Von Robert Lessmann
Lula besiegt den rechtsextremen Bolsonaro. In Kolumbien regiert mit Gustavo Petro erstmals in der Geschichte ein linker Präsident. In Lateinamerika schwingt das politische Pendel wieder nach Links. Allerdings kann man keinen eindeutigen Trend konstatieren. Vielmehr sind in den vergangenen Jahren auch linke durch konservative Regierungen abgelöst worden. Und nicht alle vom Volk gewählten Präsidenten sitzen fest im Sattel.
Ende Jänner schaffte es Peru in die Schlagzeilen und die Hauptabendnachrichten: „Proteste in Peru laufen aus dem Ruder“, titelte der ORF. Papst Franziskus schloss Peru in sein Angelus-Gebet ein und der UNO-Hochkommissar sandte endlich einen Sonderbeauftragten nach Lima, der Aufklärung über Menschenrechtsverletzungen verlangte und darüber, wie sie künftig verhindert werden könnten. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Zahl der Todesopfer bereits mit etwa 50 beziffert, bis auf wenige Ausnahmen Zivilisten und getötet mit Waffen, wie sie das Militär verwendet.
An jenem Wochenende um den 20.-22. Jänner 2023 hatten Protestbewegungen aus dem ganzen Land zu einem Sternmarsch auf Lima aufgerufen unter dem Motto: „Toma de Lima“, die Hauptstadt sollte „eingenommen“ werden. Der Marsch war deklariert als „Marcha de los Suyus“ – eine klare Anspielung auf die indigene Protestkomponente, hatte sich doch das Inkareich bis zur Conquista 1532/33 als Tawantinsuyu verstanden, als Reich der vier Regionen: Chinchay Suyu im Norden bis ins heutige Ecuador, Kunti Suyu an der Pazifikküste im Westen, das Qolla Suyu im Andenhochland einschließlich des heutigen Boliviens und das Anti Suyu in Amazonien. Doch diesen Kontext hatte die hiesige Journalistik weder im Auge, noch im Kopf, als sie sich besonders um den Tourismus rund um die ehemalige Inkahauptstadt Cusco sorgte und um Besuchergruppen, die in Aguas Calientes unterhalb der Ruinen von Machu Picchu festsaßen, weil die Bahnverbindung unterbrochen war. Blockaden von Straßen- und Eisenbahnverbindungen sowie Versuche, Flughäfen zu besetzen, dauerten zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Wochen an. Die Proteste hatten vor allem im südlichen Hochland ihren Ausgang genommen, in den Provinzen Arequipa, Cusco und Puno am Titicaca-See. Doch inzwischen war in einem Drittel der Provinzen der Ausnahmezustand verhängt worden. Die gewalttätige Repression der Staatsmacht hatte sie nur umso mehr befeuert. Sie sind getragen von Gewerkschaften, Bauern, indigenen Organisationen, zunehmend auch von Studenten. Die Mittelschichten fehlen weitgehend (noch). Im Gegensatz zur Behauptung der Regierung, sie seien von Drogenhändlern, illegalen Minenarbeitern, Extremisten des Sendero Luminoso (der seit drei Jahrzehnten als zerschlagen gilt) und vom benachbarten Bolivien gesteuert, scheinen sie weitgehend spontan gewesen zu sein. Es ist keine klare Führung auszumachen und die Forderungen sind uneinheitlich: Rücktritt der „Interimspräsidentin“ Dina Boluarte und Neuwahlen, Freilassung des abgesetzten Präsidenten Pedro Castillo, Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung sind die wichtigsten darunter. Eine zunehmend größere Rolle spielt auch die Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen für die harte Repression. Darüber hinaus herrscht auch eine profunde Ablehnung des politischen Systems und seiner Repräsentanten, wie sie im allgegenwärtigen Slogan „que se vayan todos“ – sie sollen alle abhauen – zum Ausdruck kommt.
