Von Jürgen Schübelin
Vacuna, das ist das spanische Wort für Impfung. In der Liste der Vereinten Nationen mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, die sich die Weltgemeinschaft bis 2030 setzte, spielen Schutzimpfungen für alle Kinder eine zentrale, lebensrettende Rolle. Sie sollen Kindersterblichkeit reduzieren und die Ausbreitung gefährlicher Krankheiten spürbar eindämmen. In den Armenvierteln ecuadorianischer Städte verursacht die Ankündigung von vacunas hingegen bei Kindern und Erwachsenen geradezu Panik: „Wenn die Männer nachts gegen die Türen hämmern, müssen wir Kinder uns ganz schnell hinten im Haus verstecken“, berichtet die achtjährige Mia. Die schwerbewaffneten Besucher kommen einmal in der Woche, um ihre vacunas, wie sie selbst mit entlarvendem Zynismus die Schutzgeldzahlungen an sich nennen, zu kassieren. In den dichtbevölkerten Armenvierteln des Sektors Isla Trinitaria an den Ufern der Brackwasserarme des Río Guayas im Südwesten von Ecuadors größter Stadt Guayaquil beträgt der „Familien-Tarif“ für das wöchentliche Zwangsgeld zwei US-Dollar. Eine eigene Landeswährung gibt es in Ecuador seit 2000 nicht mehr. Wer einen kleinen Kiosk oder eine Reparaturwerkstatt betreibt, wer davon lebt, selbst zubereitete Süßigkeiten, Kuchen oder kleine Mahlzeiten zu verkaufen, muss deutlich mehr bezahlen.
Entziehen können sich die Menschen den brutalen Erpressungen durch Gangsterkartelle wie Los Tiguerones (die Tiger), Los Lobos (die Wölfe) oder Ecuadors mächtigstes kriminelles Syndikat Los Choneros (benannt nach der Stadt Chone in der Provinz Manabí) nicht: „Wer nicht bezahlen kann, hat im Grunde nur zwei Optionen“, erklärt der Sozialwissenschaftler Mauricio Bonifaz: „entweder eines seiner Kinder von einer der Gangs rekrutieren zu lassen und so zu einem kleinen Rädchen dieser unheimlichen Maschinerie zu werden – oder aber alles aufzugeben und mit der ganzen Familie bei Nacht und Nebel aus dem Viertel zu fliehen“.
Die, die bleiben und sich auf die vacunas-Zahlungen einlassen, haben trotzdem keinerlei Garantie, nicht doch Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden oder in ständiger Angst zu leben – so wie die 4.000 Kinder aus dem Sektor Socio Vivienda II, die dort in die größte Schule dieses Armenviertels von Guayaquil gehen. Als es Mitte des Jahres bei einem Schusswechsel zwischen zwei rivalisierenden Gangs unmittelbar vor der Schule Tote und Verletzte gab, entschieden die Lehrer, alle Kinder – noch während des Feuergefechts – nach Hause zu schicken und sich selbst in Sicherheit zu bringen. „Unfassbar! Aber diese Episode belegt“, so Bonifaz, „welche Dimension der Kontrollverlust von Institutionen in den Armenvierteln der großen Städte inzwischen erreicht hat.“
Dazu passt auch, was ein Offizier der ecuadorianischen Nationalpolizei vor einigen Wochen in einem Presseinterview einräumte: „Wenn ein Notfallanruf eingeht und von Schüssen die Rede ist, fahren wir in die andere Richtung, möglichst weit weg von dem Ort, an dem gekämpft wird.“ Inzwischen wurde die örtliche Polizeistation komplett aufgegeben und auch der Gesundheitsposten musste schließen, nachdem das Personal immer wieder selbst Opfer von Angriffen wurde.
Spitzenplatz in der Gewaltstatistik
Für den brutalen Absturz Ecuadors, das von seiner Fläche her dreimal und von der Einwohnerzahl mit 18 Millionen Menschen doppelt so groß ist wie Österreich und das noch vor einem Jahrzehnt innerhalb Lateinamerikas als relativ sicheres Land galt, steht exemplarisch vor allem eine Zahl: 44,5! So viele Menschen starben 2023 als Opfer von Gewaltverbrechen – umgerechnet auf 100.000 Einwohner, in absoluten Zahlen also über 8.000 Tote. 2017 lag dieser Indikator noch bei 5,81. Ecuador übertrifft bei den vorsätzlichen Tötungsdelikten inzwischen Honduras, Venezuela, Kolumbien oder Mexiko – und führt damit die Länderstatistik der Morde in Lateinamerika an. Zur Einordnung: 2022 betrug dieser Vergleichswert in Österreich 0,88.
