lateinamerika anders Nr. 1 * Mrz. 2019
editorial
Es bedurfte nur einer Wendestimmung und einiger skrupelloser Winkelzüge der brasilianischen Elite: Mit Jair Bolsonaro ist ein Mann in den Präsidentenpalast Planalto in Brasilia eingezogen, der wie kein anderer den weltweit spürbaren Rechtsruck und die rückwärtsgewandte „Erneuerung“ Lateinamerikas verkörpert. Viehzüchter und Soja-Produzenten reiben sich die Hände, wenn, wie versprochen, der Amazonas-Urwald für sie in Wert gesetzt und für weitere großflächige Rodungen freigegeben wird. Dass auch maximal fünf Jahre zerstörerischer Politik des Faschisten Bolsonaro vorüber gehen, ist ein geringer Trost. Denn die Entwaldung im Amazonasgebiet nähert sich dem Punkt, an dem – so die Experten – das Gleichgewicht kippt und der Regenwald sich selbst zu zerstören beginnt. Eine Klimakatastrophe ungeahnten Ausmaßes wäre die Folge. Deswegen haben wir diese Nummer dem Amazonas gewidmet, den wir in möglichst vielen Facetten von besonders kompetenten Autorinnen und Autoren darstellen ließen: von der indigenen Philosophie über den Sehnsuchtsort Amazonas in unseren Köpfen bis zu harten Fakten über Abholzung. Es lohnt sich, jeden einzelnen Beitrag zu lesen.
Während den Amazonas-Schwerpunkt eine vorausschauende Perspektive auszeichnet, können wir im Fall der Venezuela-Krise nur den Ereignissen hinterher hinken. Keiner weiß, wie lange die Agonie eines planlosen Regimes sich noch in die Länge zieht und ob die wohl unvermeidliche Machtübernahme der von den USA gesponserten alten Elite unter friedlichen Umständen vor sich gehen oder von Blutvergießen und Chaos begleitet sein wird. Der einst von Hugo Chávez ausgerufene Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist zum Kampfbegriff der Rechten für ein gescheitertes Experiment geworden, dessen Abenddämmerung auch durch russische Hilfe nicht aufgehalten werden kann. Der Linken ist es nicht gelungen, eine langfristig tragfähige Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem zu etablieren. Mit den Folgen dieser venezolanischen Tragödie werden wir uns voraussichtlich in der nächsten Ausgabe ausführlicher befassen.
Ralf Leonhard