Interview von Leo Gabriel mit dem mexikanischen Priester Alejandro Solalinde
Der heute 79-jährige Vorkämpfer für die Rechte der Migrant:innen ist nach einer Jahrzehnte dauernden Auseinandersetzung mit dem mexikanischen Establishment in einen Konflikt eingetreten, den er als „Krieg der Reichsten gegen die Ärmsten“ bezeichnet. Bereits in den 1970er Jahren hat er sich für die Millionen von mexikanischen Arbeiter:innen eingesetzt, die unter teilweise lebensbedrohlichen Umständen durch den Grenzfluss Río Bravo geschwommen sind, um in die USA zu gelangen.
Dabei war er selbst mehreren Mordanschlägen von Großgrundbesitzern und deren mafiösen Banden nur knapp entgangen. Aber auch der erzkonservativen katholischen Kirchenhierarchie war er wegen seiner kritischen Haltung stets ein Dorn im Auge, was ihm regelrechte Verleumdungskampagnen eintrug. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil in den USA gründete er unter dem Namen Hermanos en el Camino ein Schutzhaus für Migrant:innen in Ixtepec, Oaxaca, in dem auch viele Flüchtlinge aus Zentralamerika für einige Tage (manchmal auch Wochen) Unterschlupf finden konnten. Dieses Haus bildete den Ausgangspunkt für ein ganzes Netzwerk von Refugien, die an der Grenze von Mexiko zu den USA von Ordensgeistlichen verschiedener Provenienz errichtet wurden.
Als 2018 der linksliberale Andrés Manuel López Obrador zum Präsidenten Mexikos gewählt wurde, zählte Solalinde, der nie ein öffentliches Amt bekleidet hat, zu den engsten Vertrauten des Präsidenten. Aber auch international fand seine Arbeit große Anerkennung. Im Jahr 2020 kam er sogar in die engere Auswahl für den Friedensnobelpreis.

Padre Solalinde, wie fühlen Sie sich in diesen schwierigen Zeiten? Ist das, was derzeit mit den Migrant:innen passiert, eine neue Situation, oder hat es das immer schon gegeben, nur dass die Weltöffentlichkeit heute mehr davon mitbekommt?
Die Repression und den Rassismus gegen die Migrantinnen und Migranten und den damit verbundenen Druck der USA auf Mexiko hat es in den letzten Jahrzehnten immer schon gegeben. Neu ist allerdings, dass es jetzt einen richtigen Krieg gibt, einen Krieg, den die reichsten Millionäre gegen die Ärmsten führen; denn die Ärmsten der Armen sind nun einmal die Migrantinnen und Migranten.
Mit welchen Methoden führen sie diesen Krieg?
Trump setzt jetzt sogar die US-Armee ein, um die Grenzen von Guatemala und Mexiko zu blockieren. Dabei kümmert es ihn wenig, dass das zum Nachteil der US-Konzerne, der sogenannten Maquiladoras, geschieht. Ihn interessiert nur die Show, die Propaganda, die er damit verbindet.
Aber erreicht er damit sein Ziel die Grenze total zu schließen?
Total wahrscheinlich nicht, aber zu 90 Prozent. Bereits jetzt hat er erreicht, dass sich der Flüchtlingsstrom um 80 Prozent reduziert hat. Die anderen 20 Prozent bleiben an der Grenze hängen oder verlieren sich irgendwo in Mexiko.
Die Migrant:innen haben also verstanden, dass es nicht geht?
Die Mehrheit von ihnen hat verstanden, dass das nicht geht. Aber nur etwa zehn Prozent gehen an die Orte zurück, woher sie gekommen sind. Die anderen bleiben in Mexiko und wissen nicht, was sie tun sollen. Viele hoffen auf ein Wunder, dass es irgendwann wieder möglich sein wird, in die USA zu gelangen. In der Zwischenzeit suchen sie sich irgendeine Arbeit in Mexiko, wo sie die Regierung teilweise unterstützt.
Auch in deiner Albergue, die du in Oaxaca für die Migrant:innen aufgebaut hast?
Weniger. Viele gehen in den Norden, wo jetzt sogenannte „Entwicklungspole“ eingerichtet wurden, wo sie zwar nicht so viel verdienen wie in den USA, aber immerhin doppelt so viel, wie sie normalerweise in Mexiko verdienen. Das sind Zehntausende, die allein in Tijuana arbeiten, wo es viele Maquiladoras gibt.
Das ist wahrscheinlich nur provisorisch, solange sie auf ihre Visa warten, die jetzt nicht mehr ausgestellt werden. Aber was ist die Lösung, wenn das nicht mehr geht? In ihre Heimatorte zurückkehren oder in Mexiko bleiben?
Es ist auf alle Fälle besser, wenn sie in Mexiko bleiben. Hier gibt es Schulen für die Kinder, Spitäler für die Kranken und eine wenn auch kleine Pension für die Alten.

Und was machen Sie, damit die Migrantinnen und Migranten das einsehen und in Mexiko bleiben?
Das ist nicht leicht. Denn es ist, als ob sie einen „chip“ im Kopf hätten, der sie in den Norden zieht. Ich verstehe ja, dass sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten haben, wegen der Lebensumstände und der tagtäglichen Gewalt, der sie ausgesetzt waren. Aber sie verstehen oft nicht, was sie in den USA erwartet, selbst dann, wenn sie es unter dem Einsatz ihres Lebens schaffen, den Rio Bravo zu überqueren. Dort gibt es nämlich inzwischen eine richtige Hexenjagd auf die sogenannten „Ilegalen“.
Haben Sie den Eindruck, dass die Migrant:innen Ihnen mehr glauben als der Regierung, weil Sie Priester sind?
Sie haben großen Respekt vor mir, aber ich habe den Eindruck, dass sie die USA mehr lieben als den lieben Gott. Aber das ändert sich jetzt eben.
Glauben Sie, dass es wegen der Probleme mit der Migration zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, ja sogar zu einem Krieg kommen könnte?
Das glaube ich nicht. Unsere Präsidentin Claudia Sheinbaum hat sich seit ihrem Amtsantritt sehr klug verhalten. Sie hat akzeptiert, dass die mexikanische Nationalgarde die Grenze bewacht, als Trump seine Soldaten zur „Grenzsicherung“ auf mexikanisches Territorium schicken wollte.
Aber es geht um mehr; es handelt sich um die Auseinandersetzung von zwei unterschiedlichen Systemen: zwischen einem gefräßigen Kapitalismus und einem humanitären Kapitalismus. Mexiko hat ein tief verwurzeltes plurikulturelles Erbe, das den Armen einen religiösen und gesetzlichen Rückhalt gibt. Der selbstsüchtige Stil von Trump wird vorübergehen, aber die menschenverachtende Oligarchie wird bleiben.
Mexiko hat keine Angst vor der Masse von Migrantinnen und Migranten, die noch kommen werden. Sollte es notwendig sein, könnten wir ganz Zentralamerika aufnehmen. Hier gibt es Platz für alle!
Dr. Leo Gabriel ist Journalist, Filmemacher und Sozialanthropologe, international anerkannter Lateinamerikaexperte und Mitglied des Internationalen Rates des Weltsozialforums.