editorial
Wohl selten hat eine Ausgabe von lateinamerika anders die gesamte Bandbreite der widersprüchlichen Entwicklungen, die sich derzeit in ganz Lateinamerika zeigen, reflektiert wie diese hier. Das hängt nicht nur mit den sieben Wahlprozessen zusammen, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung auf dem Kontinent betreffen und denen der Schwerpunkt dieses Heftes gewidmet ist; sondern es hat vor allem damit zu tun, dass die Auseinandersetzung zwischen den Regierungen und den realen Mächten besonders akut geworden ist.
Was das Wahlpanorama betrifft, gibt es einerseits den Schlagabtausch zwischen der fortschrittlichen Linken und der orthodoxen Rechten in den bevölkerungsreichen Ländern wie Brasilien, Kolumbien, Venezuela und Mexiko, andererseits aber auch die (neo)konservativen Strömungen, die sich in El Salvador, Costa-Rica und Paraguay bemerkbar machen. Dazwischen liegen die Krisen in Peru und Nicaragua, wo bis vor kurzem noch unangefochtene Regierungen von der Rechten beziehungsweise von der Linken unter Druck geraten sind.
Das alles hat dazu geführt, dass unter den Intellektuellen auf dem gesamten Kontinent (u.a. auch beim Weltsozialforum in Salvador de Bahía) hochpolitische Grundsatzdiskussionen darüber ausgebrochen sind, ob die von den linken Regierungen versuchte „Wende von oben“ überhaupt noch gangbar ist, oder zuerst die dringend notwendigen Rahmenbedingungen von unten geschaffen werden müssten, um das kapitalistische, neoliberale System zu verändern. Dass für letzteres schwerwiegende Kämpfe an vielen Fronten bevorstehen, zeigen die Beispiele der Giftmischer in Brasilien und des Ethnotourismus in Peru.
Völlig unscheinbar wirken hingegen Ereignisse wie der Generationenwechsel an der Führungsspitze in Kuba oder die Ankündigung der Vereinten Nationen eines Paradigmenwechsels in der auch in Lateinamerika akut gewordenen Migrationsproblematik, Themen, denen wir in den nächsten Ausgaben besonderen Platz einräumen werden.
Leo Gabriel