Wie konnte es zu einer derartigen Entwicklung kommen? Für alle, die sich sozialwissenschaftlich mit dem Andenland, seiner Politik und Gesellschaft beschäftigen, gibt es nur eine Erklärung: Der Staat und seine Institutionen haben vor der Macht und dem Terror der Drogenkartelle kapituliert. Und nicht nur das: Viele der politisch Verantwortlichen wechselten die Seiten, ließen sich kaufen. Mauricio Bonifaz, der das Kindernothilfebüro in Ecuador leitet, sagt dazu lakonisch: „Wir haben inzwischen den Überblick verloren, wie viele Fälle massivster Korruption in Regierung, Verwaltung, Polizei und Justiz in den zurückliegenden Jahren bekannt wurden. Dabei ist das sicher nur die Spitze des Eisbergs!“
Bonifaz, der die Unterwanderung von Politik, Justiz und Gesellschaft seit langem mit wachsender Sorge beobachtet, sieht den Kipppunkt für diese Entwicklung in einem Wechsel des operativen Geschäftsmodells der Drogenkartelle, die Ecuador seit den siebziger Jahren als Transitland für ihre Kokainexporte nach Europa und Nordamerika benutzen. Produziert werden die Drogen in Kolumbien und Peru. Über die ecuadorianischen Häfen an der Pazifikküste – Guayaquil, Manta, Puerto Bolívar und Esmeraldas – führen die Routen zu den Konsumenten. Jahrelang wurden alle Beteiligten an diesem Geschäft – Spediteure, Hafen- und Zollpersonal, Helfershelfer und Informanten in der Polizei, bei Staatsanwaltschaften und Gerichten sowie Abgeordnete und Komplizen innerhalb des Regierungsapparats – in US-Dollars bezahlt. Doch nach und nach begannen verschärfte internationale Kontrollen der globalen Geldflüsse zu wirken. „Also stellten die Kartelle die Bezahlung einfach auf Naturalien, sprich Drogen, um“, erklärt Bonifaz. „Dafür musste aus einem Transitland ein Konsumentenland mit der entsprechenden Nachfrage werden.“ Interpol hat errechnet, dass zu den 800 jährlich durch Ecuador geschleusten Tonnen Kokain inzwischen 80 Tonnen kommen, die im Land selbst konsumiert werden – und für die ein Markt geschaffen werden musste.
„Heute schätzen wir“, so Mauricio Bonifaz, „dass an diesem System, das mit seinen Kapillaren bis in die abgelegensten Dörfer an den Steilhängen des Chimborazo oder in das Amazonas-Tiefland reicht, über 50.000 vor allem junge Männer beteiligt sind, aber auch Kinder und Jugendliche, die als Kuriere, Informantinnen und Informanten eingesetzt werden.“ Sie alle gehören einer der ecuadorianischen Gangs an, die untereinander – aber oft auch in Allianzen mit den ganz großen internationalen Playern in diesem Geschäft, den Kartellen von Sinaloa und Jalisco Nueva Generación (Mexiko), Norte del Valle und dem FARC-Ableger Oliver Sinisterra (Kolumbien) oder dem Tren de Aragua (Venezuela) – bis an die Zähne bewaffnet um Macht, Territorien und Marktanteile kämpfen. Längst geht es dabei nicht mehr nur um Drogen und ihre Vermarktung, sondern auch um andere kriminelle Geschäftsfelder wie Entführungen zur Lösegelderpressung, Auftragsmorde, Menschenhandel und eben das flächendeckende Eintreiben von vacunas.
„Neulich, in den frühen Morgenstunden, direkt vor unserem Haus, haben sie einen Menschen erschossen“, schildert die 12jährige Shirley aus Guayaquil diesen neuen Alltag. „Wir wurden von den Schüssen wach. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Vater versuchte, mich zu beruhigen und sagte mir, dass ich mich ganz ruhig auf den Boden legen sollte und auf keinen Fall aus dem Fenster schauen dürfe.“ Andere Kinder berichten davon, wie sie immer wieder im Bus auf dem Weg zur Schule ausgeraubt, ihnen das bisschen Kleingeld, das sie bei sich tragen, Turnschuhe oder das Handy gestohlen wird – und mit welcher Brutalität die oft nur wenige Jahre älteren Täter aus den Gangs sie dabei misshandeln.
Folgen der Gewalt für Kinder
Wie einschneidend dieses Klima von Angst und das Gefühl des schutzlos ausgeliefert Seins den Alltag von Kindern und Jugendlichen in Ecuador verändern, haben drei christliche Entwicklungs- und Kinderrechtswerke – Child Fund, Kindernothilfe und World Vision Ecuador – in einer großangelegten empirischen Studie untersucht. Für ihre jetzt vorgestellte Kinderrechtsanalyse Ecuador: niñez y adolescencia en 360° führten sie Hunderte von Interviews mit Mädchen und Jungen aus dem ganzen Land, von der Pazifikküste über die Andenregion bis in das Amazonasbecken. Der Befund ist über weite Teile niederschmetternd: „Kinder fühlen sich mit ihrer Angst und ihren traumatischen Gewalterlebnissen ganz oft allein und von denen, die sie eigentlich beschützen sollten, vollkommen im Stich gelassen“, erklärt Mauricio Bonifaz, einer der drei Koordinatoren dieses Forschungsprojektes.
