Freiheit und Verbannung
Von Ralf Leonhard
Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Am 9. Februar um 5 Uhr Früh wurden über 220 politische Gefangene aus ihren Zellen in Nicaraguas Hauptstadt Managua und anderen Gefängnissen geholt. Mit Bussen transportierte man sie zum Militärflughafen und verfrachtete sie in eine Chartermaschine, die wenige Stunden später in Washington landete.
Noch bevor die Oppositionellen in den USA eintrafen, trat die von Machthaber Daniel Ortega gegängelte Nationalversammlung zusammen, entzog mit 89 von 91 Stimmen den Freigelassenen auf Lebenszeit die politischen Rechte und sprach ihnen die Staatsangehörigkeit ab. Die gesetzliche Grundlage in Gestalt einer Verfassungsänderung, die es erlaubt „Vaterlandsverrätern“ die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wurde nachgereicht. „Parlament deportiert 222 Vaterlandsverräter“ titelte die Online-Nachrichtenwebsite des Regimes El 19 digital.
Unter den Befreiten finden sich ehemalige Weggefährten Daniel Ortegas aus dem Guerillakampf der 1970er Jahre und der Revolutionsdekade wie Dora María Téllez und Víctor Hugo Tinoco, Oppositionelle wie Suyén Barahona und Tamara Dávila von der linksliberalen Partei Unamos, Unternehmer, Geistliche, Universitätsprofessoren, Bauernführer, Presseleute und Vertreter des eher rechten politischen Spektrums. Auch die aussichtsreichste Präsidentschaftskandidatin Cristiana Chamorro wurde aus dem Hausarrest entlassen und abgeschoben. Bischof Rolando Álvarez, der seit August im Hausarrest interniert war lehnte den Deal Freiheit gegen Exil ab und weigerte sich, das Flugzeug zu besteigen. Seine für die folgende Woche angesetzte Verhandlung wurde darauf vorverlegt. Schon am 10. Februar verurteilte ihn ein Schnellgericht zu 26 Jahren und vier Monaten Haft. Das Privileg des Hausarrests ist damit hinfällig. Appelle des Papstes, das ungerechte Urteil zurückzunehmen, verhallten ungehört.
Lange Haftstrafen für einen Tweet
Die meisten Gewissensgefangenen wurden vor mehr als anderthalb Jahren, wenige Monate vor den Wahlen vom November 2021, festgenommen. Verurteilt wurden sie nach eigens geschaffenen Gesetzen voller Gummiparagraphen, nach denen man für die Teilnahme an einer Demonstration oder einen kritischen Tweet wegen Vaterlandsverrat oder „Schädigung der staatlichen Souveränität“ zu mehr als zehnjährigen Haftstrafen verurteilt werden kann.
Viele von ihnen waren während der Haft permanenter Folter ausgesetzt: durch Einzelhaft in finsteren oder grell erleuchteten Zellen, willkürlichen Verhören mitten in der Nacht, schlechte Ernährung und Verweigerung medizinischer Behandlung. General Hugo Torres, der einst Daniel Ortega aus dem Gefängnis befreit hatte, starb vor einem Jahr an den Folgen der Misshandlungen. Fast alle waren blass und wirkten stark abgemagert.
Weder die Appelle von Amnesty International oder der Vereinigung von Angehörigen der politischen Gefangenen, noch Vermittlungsversuche lateinamerikanischer Präsidenten hatten Ortega und seine zwielichtige Ehefrau und Vizepräsidentin Rosario Murillo zum Erfüllen der minimalen humanitären Bedingungen bewegen können. Letzten Endes dürfte es ein Deal mit den USA gewesen sein, der die Befreiung erwirkte obwohl die Regierung Joe Bidens laut New York Times dem Kongress gegenüber von einer „einseitigen Entscheidung“ Managuas gesprochen hat.
Medizinische und psychologische Hilfe in den USA
Die USA haben mehr als 40 hochrangige Funktionäre und Mitglieder der nicaraguanischen Präsidentenfamilie mit Sanktionen belegt. Deren Aufhebung, so gab man Ortega zu verstehen, hänge vom Verhalten seiner Regierung ab. Die bisher größte Gefangenenbefreiung, die die USA bisher erwirkt haben, könnte als erster Schritt zur Normalisierung der Beziehungen verstanden werden.
Laut New York Times schickte Washington das Flugzeug und stellte 224 Visa aus. Die USA offerieren auch medizinische und psychologische Betreuung sowie die Übernahme der Lebenshaltungskosten für die Opfer des Regimes, die zunächst in einem Hotel in Washington untergebracht wurden und zunächst zwei Jahre bleiben dürfen. Die Abgeschobenen wollen ihre Ausbürgerung juristisch bekämpfen. Und die NGO Urnas Abiertas wies darauf hin, dass die Verbannung zu den international definierten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt.
Kuriosität am Rande: Dora María Téllez, inzwischen eine anerkannte Historikerin, war vor 18 Jahren für eine einsemestrige Vorlesung über Religion und Gesellschaft nach Harvard geladen. Die USA verweigerten ihr aber wegen „terroristischer Aktivitäten“ – nämlich ihrer Teilnahme am Befreiungskampf – damals das Visum.