützt. Auch 2022 unterstützten fast alle Petro. Das ist die Lage. Heute ist ANUC noch mehr verbreitet. Sie ist inzwischen 54 Jahre alt.

Einige Freunde der Regierung versuchten auch, eine eigene Bauernorganisation zu bilden. Das funktionierte in einigen Punkten, aber für eine erfolgreiche Agrarpolitik brauchst du als Regierung eine größere Organisation wie ANUC. Zum Beispiel Agrarhandel ohne private Zwischenhändler. Das ist durch eine Zusammenarbeit von Regierung und Bauernorganisation möglich. Und das kann man in 23 Departements nur mit einer Organisation entwickeln, die in diesen Departements vertreten ist. Dadurch hat ANUC jetzt sehr viel zu tun. Sie bekommt auch Land für die Verteilung an die Bauern. Andere Organisationen bekommen auch Land, aber für den Agrarhandel und für die Informationskampagne zu den Kreditangeboten der Regierung ist ANUC die wichtigste.

Das sind also Kredite, die die Regierung direkt an Kleinbauern vergibt?

Über die Banco Agrario. Und es gibt noch andere Maßnahmen für Bauern. Damit diese davon erfahren, arbeitet die Regierung mit ANUC zusammen.

Ein anderer Punkt ist folgender: Wer kann an öffentlichen Einrichtungen wie Armee, Polizei, Gefängnisse Lebensmittel oder das Mittagessen für die Schulen liefern? Es gibt eine Menge von öffentlichen Einrichtungen, die Lebensmittel durch Zwischenhändler kaufen. Der Plan ist es, durch die Zusammenarbeit der Regierung mit ANUC diese Lebensmittel jetzt direkt von den Bauern zu kaufen (compras públicas).

Das ist wirklich neu. Und wenn das erfolgreich wird, wäre es eine sehr wichtige Wende in Kolumbien. In Kolumbien stellt die Macht der Zwischenhändler nämlich ein großes Problem für die Einkommen der Bauern dar. Durch diese Maßnahme wird diese Macht zumindest teilweise gebrochen und die soziale sowie politische Stärke der Bauern wird deutlich.

Ich habe einige Leute, Taxifahrer, Wirte nach ihrer Meinung zur politischen Lage in Kolumbien gefragt. Viele finden Petros Ideen sehr gut, aber haben das Gefühl, dass er kaum Taten folgen lässt. Oft habe ich gehört: „Er redet viel, aber er macht nichts.“ Woran liegt es, dass manche Menschen dieses Gefühl haben?

Auch wenn viele seiner Reformprojekte von der konservativen Mehrheit im Kongress blockiert worden sind, genießt Gustavo Petro unter der Bevölkerung nach wie vor große Unterstützung – und hofft, einige Reformvorhaben durch eine Volksabstimmung doch noch umsetzen zu können. © Nueva Sociedad

Ich glaube, das hat viel damit zu tun, dass Petro viele verschiedene Themen angesprochen hat. Und man weiß nie, was als nächstes kommt. Einige sagen, es wäre besser, sich auf drei, vier Punkte zu konzentrieren und weniger von anderen Dingen zu reden. Und die schwierigen Punkte gut zu erklären, zum Beispiel die Energietransition. Das ist eine heikle Frage, denn früher gab es Perioden mit Elektrizität nur für einige Tage oder für einige Stunden am Tag, weil die Infrastruktur nicht ausgereicht hat. Das blieb den Leuten in Erinnerung. Sie sagen: „Er will kein Gas, kein Erdöl, wie soll das gehen?“ Die größten Exporteinnahmen von Kolumbien kommen von Öl und Kohle, und die will Petro einfach so beenden? Aber die Politik ist richtig, eine Transition. Aber dann braucht man mehr Erklärungen der konkreten Ausgestaltung dieser Transition, nicht der ideologischen Fundierung dieser Politik.

Wie kommt man weg von den fossilen Energieträgern? Wie macht man sich unabhängig?

