Eine andere Welt verwirklichen

Von Leo Gabriel

Das Weltsozialforum in Kathmandu, Nepal, zeigte gemeinsame Ziele, aber auch Differenzen auf.

Als das seit 2001 bestehende Weltsozialforum am 19. Februar zu Ende ging, waren viele der an die 25.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer erleichtert: die einen, weil es ihnen fünf Tage hindurch bei den über 400 Veranstaltungen den Eindruck vermittelte, dass sie in ihrer schwierigen Lebenssituation im südasiatischen Raum nicht alleine waren, und die anderen, weil sich die zahlreichen Aktivist:innen in ihrem Glauben bestätigt sahen, dass „eine andere Welt möglich“ ist.

Das kulturell bestimmte Umfeld des WSF

Überhaupt scheint der Glaube an das übersinnlich Wahrnehmbare in Nepal die Grundlage politischen Denkens zu sein. Auf Schritt und Tritt begegnet man auf den Straßen von Kathmandu den Bildern des lachenden Buddha oder des mehrarmigen Shiva, wobei im Laufe der Jahrhunderte (im Unterschied zu Indien) anstelle des religiösen Fundamentalismus ein toleranter, oft auch selbstironischer Synkretismus entstanden ist. Im Unterschied zur Volksrepublik China sind hier die tibetischen Mönche ebenso staatlich anerkannt wie die kastenlosen Dalits. Das war nicht zuletzt in einem ein Jahrzehnt langen Verfassungsprozess zum Ausdruck gekommen, der schließlich in der Abschaffung der Monarchie und der Einsetzung einer selbstbestimmten Parteiendemokratie seinen Ausdruck gefunden hat. Dabei hatten die Maoisten wegen ihrer Zusammenarbeit mit den in der Geschichte fest verankerten Dorfgemeinschaften die Oberhand gewonnen und stellen bis heute den Ministerpräsidenten und das Staatsoberhaupt.

© Leo Gabriel

All das spielte natürlich auch bei der Durchführungdes Weltsozialforums eine große Rolle, an dem vorwiegend Nepales:innen und Besucher:innen aus Indien (ca. 3000) und Bangladesch teilnahmen. Aus Europa, Afrika und Lateinamerika waren vor allem Repräsentant:innen von NGOs zugegen, während die Nepales:innen die bereitgestellten Zelte mit hunderten Angehörigen der sozialen Bewegungen füllten; allen voran die der Via Campesina angehörende All Nepalese Peasant Union sowie die nepalesischen Gewerkschaften und Frauenbewegungen.

Konsens bei zwei globalen Themen: Palästina und Klimagerechtigkeit

Trotzdem spielten bei den Veranstaltungen zwei internationale Themenbereiche eine tragende Rolle: die Solidarität mit Palästina und die so genannte Klimagerechtigkeit, die der Auseinandersetzung zwischen den hauptsächlichen Verursachern im Norden und den Opfern im Süden gewidmet war. Es war den Aktivist:innen aus diesen beiden Themenbereichen zu verdanken, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Weltsozialforen bei den Versammlungen, die am letzten Tag stattfanden, Schwerpunkte für die Mobilisierung auf globaler Ebene gesetzt werden konnten. So fand zum Beispiel die Idee eines weltweiten Mobilisierungstags für den Frieden und gegen den Genozid in Gaza einhellige Zustimmung, wenngleich das genaue Datum dafür noch aussteht.

Aber auch was das Thema der Klimagerechtigkeit betrifft, gab es weitgehende Übereinstimmungen; nicht zuletzt deshalb, weil Hunderttausende Bewohner:innen der Region um den Himalaya von der Gletscherschmelze in ihrer Existent bedroht sind. „Dabei besteht aber das Problem, dass die meisten europäischen und nordamerikanischen NGOs ihre Vorschläge mit wissenschaftlichen Erkenntnissen begründen, ohne die Interessen und die Erfahrungen der lokalen Bevölkerung in Betracht zu ziehen“, erklärte der namhafte Soziologe Uddhab Pakurel, einer der ersten nepalesischen Promotoren des Weltsozialforums.

Politische Spannungen zwischen NGOs und sozialen Bewegungen.

Überhaupt wurde nicht nur von den nepalesischen Organisationen die Tatsache kritisiert, dass im Weltsozialforum den NGOs eine sowohl quantitativ als auch politisch tragende Rolle zukommt, was den Interessen der großen Bewegungen wie Via Campesina, des Internationalen Gewerkschaftsbundes ITUC oder der weltweiten Friedensbewegung des International Peace Bureau (IPB) entgegensteht. Das war auch der Grund, warum sich viele von diesen im letzten Jahrzehnt vom WSF zurückgezogen hatten. Denn während erstere aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeiten unter dem Vorwand des Prinzips der Diversität eine Art Konkurrenzverhalten an den Tag legen, haben die sozialen Bewegungen eher ein Interesse daran, die innere Einheit zu stärken, um nach außen, gegenüber ihrem Gegner, geschlossen auftreten zu können.

Diese Jahre, vielleicht Jahrzehnte lange Diskussion im Internationalen Rat des Weltsozialforums, die beim letzten WSF in Mexiko 2022 beinahe zum Bruch geführt hätte, wurde bei einem Treffen im Dezember 2022 in Tunis insoweit überwunden, als dort beschlossen wurde, eine „Assembly of Struggles and Resistences“ innerhalb des WSF zu gründen. Diese Versammlung kann nun in ihrem eigenen Namen politische Erklärungen und Aktionspläne beschließen, was dem WSF als solchem aufgrund der Charta von Porto Alegre, dem Gründungsdokument des WSF, verwehrt war.

Erklärung und Aktionsplan der sozialen Bewegungen

In Kathmandu wurde nun zum ersten Mal eine solche Versammlung, die weder das qualifizierte Mehrheitsprinzip von 80 % noch das gemeinsame Auftreten nach außen verhindert, auf die Probe gestellt. In vier verschiedenen, zentral organisierten Paneldiskussionen zu den Themenbereichen Friede, Klimagerechtigkeit, Demokratie und Gendergerechtigkeit gelang es, eine Diskussion voranzutreiben, die schließlich zur Verabschiedung eines gemeinsamen Schlussdokuments sowie zur Erstellung der Grundlagen für einen gemeinsamen Aktionsplan führte. Das Problem dabei war, dass gleichzeitig mit dieser Versammlung auch Versammlungen zu den einzelnen Themenbereichen am letzten Tag des WSF stattfanden, sodass nur eine relativ kleine Anzahl der Organisationen anwesend war und der enorme Zeitunterschied zwischen Nepal, Europa und Lateinamerika die virtuelle Teilnahme der Daheimgebliebenen quasi verunmöglichte.

Die „Assembly of Struggles and Resistances“ erlebte in Karhmandu ihre Feuertaufe;
© Leo Gabriel

Ob es nun Kathmandu gelungen ist, den großen Durchbruch oder die, wie brasilianische Medien behaupten, „Wiederbelebung“ des Weltsozialforums zu erreichen, bleibt allerdings der Zukunft vorbehalten. Denn die Erneuerung des WSF ist ein Prozess, bei dem das Resultat weitgehend von der Umsetzung des Vorhabens abhängt.


Leo Gabriel, Mitglied der Redaktion von lateinamerika anders, ist Journalist und Sozialanthropologe sowie seit 2001 Mitglied des Internationalen Rats des Weltsozialforums.