Havanna zwischen Hoffnung und Gewalt

Von Robert Lessmann

Leonardo Padura: Anständige Leute
Unionsverlag, Zürich, 2024, 400 Seiten, € 26.00 (D), € 26,80 (A)

Es hat etwas gedauert, bis die deutsche Übersetzung erschienen ist. Schon bei Leonardo Paduras Wienbesuch im letzten Jahr war viel von „Personas decentes“ die Rede. Von zwei Kriminalfällen würde der Roman handeln und von zwei Hoffnungsmomenten. Havanna sei letztlich die Hauptperson.

In der Tat ist es wohl der kriminalistischste von Paduras Kriminalromanen, dessen Bücher darüber hinaus als die besten soziologischen Studien über seine Heimat Kuba gelten, wo es unabhängige soziologische Studien ja nicht gibt. Von der ersten Seite an wird man unentrinnbar in den Strudel der beiden Geschichten hineingezogen. Der Detektiv Mario Conde hilft seinen früheren Polizeikollegen bei der Aufklärung von zwei grausamen Morden, weil diese gerade alle Hände voll mit dem Besuch des US-Präsidenten Barack Obama und der Rolling Stones zu tun haben. Wir schreiben das Jahr 2016. Parallel dazu erzählt der Polizist Teniente Arturo Saborit von Prostituiertenmorden in Havanna von 1909/10, das nach der Unabhängigkeit von 1902 boomt und wo nichts unmöglich scheint.

Interessant sind dabei die Parallelen der Hintergrundkulissen, die Padura mit großem historischem und soziologischem Wissen aufbaut. Hier atemberaubende Gegensätze zwischen Arm und Reich und ein Sumpf von Korruption und Intrigen, wo Zuhälterclans nach Belieben schalten und walten, bis sie um die Vorherrschaft kämpfen. Im Rampenlicht der Erzählung steht hier der schillernde Zuhälter Alberto Yarini, eine reale Person. Dort zwei Mordopfer, die vor einem halben Jahrhundert, im sogenannten quinquenio gris (dem grauen Jahrfünft) für die schlimmste Willkür, für Spitzeltum und Repression gegen unangepasste Künstler verantwortlich waren – und die nebenbei in Kunstraub und Hehlerei verstrickt sind.

Der „Erzpessimist“ Mario Conde lässt sich von der Öffnungseuphorie nicht anstecken. Schon ganz zu Anfang des Buches erinnert er sich, wie in seiner Jugend heißbegehrte Raubkopien illegaler, „subversiver“ Musik in Umlauf waren: „A hard days night“ – 1964 war das. Wieso sollte er heute, als „alter Knacker“ beim Besuch der Stones euphorisch werden? Der Autor dieser Rezension forschte vor dreißig Jahren zu den Wirtschaftsreformen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks („Empresas mixtas en Cuba“, 1994) und warnte auch angesichts der Halbherzigkeit ihrer Umsetzung vor Rechtsunsicherheit und der „Gefahr einer Generalisierung des Illegalen“, später vor einem entstehenden „Untergrundkapitalismus“. Heute ist dieser  der Wachstumssektor in einer Wirtschaft, die ansonsten von Stillstand geprägt ist und von Depression in den Köpfen der Menschen. Seit 2021 sollen eine halbe Million Menschen die Insel verlassen haben. Überwiegend junge, gebildete. Ein gewaltiger Verlust in einer Elfmillionen-Gesellschaft mit sehr niedriger Geburtenrate.

 In der Bar, in der Mario Conde während des Booms von 2016 als Aufpasser arbeitet, spendiert er einem Polizeikollegen ein Bier, das soviel kostet wie der in zwei Tagen nicht verdient. Der Laden floriert nicht zuletzt, weil regelmäßig ein „großer Unbekannter“ mit seiner Entourage dort verkehrt, der ihn protegiert. Anspielung oder Fiktion? Noch zur Zeit Fidel Castros kursierten Gerüchte, wonach ein bestimmter paladar (privat geführtes Restaurant)  regelmäßig von einem prominenten Politiker besucht würde. Dort wurden auch Meeresfrüchte serviert, die eigentlich für paladares damals strikt tabu waren. Jener prominente Politiker wurde später Präsident. Etwa zur selben Zeit sprach der Rezensent mit einer jungen Frau, der man die Lizenz für ihren paladar entzogen hatte, weil sie zu Tagen der Hochkonjunktur (Exportmesse Expokuba) eine Nachbarin gebeten hatte, beim Putzen zu helfen. Die Mutter von zwei Kindern verdiente ihr Geld nunmehr als Gelegenheitsprostituierte. Die Parallelen zwischen Condes „großem Unbekannten“ und meinem prominenten Politiker mögen fiktiv sein. Verzweiflung und Depression der Menschen sind angesichts der wirtschaftlichen Dauerkrise sehr real. Leonardo Padura lässt sie spürbar werden ohne dass seine Protagonisten die Liebe zu ihrer Heimat verlieren.

Conde „drehte sich um. Ein grandioser Impala Cabriolet, Baujahr 1958, rollte langsam über die Avenida. Auf der Rückbank und den Türen saßen drei Frauen und zwei Männer, ausgestattet mit Strohhüten und Bierdosen, und brachten in voller Lautstärke ihre Begeisterung über die Spazierfahrt zum Ausdruck, die der Chauffeur ihnen ermöglichte. An der durch die Tropensonne bereits geröteten hellen Haut wie auch an ihrer Kleidung und dem betrunkenen Gegröle waren sie mühelos zu erkennen: es handelte sich um US-amerikanische Touristen, schließlich kehrten die Gringos jetzt auf die Insel zurück, um sich mit eigenen Augen einen Eindruck davon zu verschaffen, wie die Bewohner dieses realsozialistischen Themenparks ihren Alltag organisierten. Es war derselbe Ort, wo die Großeltern dieser Touristen einst dem Spaß an Rum, Musik und Sex gefrönt hatten, in den zahllosen Kabaretts, Kasinos, Bars und Bordellen dieser offenen, dem Laster verfallenen Stadt. (…) Jetzt waren sie also wieder da, und ihre Dollars waren mehr wert denn je.“ (S. 89)