Die Energie aus Wasserkraft ist wichtig in Kolumbien und die Solar-Energie ist in Entwicklung. Bei der Windenergie gibt es einige Probleme. Die beste Region dafür ist La Guajira (Wüsten- und Küstenregion im Nordosten Kolumbiens, Anm.). Aber die Indigenen von La Guajira haben das Recht zu sagen: „Ja, wir akzeptieren das hier, oder auch nicht. Wir akzeptieren die Windparks 100 m entfernt vom Strand oder 500 m oder einen Kilometer, oder eben gar nicht.“ Und manche Projekte haben sie nicht akzeptiert. Einige Firmen haben ihre Investitionen deshalb schon wieder abgezogen.

Es ist also schwer, die Energietransition durchzuziehen und gleichzeitig die Rechte der indigenen Bevölkerung zu wahren?

Man muss mehr mit den Indigenen reden. Es gibt auch Radikale (Degrowth-Anhänger; Anm.), die sagen, wir brauchen kein Wachstum. Wozu diese neuen Energiequellen? Sie versuchen die Indigenen davon zu überzeugen, dass es besser ist, hart zu bleiben.

Ansonsten hat die Regierung Petro viel Gutes gebracht, z.B. billige Eintrittsmöglichkeiten in die Universitäten. Aber heute sind die Universitäten nicht mehr so attraktiv wie früher. Außerdem verteidigt Petro die liberalen Rechte der Menschen, die Frauenrechte, die Pressefreiheit, die politischen Rechte. Man kann nicht sagen, dass es staatliche Repression gibt.

Kommen wir zu den Medien, die Petro gegenüber ja sehr kritisch sind. Wieso ist das so?

Die Medien helfen nicht. Manchmal wegen der Eigentümer, zum Beispiel Gabriel Gilinski. Er ist der Eigentümer der Wochenzeitung Semana. Sie ist radikal in der Opposition und die Gilinski-Gruppe ist sehr mächtig. Sie besitzt die Mehrheitsanteile an Nutresa, einem Imperium der Nahrungsmittelindustrie, das stark in Kakao und einigen Getreidesorten vertreten ist. Die Regierung ermöglichte Nutresa, direkt von den Bauern zu kaufen. Dadurch wurden einige der mächtigen Zwischenhändler verdrängt. Einerseits arbeitet die Gilinskigruppe also mit Petro dort zusammen, wo sie sich Vorteile erhofft. Auf der anderen Seite unterstützt sie die Opposition mit ihrer Zeitung Semana.

Vicky Dávila, die bis November 2024 Direktorin von Semana war, ist jetzt eine Kandidatin des rechten Flügels. Generell sind die wichtigsten Nachrichtenmedien von der Opposition besetzt und wir haben dem keine starke Gruppe von Journalisten entgegenzusetzen. In den sozialen Netzen gibt es viel Stimmungmache gegen die Oligarchie und so weiter, aber wirkliche Analysen gibt es nicht genügend.
 
Also in den sozialen Medien gibt es schon auch Gegenkampagnen von linker Seite?

Das meiste sind Parolen für die Anhänger:innen. Es geht nicht darum, wie man zum Beispiel diesen Taxifahrer, der sagt: „Petro ist gut, aber macht nichts“, ansprechen kann. Außerdem reagiert Petro manchmal falsch. Er antwortet zwar mit Argumenten auf Kritik, aber man sieht, dass er auch emotional reagiert. Und man wundert sich, wieso er so viel auf Twitter, oder X ist. Er tweetet mehrmals täglich. Das ist zu viel für einen Präsidenten, da kann man Fehler machen. Einige Minister sprechen weniger. Und wenn sie sprechen, versuchen sie, Leute zu überzeugen. Das geht also, einige machen das.

Ich glaube, die Mehrheit seiner Minister sind gute und fähige Leute. Petro selbst ist sehr belesen und hat ein unglaubliches Analysevermögen. Wenn er ruhig redet, ist er brillant. Aber wenn spontane Reaktionen kommen, macht er Fehler.

Welche Rolle spielt diese lange Geschichte des bewaffneten Konflikts für die Menschen in Kolumbien? Wie tief sitzt das in jedem Kopf?

Außer für kleine Gruppen, die an eine bessere Zukunft glauben, wenn die ELN den Krieg gewinnt, ist für die Mehrheit in Kolumbien der Krieg unsere Tragödie. Wir haben in diesem Land so lange Jahre mit diesem bewaffneten Konflikt gelebt. Die Glaubwürdigkeit der Guerilla und ihrer politischen Parolen ist weg. Die Leute verstehen nicht, warum sie gegen Petro kämpfen.