Auslöser der Proteste waren der Sturz und die Verhaftung des gewählten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 nach nur 16 Monaten im Amt. Pedro Castillo ist ein Grundschullehrer und Gewerkschafter aus einer Kleinstadt der Region Cajamarca im Norden. Der politische Newcomer gehörte der sich als marxistisch-leninistisch bezeichnenden Partei Perú Libre an und setzte sich in der Stichwahl gegen die im politischen Establishment bestens vernetzte Tochter des autoritären und später zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilten Expräsidenten Alberto Fujimori ganz knapp durch. Beide, Pedro Castillo und Keiko Fujimori, hatten es im ersten Wahlgang nicht auf 20 Prozent der Stimmen gebracht. Unter dem Motto „keine Armen mehr im reichen Peru“ trat er am 7. Juli 2021 seine Präsidentschaft an.
Der Präsident vom Lande hatte keine Mehrheit im Kongress. Die städtischen Eliten standen ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber und stellten, mit tätiger Mitwirkung der Medien, die sich in ihren Händen befinden, von Anbeginn seine Befähigung in Frage. Hautfarbe und Hochsprache, wie sie von den Eliten in Lima gesprochen wird, sind die zwei wichtigsten Kriterien für rassistische Stigmatisierung. Von Anfang an hatte er es mit teils offen rassistischen Anfeindungen, Korruptionsermittlungen und Amtsenthebungsverfahren zu tun. Dutzende Gesetzentwürfe wurden abgelehnt. Planlosigkeit, konfuse Entscheidungen, mangelnde Transparenz und die Berufung unfähiger Leute waren Wasser auf die Mühlen seiner Gegner. Wertkonservative bis reaktionäre Haltungen – etwa in Fragen der sexuellen Orientierung – brachten aber auch Sympathisanten zum Stirnrunzeln. Bereits nach einem Vierteljahr Amtszeit raubte das Parlament der Regierung mit dem Gesetz 31.355 vom Oktober 2021 die Möglichkeit, Verfassungsreformen durchzusetzen, den Kongress aufzulösen und Parlamentswahlen auszurufen. In 495 Amtstagen hatte Castillo fünf Kabinette mit 78 Ministern, überstand zwei Amtsenthebungsverfahren und unzählige politische Skandale.
Um einem dritten Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, kündigte Castillo am 7. Dezember die Auflösung des Parlaments an. Unter den gegebenen Umständen politischer Selbstmord. Prompt wurde er unter dem Vorwurf eines versuchten Staatsstreichs und „moralischer Unfähigkeit“ vom Parlament abgesetzt und verhaftet. Nachfolgerin wurde Vizepräsidentin Dina Boluarte. Ebenfalls aus der Partei Perú Libre stammend und politisch unerfahren, war sie von Pedro Castillo erst Anfang 2022 als Verlegenheitslösung zur Vizepräsidentin berufen worden, nachdem sein Wunschkandidat, der Mediziner Vladimir Cerrón Rojas, wegen juristischer Hindernisse ausgefallen war. Sie ist legitime, verfassungsmäßige Nachfolgerin, wird es aber schwer haben, sich mit der Verantwortung für so viele Tote zu behaupten. Drei ihrer Minister sind schon zurückgetreten. Schwer zu sagen, ob es einen Weg des Dialogs gegeben hätte, aber sie hat von Anfang an darauf gesetzt, lange im Amt zu bleiben und ihre Macht polizeilich-militärisch abzusichern. Wahlen sind erst im April 2024 angesetzt. Vorgezogene Neuwahlen – inzwischen auch von Boluarte selbst ins Spiel gebracht – wurden vom Parlament mehrmals verworfen, allerdings mit zunehmend schwindenden Mehrheiten. Eigentlich starker Mann ist Verteidigungsminister Luis Alberto Otárola, der inzwischen zum Ministerpräsidenten aufgestiegen ist. Boluarte hat sich damit rechten Hardlinern ausgeliefert. Sollte auch sie zurücktreten, wäre mit Parlamentspräsident José Williams ein ultrarechter pensionierter Armeegeneral der verfassungsmäßige Nachfolger.
