Milei und die zynische Verherrlichung der Freiheit

Von Sebastián Enricci

Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen, die über die Zukunft Argentiniens entscheiden werden, hat sich der Wahlkampf auf die sozialen Netzwerke und die Medien konzentriert. Dort geht Javier Milei mit seinen libertären Vorstellungen bei der Jugend und den vulnerabelsten Bevölkerungsschichten auf Stimmenfang. Er hat gute Aussichten auf den Wahlsieg, mit schwerwiegenden Folgen für Argentiniens Zukunft.

Seine Ideen präsentiert Milei in Videos ohne ernsthafte Inhalte oder konkrete Vorschläge, die die Lebensqualität der Gesellschaft wirklich verbessern könnten – eine Gesellschaft, untragbar zu verschulden, und die durch die Wirtschaftspolitik und die schlechten Verhandlungen der Regierung von Alberto Fernández ihre Kaufkrdie bereits genug gelitten hat unter den Folgen von Mauricio Macris Entscheidung, das Land aft immer weiter verliert.

Unerwarteter Sieger bei den Vorwahlen

Die Worte, mit denen der libertäre Kandidat seine Siegesrede nach den offenen, simultanen und obligatorischen Vorwahlen (PASO) vom 13. August, bei denen er 30 % der Stimmen für sich gewinnen konnte, beendete, klingen immer noch nach: „Wir sind gekommen, um den Kirchnerismus endgültig zu begraben“, sagte er und fügte hinzu: „Wir stehen vor , ein Recht geboren wird‘, dessen größte Abweichung ’soziale Gerechtigkeit‘ genannt wird.“ Diese Worte sprach er vor einem sichtlich bewegten Publikum, das vdem Ende des Modells, das auf der Ungeheuerlichkeit beruht, dass ‚wo ein Bedürfnis entstehton seinem Sieg überrascht war. Dem Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Guillermo Moreno zufolge verweist Milei auf eine sich abzeichnende soziale Revolution, die in der peronistischen Bewegung einen Feind sieht, der aus dem Weg geräumt werden muss.

Javier Milei und Victoria Villarruel; © Enrique García Medina

Die Aggressivität in seiner Rede drückt die Wut, den Zorn und den Hass aus, die die Persönlichkeit eines entmenschlichten Mannes zeichnen, der behauptet, ein „Löwe“ zu sein. Dieser wurde inmitten von Medienkämpfen und einem Wettbewerb um hohe Einschaltquoten zwischen den Fernsehsendern geboren, die sich nun von der Figur distanzieren, die sie mit geschaffen haben. Problematisch ist auch der Umgang der regierungsnahen Medien, die auf den „neoliberalen Vorschlag“ von Milei oberflächlich mit einer falschen Kategorisierung des ideologischen Rahmens und des Handelns des libertären Führers reagieren. Sie definieren ihn als rechten Kandidaten, der den Staat schrumpfen will. In Wirklichkeit ist er ein Anarcho-Kapitalist, der per Definition das Privateigentum, nicht aber den Staat verteidigt. Dies hat zur Folge, dass zur Verteidigung des Eigentums auch gewaltsame Mittel eingesetzt werden dürften.

Anarcho-Kapitalismus und Gefährdung sozialer Rechte

Der selbsternannte „Löwe“ präsentiert keine konkreten Vorschläge für die Schaffung von Wohlstand, die Umverteilung von Einkommen oder dafür, wie man die Menschen glücklicher machen kann. Vielmehr verkörpert er das Modell des „Deserteurstaates“: ohne eigene Währung, unter einem neuen politischen Paradigma, bei dem die Mächtigsten ohne einen Gesetzeswächter die Entwicklungsmöglichkeiten nicht nur der allgemeinen Bevölkerung, sondern eines/r jeden Bürger:in untergraben können. Dies wird zum Verlust von Arbeitsrechten führen und den Zugang zu öffentlicher Bildung, kostenloser Gesundheitsversorgung, Sicherheit und angemessenem Wohnraum massiv einschränken, um nur einige Aspekte zu nennen. Zudem könnte sogar die Diskussion über die argentinische Souveränität über die Falklandinseln gefährdet werden.