Die ELN sagt, mit Petro könne sie keinen Frieden erreichen, das gehe weiter in die nächste Regierung. Das ist für die Mehrheit in Kolumbien unverständlich. Denn mit Petro haben die Guerilleros Garantien. Für die Rechte ist Petro ein Freund der Guerilla. Er wolle diese Leute nicht bestrafen, sondern ihnen alles ermöglichen.

Die (2017 nach einem langen Friedensprozess aufgelöste; Anm.) FARC wurde seitens der Regierung gut behandelt. Sie haben eine eigene Kurie im Kongress, haben Unterstützung. Es stimmt, dass viele ermordet wurden, aber nicht von dieser Regierung, und sie wissen das. Aber die Guerilla hat viel Geld und hat damit eine andere Zeitperspektive. Sie hat keine Eile. Kokain bringt viel Geld, wie auch die Goldminen unter ihrer Kontrolle. Das ist ein großes Problem für uns. In Mexiko gibt es auch Gewalt und bewaffnete Gruppen, aber sie posieren nicht als linke Gruppen.

Die ganze linke Bewegung wird dadurch in ein schlechtes Licht gerückt?

Ja, die einfachen Leute glauben das. Die rechten Kräfte in Kolumbien sind nicht in der Minderheit. Die extreme Rechte schon, aber es gibt eine rechtsorientierte öffentliche Meinung. Und wir machen uns Sorgen, was 2026 bei den nächsten landesweiten Wahlen geschehen wird.

Kommen wir zum Friedensprozess, den Petro voranbringen will, nachdem ihn Präsident Duque boykottiert hat. Er ist natürlich nicht der erste Präsident, der versprochen hat, dem Land endlich Frieden zu bringen. Was unterscheidet seinen Zugang von jenen vor ihm?

Präsident Santos hat sich viel Zeit genommen. Er hat den Friedensprozess während seiner ersten Amtszeit vorbereitet, aber ohne viel darüber zu reden. In der zweiten Amtszeit wurde das unterschrieben.

Leider kam dann Duque und war dagegen. Er hat nicht versucht, das rechtlich zu annullieren,  hat aber einfach nichts gemacht. Petro hat den Plan dann wieder aufgenommen, unter anderem die Programme für die Substitution der Kokapflanze in den Anbaugebieten. Er versucht, die Lage der Ex-Guerilleros zu verbessern und auch mit Dissidenten und anderen Gruppen zu verhandeln. Aber deren Antwort ist oft nicht die beste.

Er bemüht sich also um einen nachhaltigen Frieden.

Ja, das ist ein Teil der Friedenspolitik, aber einfach ist das nicht. Eine bewaffnete Gruppe wird nicht einfach Frieden schließen, weil die Bauern ein Ersatzprodukt bekommen. Sie sagen: „Die Bauern sind unsere soziale Basis, aber was ist mit uns? Mit uns bewaffneten Menschen? Welche Garantien haben wir?“

Oder du verhandelst mit einer Gruppe von Hunderten, aber einige wollen weiterkämpfen und weiter mit Koka handeln. Außerdem kommen jetzt viele Vertreter mexikanischer und sogar europäischer Mafiosi-Gruppen und bieten Geld und Waffen. Das ist eine neue Situation in Kolumbien. Früher waren die großen Mafiosi Kolumbianer, aber jetzt gibt es die mexikanische und europäische Präsenz. Sie übernehmen alte Strukturen und bauen neue, weil sie Erfahrung haben, wie man die Drogen dann in die USA oder nach Europa bringt und sie dort verkauft.

Die Friedensverhandlungen mit der Guerillabewegung ELN sind bisher gescheitert.

Und die ELN hat eine föderale Struktur. Wenn du etwas bei Verhandlungen in Santander erreichst, bedeutet das nicht, dass du das auch in Nariño erreichst. Die könnten sagen, wir müssen unsere eigene Analyse machen.

Ich wollte noch einmal auf diesen Petrismo eingehen, weil mich das an den Uribismo der 2000er erinnert hat, obwohl das natürlich gegensätzliche Ideologien sind. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen ihnen?

