lateinamerika anders Nr. 4 * Dez. 2022

editorial

Lateinamerika gilt als eine der gewalttätigsten Regionen der Welt. Zu recht, wenn man die Opferzahlen betrachtet. Zwar hat es seit der Unabhängigkeit nur relativ wenige grenzüberschreitende Kriege gegeben, doch leben einige Staaten in nahezu permanentem Bürgerkrieg. Und die Formen institutioneller Gewalt, die auf mehr oder weniger subtile Art bestehende Machtverhältnisse absichern, haben die Gesellschaften zwischen Río Bravo und Magellanstraße seit Generationen fest im Griff. Wirtschaftliche Eliten, die sich in ihrer zerstörerischen Lebens- und Arbeitsweise weder von der Moral, noch von der Klimakatastrophe beeindrucken lassen, wissen das staatliche Gewaltmonopol auf ihrer Seite. Menschen, die sich Megaprojekten, der Ausbeutung von Rohstoffen, Landraub oder der Umweltverheerung entgegenstellen, und jene, die in ihren Medien darüber berichten, sind die sichtbarsten Opfer. Dass sich einige Regimes bei der Gewaltanwendung auf die Verteidigung linker Ideologien berufen, wie in Kuba, Venezuela oder Nicaragua, ist ein trauriges Detail.

Solange kein gesellschaftlicher Konsens dem entgegensteht, werden Interessenkonflikte mit Gewalt ausgetragen werden, sei es auf zwischenstaatlicher Ebene oder in der Familie. In Zentralamerika, wo der Drogenhandel blüht und Bandenkriege toben, werden kaum Alternativen zu Gewalt und Gegengewalt angedacht. El Salvadors Nayib Bukele erfreut sich großer Popularität, weil er Bandenmitglieder ohne Rücksicht auf Kollateralschäden bei Menschenrechten und Rechtsstaat hinter Gitter bringen lässt. In Brasilien jubeln große Teile der Bevölkerung dem Gewalt verherrlichenden Präsidenten Jair Bolsonaro zu und fordern jetzt das Einschreiten der Armee gegen die bevorstehende Amtsübernahme durch den Wahlsieger Lula da Silva.

Ebenso bahnbrechend wie riskant ist der Ansatz des neuen kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro, den „totalen Frieden“ anzustreben, also mit allen bewaffneten Gruppen den Frieden zu suchen. Flankiert wird der Plan vom schrittweisen Ausstieg aus der fossilen Energie und der Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes als Friedensdienst. Friedenserziehung soll aus der Logik der Gewalt herausführen. Petros hohe Popularitätsraten nach 100 Tagen im Amt beweisen, dass solch ein neues Verständnis vom Umgang mit Konflikten und Widersprüchen längst fällig war.

Ralf Leonhard