Es handelt sich um eine Dauerkrise. Peru hatte in fünf Jahren sechs Präsidenten. Alle schieden unfreiwillig aus dem Amt. Viele sind mit der Justiz konfrontiert und einer, Alan García, hat sich erschossen, um einem Korruptionsverfahren zu entgehen. Ungeachtet des politischen Chaos steht Peru mit soliden Wachstumsraten da. Aber mehr als 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden im Großraum Lima erwirtschaftet und ein großer Teil der Bevölkerung ist vom Wohlstand ausgeschlossen. Während der Pandemie ist die Armutsquote von 20 auf 30 Prozent angewachsen. Die Grenze zwischen Arm und Reich verläuft parallel zu der zwischen indigen und nicht-indigen Bevölkerung. Lima und das Landesinnere, das sind zwei verschiedene Welten. Pedro Castillo, der für 18 Monate in Untersuchungshaft sitzt, ist – politisch möglicherweise unverdientermaßen – zu einer gewissen Identifikationsfigur für die Unterdrückten und Beleidigten (Dostojewski), die Bauern und Indigenen, die Armen und Marginalisierten geworden. Der Historiker Gustavo Montoya von der Universidad Nacional Mayor de San Marcos sieht die derzeitige Situation auch als historische Chance darüber nachzudenken, welchen Staat Peru hat und in welchem Verhältnis Staat und Gesellschaft zueinander stehen. Vieles wird davon abhängen, inwieweit sich die spontanen Proteste weiter verstetigen, sich organisatorisch zusammenfügen und eine Führung finden.
Demokratie als umkämpftes Terrain
Anders geartet, aber in frischer Erinnerung ist der Sturm auf die Regierungsgebäude in Brasilia nach dem Wahlsieg von Lula da Silva am 8. Jänner, der nach ähnlichem Drehbuch abzulaufen schien, wie zwei Jahre zuvor der Sturm paramilitärisch organisierter Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington. In beiden Fällen geschah dies unter Vorwürfen von Wahlbetrug – den die Protagonisten jeweils schon vor der Wahl prophezeiten. In Brasilia richteten sie sich gegen einen Wahlsieger und frisch ins Amt eingeführten Präsidenten unter Mithilfe von Teilen der Sicherheitskräfte. In Washington wurden sie mutmaßlich von einem noch amtierenden Präsidenten gegen den Wahlsieger orchestriert. Die Parallelen scheinen weniger erstaunlich, wenn man weiß, dass die extreme Rechte weltweit gut vernetzt ist. Eduardo Bolsonaro, Sohn des abgewählten brasilianischen Präsidenten, ist beispielsweise Verbindungsmann von Trump-Berater Steve Bannon nach Südamerika. Dazu lohnen weitere Recherchen und Forschungen.
Schon im Herbst 2019 war ich zu einer Serie von Veranstaltungen eingeladen mit der Frage: „Flächenbrand in Lateinamerika?“ In Chile, Ecuador und Kolumbien waren damals Proteste gegen das neoliberale wirtschaftliche Modell eskaliert, die von Fahrpreiserhöhungen beziehungsweise Benzinpreissteigerungen ausgegangen waren. In Chile führten sie zu einem Linksruck, einem Regierungswechsel und einem Verfassungsprozess zur Ablösung der alten Pinochet-Verfassung. In Kolumbien wurde letztes Jahr mit Gustavo Petro zum ersten Mal ein Linker zum Präsidenten gewählt. In Bolivien wurde dagegen 2019 mit Evo Morales der Repräsentant eines Gegenmodells zum Neoliberalismus und Hoffnungsträger der Linken gestürzt, der bereits bei den Wahlen vom Oktober 2005 durch einen Erdrutschsieg an die Macht gekommen war, was auch als Revolution mit dem Stimmzettel bezeichnet wurde. Ein Jahr nach dem Putsch, 2020, erzwangen die sozialen Bewegungen dort Neuwahlen, die wiederum die alte Regierungspartei MAS (Movimiento al Socialismo) mit absoluter Mehrheit gewann. Damit ist dort der Prozess des Wandels (proceso de cambio) zurück. Die MAS selbst ist allerdings heute von Spaltung bedroht. Statt von einer Wellenbewegung zwischen Links und Rechts, zwischen fortschrittlichen und regressiven Kräften, darf man also eher von einem permanenten Machtkampf sprechen.