Was diese Erfahrungen mit Kindern und jungen Menschen machen, ähnelt frappierend denen der Corona-Zeit: Vor allem in den Armenvierteln der großen Städte trauen sich Kinder kaum noch aus dem Haus. Spielen auf der Straße, sich mit Freundinnen und Freunden treffen wird genauso zum Risiko wie der Weg zur Schule und zurück. Das Gefühl des eingeschlossen Seins, so belegt es die empirische Studie, kratzt am Selbstbewusstsein der Kinder, nimmt ihnen Unbefangenheit und reduziert ihre Sozialkontakte dramatisch. Und – auch das gehört zu diesem Befund – so viel Zeit isoliert zu Hause verbringen zu müssen, erhöht das Risiko, Opfer von Missbrauch und Gewalt durch Erwachsene in den eigenen vier Wänden zu werden, deutlich.
Groteskerweise, und auch damit beschäftigt sich dieses Forschungsprojekt, sind es in dieser Situation ausgerechnet die Strukturen des organisierten Verbrechens, die vielen Jugendlichen eine scheinbare Perspektive offerieren: „Wenn dich niemand schützen kann außer denen, die dein Viertel bis an die Zähne bewaffnet kontrollieren, ist es natürlich attraktiv, zu den Starken zu gehören“, berichtet Mauricio Bonifaz von seinen eigenen Gesprächen mit Jugendlichen aus Socio Vivienda: „Die Jungs aus den Gangs haben Motorräder, tolle Autos. Sie protzen mit ihrem Macho-Gehabe und umgeben sich mit schönen Frauen. Aber wer wirklich dazu gehören will, muss dafür einen Menschen getötet haben.“ Dass sie die Kinder, die sie für ihre kriminellen Aktivitäten rekrutieren, der Gefahr aussetzen, selbst erschossen zu werden, interessiert nicht. Im Gegenteil: Je jünger die Drogenkuriere, an bewaffneten Raubüberfällen Beteiligte und Auftragskiller sind, umso größer ist die Chance, dass sie straffrei bleiben.
Initiativen gegen die Gewalt
Es sind vor allem die Kirchen und Organisationen aus der Zivilgesellschaft, die mit aller Kraft dagegen ankämpfen, dass dieses Abgleiten in einen von Drogen-Gangs bestimmten Alltag und – als Antwort darauf – gelegentliche, live im Fernsehen übertragene brachiale Militäreinsätze auf den Straßen die Zukunft einer ganzen Generation bestimmen. Nach dem berüchtigten Zwischenfall mit dem Feuergefecht vor dem Schulzentrum von Socio Vivienda II arbeitete das Team der Kindernothilfe-Partnerorganisation JUCONI (Fundación ¡Junto con los Niños y Niñas!) wochenlang mit Lehrerinnen und Lehrern – aber auch den Kindern und Eltern – an einem Schutzkonzept, dem Einüben von Alarmplänen und Evakuierungsstrategien, um Kinder nicht noch einmal der tödlichen Gefahr auszusetzen, mitten in einen Schusswechsel zu geraten. Dazu kommt eine intensive therapeutische Arbeit mit Kindern und Erwachsenen, die Gewalt unmittelbar erlebt haben. Und es geht um Techniken zum Selbstschutz, um dasrechtzeitige Erkennen von Gefahren und das bewusste Vermeiden von Risikosituationen.
Das Team der Salesianer, das sich seit über anderthalb Jahrzehnten – unterstützt auch aus Österreich – mit und für Kinder aus afroecuadorianischen Familien im Armenviertel Nigeria auf der Isla Trinitaria engagiert, hat es geschafft, sein Gemeinschaftszentrum „Juanito Bosco“ zu einem auch von den Gangs respektierten Schutz- und Fluchtort zu machen, indem es von Anfang an immer auch Kinder aus Familien, die zu einer der kriminellen Gruppen im Viertel gehören, aufnahm – und den Kontakt zu ihren Eltern nicht abreißen ließ: „Allerdings unter glasklaren Bedingungen“, sagt Mauricio Bonifaz, „keine Waffen und Drogen auf dem Gelände, keinerlei Auseinandersetzungen oder Anwerbeversuche im Zentrum.“ Bis jetzt trägt dieses Konzept: „Schon allein das“, so Bonifaz, „ist in diesen Zeiten wie ein kleines Wunder.“