Es sind zwei Pole, die sich gegenseitig bekämpfen. Uribe ist ein Caudillo der rechten und extrem rechten Kräfte und ein intelligenter Politiker. Petro hat auch jahrelang als Caudillo gehandelt, ohne eine eigene Partei, sondern in Bewegungen. Müssen wir Petro unterstützen, weil er uns in einer Partei gesammelt hat? Nein, sondern der Diskurs war gut. Seine Handlungen waren gut, seine Haltung im Kongress war gut.

Und er war innerhalb des Polo Democrático (Zusammenschluss zweier linker Parteien; Anm.), und da waren wir auch. Es wurde immer kritisiert, dass er nicht organisch sei. Aber er hat rechtzeitig den direkten Zugang zum Volk gefunden und diesen genutzt. Uribe hat das damals in Antioquia, Medellín auch gemacht.

Doch in der Tradition von Petro waren keine Parteien dabei. In den letzten Jahren musste er wegen des kolumbianischen Rechts eine Partei organisieren lassen, für den Kongress und für die Nominierung von Kandidat:innen.

Nach den Wahlen 2018 gab es einen Namen, Colombia Humana. In Koalition mit anderen linken Gruppen wurde dann der Pacto Histórico gebildet. Da sind vier große und acht kleine Parteien dabei, mit Colombia Humana als stärkste Gruppe davon. Aber bekommst du mehr als 15 % der Stimmen, darfst du nach kolumbianischem Recht nicht weiter als Koalition arbeiten, sondern nur noch als Partei.

Ist es schwierig eine kohärente ideologische Linie zu haben, wenn so viele Gruppen zusammenkommen?

Nein, denn wir haben jetzt mit dem Pacto Histórico ein Programm, ein altes, linkes, demokratisches Programm. Neue Probleme kommen durch konkrete Themen wie Venezuela. Welche Haltung haben wir Maduro gegenüber? Ist Putin ein Freund der Linken? Oder sind die europäischen Linken, die gegen Putin sind, Pseudo-Linke? Da ist auch viel Chauvinismus, Links-Chauvinismus dabei. Lateinamerika, wir sind die Linken der Welt.

Welche Entwicklungen siehst du in Kolumbien, die dir Hoffnung geben, nicht nur für die nächste Regierungsperiode ab 2026, sondern auch für danach?

Ich glaube, Kolumbien geht in Richtung demokratischer Reformen. Es ist vielleicht eine neue politische Kultur entstanden. Das kann man nicht kategorisch sagen, aber diese regionale Politik, die von den traditionellen regionalen Kräften dominiert ist, wird schwächer. Es stabilisiert sich ein Teil der Arbeiterbewegung mit Gewerkschaften. Das sind nicht immer Arbeiter, das können auch Beamte sein, Professoren und so weiter.

Diese Bewegung hat schon viel Erfahrung, ist viele Jahre organisiert. Und das bleibt so. Und ich glaube, in der Bauernbewegung werden neue Gruppen, organisierte Gruppen entstehen, mit mehr politischer und wirtschaftlicher Macht.

Die Mittelschichten werden mehr technologisches Know-How produzieren und ich denke, dieser technologische Flügel wird in der Partei der Linken  wichtig werden. Bisher ist er nur mit einer neoliberalen Wende verbunden. Aber gerade mit Petro hat man erkannt, dass technologische Fähigkeiten für ein Projekt der Linken notwendig sind, etwa für die wissenschaftliche Entwicklung. Wie können wir die Energietransition voranbringen? Nur indem wir Technologie aus China oder aus Deutschland kaufen? Oder braucht man hier eigene Lösungen? Es gibt einige Probleme, die sehr lokal sind und eine spezielle Technologie brauchen. Ich finde, dass die Universitäten sich in diese Richtung bewegen.

Die Lehrpläne oder die studentischen Bewegungen betreffend?

Auf beiden Ebenen. Die Studentenbewegung hat sich seit einigen Jahren stark aktivistisch engagiert. Aber man sieht immer mehr Studenten und Studentinnen auch in technologischen, wissenschaftlichen Fragen engagiert. Das könnte eine links-orientierte Technopolitik hervorbringen. Das ist möglich in Kolumbien.

Emil Engels ist Student der Internationalen Entwicklung in Wien.