Der Gewinner der PASO-Wahl (https://www.npla.de/thema/politik-gesellschaft/vorwahlen-in-argentinien-ein-politisches-erdbeben/) schlägt nicht nur extreme Sparmaßnahmen vor, um die verhängnisvollen Schulden beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zu begleichen, sondern konfrontiert die Gesellschaft auch mit dem moralischen Dilemma, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vergessen, die während der letzten zivil-militärischen Diktatur durch die Hand eines Leugners begangen wurden. Mileis Vize-Kandidatin, die nationale Abgeordnete Victoria Villarruel, ist auch eine Leugnerin dieser Verbrechen und darüber hinaus entschiedene Verfechterin des Gebrauchs und des Tragens von Schusswaffen. Des Weiteren unterstützt sie die Repression gegen friedliche Straßenproteste und stellt sich hinter die zwielichtigen Gestalten, die während der Militärdiktatur über 30.000 Menschen gefoltert, ermordet und verschwinden lassen haben, indem sie das altbekannte Argument der Theorie der zwei Dämonen anführt. [Die Theorie der zwei Dämonen, Spanisch: Teoría de los dos demonios, ist ein rhetorisches Mittel, das im argentinischen politischen Diskurs verwendet wird, um Argumente zu disqualifizieren, die gewaltsame politische Subversion mit illegalen repressiven Aktivitäten des Staates moralisch gleichsetzen.]

Private versus staatliche Macht

Javier Milei und seine Löwenherde rezitieren ihre Definition von Freiheit wie ein Glaubensbekenntnis. Der Freiheitsbegriff wird darin mit Libertarismus verwechselt und wird wie folgt definiert: „Freiheit ist die uneingeschränkte Achtung des Lebensentwurfs anderer, basierend auf dem Grundsatz der Nichtangriffsfähigkeit sowie der Verteidigung des Rechts auf Leben, Freiheit und Eigentum, dessen Institutionen das Privateigentum, die von staatlichen Eingriffen freien Märkte, der freie Wettbewerb, verstanden als freier Ein- und Austritt, die Arbeitsteilung und die soziale Zusammenarbeit sind“. Der libertäre Milei verherrlicht den Eigenwert der Freiheit in unangemessener und abscheulicher Weise und verbirgt in ihr ein Verbrechen gegen das Land Argentinien und seine Gesellschaft. Die Freiheit ist ein universelles Recht, für das viele Menschen im Laufe der Geschichte und in vielen Teilen der Welt ihr Leben gelassen haben. Heute sind die Worte von José Martí aktueller denn je: „Rechte nimmt man sich, man bittet nicht darum; man erringt sie, man bettelt nicht darum“. Sollte der anarcho-kapitalistische Kandidat bald zum Präsidenten gewählt werden, wird die Rohheit dieser Worte die Gesellschaft unweigerlich in einen Zustand politischer Gewalt stürzen – so wie ihn Argentinien bereits erlebt hat, jedoch nie in Zeiten der Demokratie.

Diesbezüglich schrieb Perón in La comunidad organizada (1949): „Freiheit und Verantwortung sind wie Ursache und Wirkung, in der es eine Daseinsfreude gibt, die auf der Überzeugung der eigenen Würde beruht; eine Gemeinschaft, in der der Einzelne wirklich etwas zum Allgemeinwohl beizutragen hat, etwas hinzuzufügen und nicht nur seine stumme und ängstliche Präsenz“.


Den am 18. September von der argeninischen Agencia Paco Urondo erstveröffentlichten Beitrag (https://www.agenciapacourondo.com.ar/opinion/
milei-y-la-exaltacion-cinica-de-la-libertad) haben wir von der Seite npla.de in deutscher Fassung übernommen. Er ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international.