Nach einer Epoche der Diktaturen in den 1960er bis 1980er Jahren und zwei bis drei Jahrzehnten Neoliberalismus und Rückkehr zur Demokratie steht der Halbkontinent makroökonomisch ganz gut da und formaldemokratisch leidlich stabil. Das ändert sich gerade mit den Folgen der Pandemie und der drohenden Rezession. Peru beispielsweise steht im Human Development Index der Vereinten Nationen unmittelbar nach Kuba (83) auf Rang 84 vor Mexiko (86), Brasilien (87), Kolumbien (88) und Ecuador (95). Lateinamerika ist aber die Region mit der markantesten sozialen Ungleichheit, der höchsten Kriminalität und einem ausgeprägten Hang zu gewalttätigen Konfliktlösungen.
Seit einer Welle „progressiver“ Regierungen tobt ein heftiger Machtkampf, nicht mehr so sehr mit dem Militär oder Guerillagruppen, sondern an der Grenze zum „low intensity conflict“ mit Straßenprotesten, Blockaden und Prozessen (lawfare statt warfare). Den Anfang machte 1999 Hugo Chávez in Venezuela, gefolgt von Lula da Silva in Brasilien (2003), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Tabaré Vásquez in Uruguay (2005), Evo Morales in Bolivien (2006), Rafael Correa in Ecuador (2007). In Argentinien, Brasilien und Bolivien kam zwischenzeitlich die Rechte zurück – in Uruguay und Ecuador ist sie noch an der Regierung. In Chile und Kolumbien gibt es neuerdings mit Gabriel Boric und Gustavo Petro Linksregierungen, die vor großen Herausforderungen stehen. In Chile ist das Verfassungsprojekt der Regierung Boric zunächst im Referendum vom 4. September 2022 mit 62:38 krachend gescheitert. Auch sie verfügt über keine Mehrheit im Parlament und ist mit finanzkräftigen alten Eliten konfrontiert, die die Medien kontrollieren und vor einer „Venezolanisierung“ und dem Kommunismus warnen. Ein wichtiger Grund der Ablehnung des Verfassungsentwurfs war das plurinationale Staatsmodell, das heißt die Aufwertung der indigenen Völker. Nicht hilfreich war die fehlende Einheit der Linken im Allgemeinen und das allzu radikale Auftreten gewisser Gruppen im Besonderen.
