lateinamerika anders Nr. 1 * Mrz. 2018

editorial

Gern wird in Zusammenhang mit der konservativen Wende in Latein amerika von einer Pendelbewegung gesprochen. Nach mehr als einem Jahrzehnt linker Hegemonie schlage das Pendel eben wieder nach rechts aus. Das Bild stimmt nicht ganz. Die Geschichte ist kein linearer Prozess und folgt auch nicht der Bewegungskurve des Pendels. Es wäre aber auch zu einfach, die progressiven Regierungen als historischen Unfall abzutun, wie die politische Rechte es darstellt, um einen legitimen Anspruch auf die Staatsführung zu behaupten. Wir beobachten aber, dass die linken Regierungen fast durchwegs konservative Wirtschaftspolitik betreiben, um die notwendige Umverteilung zu finanzieren. Die Strukturen werden nicht angetastet. Die Rechte verliert also bestenfalls die politische Macht, nicht aber die wirtschaftliche. Und Venezuela, wo am meisten strukturell eingegriffen wurde, dient heute der Rechten als willkommenes Zerrbild des Sozialismus: autoritär, gewalttätig und mit langen Schlangen vor leeren Geschäften.

Die progressiven Präsidenten haben es nicht geschafft, jene Bewegungen, die sie an die Macht gespült haben, in ihre Regierung einzubinden. Von Brasilien über Ecuador bis Bolivien haben sich Indigenenorganisationen, Landlose, Frauenbewegungen und Bauernverbände von den Hoffnungsträgern abgewandt. Und sie wollen jetzt eine größere Rolle spielen, egal ob noch „ihr“ Präsident regiert, wie in Bolivien, die Reaktion gesiegt hat, wie in Brasilien, oder ein Machtwechsel innerhalb der Regierungspartei einen politischen Schwenk bringt, wie in Ecuador. Sie werden in der Regel von einer längerfristigen Perspektive beseelt als Parteien, die in den konjunkturellen Kategorien von Wahlperioden denken. Diesen Bewegungen, die schon auf Jahrzehnte lange Tradition verweisen können oder gerade erst im Entstehen sind, ist der Schwerpunkt dieser Ausgabe gewidmet.

Daneben möchte ich besonders auf die sehr detaillierte Schilderung der Hintergründe zur Begnadigung des ehemaligen peruanischen Diktatorts Alberto Fujimori von Ulrike Lunacek und auf die Streitschrift Gerhard Drekonja-Kornats zur Rehabilitierung des österreichisch-kolumbianischen Ethnologen Gerardo Reichel-Dolmatoff hinweisen.

Ralf Leonhard