Die genannten Präsidenten der ersten „Linkswelle“ – man könnte beispielsweise noch Michelle Bachelet in Chile (ab 2006) hinzufügen – verfolgten durchaus unterschiedliche politische Agenden, wie sie vage als „progressiv“ bezeichnet werden. Sie alle waren aber mit steifem Gegenwind konfrontiert. Hugo Chávez, der 1998 mit 56 Prozent der Stimmen gewählt und im Jahr 2000 auf der Grundlage einer neuen Verfassung mit 60,3 Prozent bestätigt worden war, wurde im April 2002 mit Unterstützung Washingtons kurzfristig aus dem Amt geputscht. Er gewann übrigens alle Wahlen und Abstimmungen von 1998 bis 2012, mit Ausnahme des Referendums um eine Verfassungsänderung 2007, dessen Ergebnis er respektierte. Zum Teil antworteten die Progressiven mit dem Rückgriff auf populistische und autoritäre Herrschaftstechniken bis zu einem Punkt, wo sie nicht mehr als Vorbild dienen, sondern als abschreckendes Beispiel. Wo sie konnten, nutzten sie die Konjunktur und stützten ihre Modelle auf den Verkauf nicht erneuerbarer Rohstoffe (Extraktivismus), wie Öl und Gas, um Sozialprogramme zu finanzieren – und verzichteten dabei auf strukturelle Veränderungen, wie wirtschaftliche Diversifizierung. „Progressistives“ Regieren war nicht frei von Widersprüchen, persönlichen Ambitionen und Korruption. In Ecuador, wo unter Rafael Correa in einer neuen Verfassung umfänglich indigene Rechte und zum ersten Mal die Rechte der „Mutter Erde“ festgeschrieben wurden, hinkte die Umsetzung derart hinter dem Anspruch her, dass Correa 2017 ins Exil ging. Nachfolger Lenin Moreno fiel durch den Widerspruch von progressiver Rhetorik und neoliberaler Politik auf. Im Herbst 2019 ließ er Proteste blutig niederschlagen. Die Beziehungen zwischen dem (ehemals) progressiven und dem indigenen Lager waren schließlich derart zerrüttet, dass man im Jahr 2021 einen Wahlsieg quasi verschenkte. Während der „Correist“ Andrés Arauz den ersten Wahlgang mit 14 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen hatte und Yaku Pérez (Pachacutic) das bislang beste Ergebnis für das indigene Lager holte, gewann der neoliberale Guillermo Lasso, der im ersten Wahlgang nur 19,5 Prozent holen konnte, die Stichwahl. Statt ein Bündnis einzugehen, bekämpfte man sich.
Qollasuyu – andine Gemeinsamkeiten
Dina Boluarte und Jeanine Áñez haben Vieles gemeinsam. Auch wenn die eine den Jahreswechsel auf dem Präsidentensessel des Palacio de Gobierno in Lima verbrachte und die andere hinter Gittern in La Paz. Beide kamen unverhofft zur Präsidentschaft. Beide wurden dazu eingeladen, nicht gewählt. Boluarte wurde es dann durch die überraschende Entfernung ihres Vorgesetzten aus dem Präsidentenamt. Áñez wurde durch eine Versammlung von Ex-Politikern, mehrheitlich aus dem Umfeld des Ex-Diktators Hugo Banzer, ausgewählt, die in der Universidad la Católica von La Paz tagten, nicht im Parlament. Keiner von ihnen hatte irgendein Mandat. Unter tätiger Mithilfe der Katholischen Kirche und des damaligen EU-Botschafters León de la Torre, wollten sie ein Machtvakuum füllen, an dessen Entstehung sie regen Anteil hatten. Die Vorgänge sind Gegenstand laufender Gerichtsverfahren. Auch Evo Morales, der gewählte Amtsvorgänger von Frau Áñez, wurde aus dem Amt entfernt, und zwar unter Vorwürfen des Wahlbetrugs. Schon im Vorfeld der Wahlen vom Oktober 2019 behauptete die Opposition, dass es Wahlbetrug geben würde und es gab gewalttätige Übergriffe auf Kundgebungen und Büros der Regierungspartei MAS. Organisiert wurden sie von sogenannten Zivilkomitees, besonders dem der größten Stadt Santa Cruz, dem Luis Fernando Camacho vorstand und unter Beteiligung paramilitärischer Schlägertrupps wie der Unión Juvenil Cruceñista und der Resistencia Juvenil Cochala. Als es dann bei der Schnellauszählung am Wahlabend zu Unregelmäßigkeiten kam, die von Wahlbeobachtern der OAS vorschnell öffentlich gemacht wurden (wirklich bewiesen wurde ein Wahlbetrug bis heute nicht) eskalierten die Proteste. In sechs von neun Departementshauptstädten gingen die Büros der Wahlkommission in Flammen auf. Schlechtes Krisenmanagement der Regierung tat ein Übriges. Schließlich stand der Wahlsieg der MAS als solcher (mit rund 47 Prozentpunkten) trotz herber Verluste außer Zweifel. Es ging um 10 Prozentpunkte Abstand vor dem Zweitplatzierten, die laut Wahlgesetz nötig sind, um eine Stichwahl zu vermeiden. Als dann noch eine Polizeimeuterei ausbrach und die Militärführung Morales den Rücktritt nahelegte, flohen Präsident und Vizepräsident außer Landes. Weder hatten sie ihren Rücktritt offiziell eingereicht, noch war dieser vom Parlament angenommen worden, wie es die Verfassung vorschreibt. Auch wäre Frau Áñez als zweite Vize-Präsidentin des Senats nicht an der von der Verfassung definierten Reihe der Nachfolger gewesen. Trotzdem wurde sie in den westlichen Hauptstädten genauso schnell anerkannt wie die legitime Nachfolgerin Boluarte in Peru. Wie Boluarte dachte auch Jeanine Áñez schnell an mehr als nur eine Interimspräsidentschaft. Ein ums andere Mal wurde ein möglicher Wahltermin unter Hinweis auf die Pandemie verschoben und bereits nach zwei Monaten gab Áñez bekannt, dass auch sie kandidieren wolle – sehr zur Empörung des Zweitplatzierten bei der umstrittenen Wahl, Carlos D. Mesa. Wie Boluarte ließ sie ihre Präsidentschaft polizeilich-militärisch absichern. Abgeordneten der Regierungspartei, die über die absolute Mehrheit verfügte, wurde an den entscheidenden Tagen ihrer Machtergreifung der Zugang zum Parlament verwehrt. Es kam zu Massakern gegen protestierende MAS-Anhänger.
Zwischen Castillo und Morales gibt es ebenfalls Gemeinsamkeiten. Auch die Regierung Morales war in der Anfangszeit von vielen handwerklichen Schwächen gekennzeichnet und auch sie stand von Anfang an unter immensem Druck. Die Verfassunggebende Versammlung (ab 2006) wurde sabotiert und behindert, sodass sie in eine Militärakademie ausweichen und schließlich in eine andere Stadt umziehen musste. Der Zivilputsch von Santa Cruz 2008 brachte das Land an den Rand einer Spaltung. Aber Morales hatte die absolute Mehrheit im Parlament und war – im Unterschied zu Castillo – von starken sozialen Bewegungen getragen, aus deren Reihen er hervorgegangen war. Er war also im Unterschied zu Castillo kampferprobt, nicht unerfahren. Doch auch seinem Sturz gingen eklatante Fehler voraus. Seine Präsidentschaft war von vielen Erfolgen begleitet. Eine neue Verfassung schrieb soziale Rechte, Indígena-Rechte und die Rechte der Pachamama fest. Bolivien wurde zum Plurinationalen Staat. Indigene Sprachen wurden gleichwertig und die bunte Wiphala-Fahne gleichwertig neben die rot-gelb-grüne Nationalfahne gestellt. Die Nationalisierung der Kohlenwasserstoffressourcen spülte bei günstiger Konjunktur Devisen in die Staatskasse, die für eine Umverteilungs- und Sozialpolitik verwendet wurden. Die Armutsquote sank deutlich, die Lebenserwartung wuchs um Jahre, ein bedeutender Teil der Unterschicht stieg in die Mittelschicht auf. Ihre Binnennachfrage stabilisierte die Wirtschaft, auch als die Exporteinnahmen nach 2015 einbrachen. Grundlage war auch hier der Extraktivismus, grundlegende Strukturreformen unterblieben. Die Präsidentschaft von Morales war von einer Serie von Wahlen und Abstimmungen begleitet, die manche Beobachter als referenditis bezeichneten. Er hat sie alle mit absoluter Mehrheit gewonnen. Eine bis dahin unbekannte demokratische Stabilität.
Bis zum Februar 2016, als Morales durch ein Referendum den Artikel 168 der Verfassung ändern lassen wollte, der nur zwei Amtsperioden in Folge zulässt. Das Referendum ging verloren. Morales ignorierte das Resultat und kandidierte 2019 erneut. Viele Bolivianerinnen und Bolivianer sahen sich nun durch ihn um das einmalige Demokratieerlebnis betrogen, das er ihnen zuvor beschwert hatte. Fehler werden gnadenlos bestraft. Die völlig zersplitterte und inhaltsleere Opposition witterte Morgenluft.
Am 28. Dezember 2022 wurde in Santa Cruz der nunmehrige Gouverneur des Departements Luis Fernando Camacho festgenommen. Er hatte sich geweigert, vor Gericht zu den Vorgängen um die Machtergreifung von Jeanine Áñez auszusagen. An den Treffen in der Universidad la Católica hatte er selbst nicht teilgenommen, aber einen Vertreter geschickt. Insbesondere hatte er sich öffentlich damit gebrüstet, dass sein Vater die Polizei geschmiert, zur Meuterei angestiftet und es mit dem Militär „geregelt“ habe. Schon kurz nach seiner Inhaftierung bekam er Besuch von Vertretern des chilenischen Boric-Widersachers und Pinochet-Bewunderers José Antonio Kast sowie der rechtsextremen spanischen Partei VOX.
Etwa zur gleichen Zeit zog Peru seine Botschafterin aus La Paz ab und Evo Morales, inzwischen MAS-Parteichef, erhielt Einreiseverbot. Die Schuldzuweisungen an Bolivien für die Unruhen in Peru nahmen zu. Ende Jänner bezeichnete der fujimoristische Abgeordnete Eduardo Bustamante die von den Protestierenden benutzte bunte Wiphala-Fahne als „trapo“ (Fetzen), wie ihn auch der „Narcoterrorist Morales“ benutze. Bustamante forderte die Militarisierung der Grenze und ein Ultimatum an das Nachbarland. Wenn Bolivien nicht aufhöre, die Proteste in Peru anzustacheln und zu finanzieren, solle das Militär dort einmarschieren und Rohstofflager besetzen, damit man hinterher Reparationszahlungen geltend machen könne. Es gibt freilich keinerlei Beweise für eine Einmischung Boliviens in Peru. Vielmehr entstehen dem Binnenland Bolivien Millionenschäden dadurch, dass Peru seine Probleme nicht geregelt bekommt und Hunderte von Lastwagen seit Wochen beiderseits der Grenze in Desaguadero festhängen. Die Bevölkerung in den südlichen Provinzen Perus, von denen die Proteste ihren Ausgang nahmen, ist bäuerlich-indigen geprägt und arm. Bei Puno verläuft die Sprachgrenze zwischen Quetschwa und Aymara, das in der Gegend rund um den bolivianischen Regierungssitz La Paz gesprochen wird. Die Menschen dort haben vieles, was sie kulturell verbindet. Sie brauchen aber gewiss keine auswärtigen Anstifter, um sich zu empören und zu protestieren. Was die absurden Anschuldigungen und die Beleidigungen gegen Symbole wie die Wiphala-Fahne zeigen, ist vor allem, dass hier wie dort die gleichen Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und Emanzipation geführt werden. Beim Einzug von Frau Áñez in den Präsidentenpalast in La Paz wurden ebenfalls Wiphala-Fahnen verbrannt und Gouverneur Camacho hatte sich stets geweigert sie zu hissen. Die siebenfarbigen Quadrate fanden sich auf Inka-Textilien. Ob es sich um eine Inka-Flagge handelte ist nicht erwiesen. Doch im ganzen Andenraum und darüber hinaus gilt sie heute als indigenes Symbol. Sie zu missachten zeigt nur Unverständnis und rassistische Verachtung durch Eliten, die sich an die Macht und ein anachronistisches Herrschaftssystem klammern. Und genau darum geht es beim Kampf um die Demokratie.