Von Ralf Leonhard
In Kolumbien hat sich seit der Wahl von Gustavo Petro im vergangenen Mai viel verändert. Eine Steuerreform bittet Konzerne und Großverdiener zur Kasse, das von Öl- und Kohleexporten abhängige Land will sich schrittweise von der fossilen Energie verabschieden, ethnische Minderheiten werden aufgewertet. Der ehrgeizigste Plan ist aber die vollständige Befriedung des Landes, das seit Jahrzehnten im Kriegszustand lebt. Der Staat strebt den „totalen Frieden“ mit allen bewaffneten Gruppen an.
„Wär das schön. Wir träumen von einem Land, wo es nicht so viel Gewalt gibt.“ Sayda Jadis Arteaga Guerra und José Roviro López Rivera leben mit etwa 2000 anderen Kleinbauern in der Friedensgemeinde San José de Apartadó im Norden Kolumbiens. Friedensgemeinde nennt sie sich, weil sie alle bewaffneten Akteure fernhalten will. Friedlich geht es leider nicht immer zu, denn 165 Mitglieder der vor einem Vierteljahrhundert gegründeten Gemeinschaft sind im Laufe der Jahre ermordet worden. Ein Massaker durch Paramilitärs im Jahre 2005 wurde offiziell als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert.
Gustavo Petro, der seit Anfang August regierende Präsident, hat jetzt einen Plan vorgelegt, der „totalen Frieden“ verspricht. Das Projekt wurde am 4. November vom Kongress mit großer Mehrheit bewilligt. „Es handelt sich um ein Konzept, bei dem es nicht nur darum geht, gleichzeitig mit den illegalen bewaffneten Gruppen einen Dialog zu führen, sondern auch mit der Logik der bisherigen Friedensprozesse in Kolumbien zu brechen“, sagte Senator Iván Cepeda, der geistige Vater der Idee, zu einer Zeitung. Die bisherige Logik sei nicht darüber hinausgegangen, dass Regierung und eine bewaffnete Gruppe an einem Tisch miteinander reden.
Friedensdialoge sollen nicht mehr der Initiative eines einzelnen Präsidenten überlassen, sondern zur Politik des Staates werden, die auch künftige Regierungen verpflichtet. Das Gesetz enthält folgende Punkte:
- Von der Regierung ausdrücklich ermächtigte Repräsentanten sollen Gespräche mit illegalen bewaffneten Gruppen führen.
- Über diese Dialoge sollen Lösungen für die bewaffneten Konflikte erreicht werden. Dabei sollen unter Wahrung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht die Waffen niedergelegt und die Mitglieder der Organisationen in die Gesellschaft reintegriert werden.
- Sobald ein Abkommen steht, werden Haftbefehle gegen Mitglieder der betreffenden Organisation ausgesetzt.
- Neben dem bewaffneten Wehrdienst wird es einen sozialen Friedensdienst geben. Die Zivildiener sollen die digitale Alphabetisierung in ländlichen Gebieten und urbanen Randzonen vorantreiben, Opfer des bewaffneten Konflikts betreuen oder im Bereich Umwelt- und Klimaschutz arbeiten.
Gegen das Gesetz stimmten fast nur Abgeordnete und Senatoren der rechten Partei Demokratisches Zentrum von Ex-Präsident Álvaro Uribe, die ein völlig anderes Friedens- und Sicherheitskonzept vertritt und auch das Friedensabkommen von 2016 erfolgreich unterminiert hat. Besonders umstritten war das Projekt des sozialen Friedensdienstes, dessen Einrichtung seit Jahrzehnten von Menschenrechtsorganisationen und Kriegsdienstverweigerern gefordert wird. Als Zugeständnis an die Kritiker, die den Verlust der Wehrfähigkeit des Landes heraufbeschworen, einigte man sich auf eine schrittweise Umsetzung des Wehrersatzdienstes.
Die Friedensgemeinde von San José de Apartadó wird seit Jahren von internationalen Friedensbrigaden begleitet. Freiwillige aus Europa oder den USA leben in der Gemeinde und begleiten Mitglieder, wenn sie diese verlassen müssen. Das ist nicht ungefährlich, denn die einzige Zufahrtsstraße wird von Paramilitärs kontrolliert, denen die selbstgewählte Neutralität der Gemeinde suspekt ist.
„Hundert Meter hinter dem Kontrollpunkt der Paramilitärs hatte die Armee einen Checkpoint eingerichtet“, erzählt José Roviro López. Beim Verlassen der Zone sei man gefilzt worden: „Und wenn man zurück kam mit Essen für die Kinder, haben sie die Einkäufe auf den Boden gestreut und behauptet, das sei für die Guerilla. Dann töteten sie die Person.“ Es war also schwierig, die eigenen Produkte auf den Markt zu bringen und Nahrungsmittel in der Stadt einzukaufen. „Irgendwann wollten die Männer nicht mehr ihr Leben riskieren und haben die Frauen geschickt. Aber die wurden auch nicht respektiert. Wer mit Essen zurück kam, wurde umgebracht.“ Nach und nach erreichte die Gemeinde nahezu die Selbstversorgung mit Lebensmitteln. Und sie suchte Kontakt zu den Peace Brigades International (PBI), die gefährdete Führungspersonen von zivilen Organisationen begleiten. Zuerst kamen Aktivist:innen aus Spanien, später auch aus der Schweiz und Österreich. Der Österreichische Versöhnungsbund unterstützt die Friedensgemeinde seit vielen Jahren. „Sie sind unbewaffnet, können uns also nicht verteidigen“, sagt José Roviro López, „aber durch ihre Präsenz bieten sie eine gewisse Sicherheit. Wenn Ausländer umgebracht werden, bekommt man international Probleme. Einige der Begleiter wurden bedroht, aber ermordet haben sie noch keinen.“
Wenn der soziale Friedensdienst Gestalt annimmt, dann wären Gruppen wie die Friedensgemeinde sicher eine der ersten Initiativen, wo Zivildiener eingesetzt werden könnten. Gleichzeitig gilt es, konkrete Schritte zu setzen, damit die verschiedenen bewaffneten Gruppen an den Verhandlungstisch kommen. Als erstes soll ein bereits vor fast vier Jahren suspendierter Dialog mit der zweitältesten Guerilla, dem Nationalen Befreiungsheer (ELN), wieder in Gang gebracht werden. Friedenshochkommissar Danilo Rueda und ELN-Oberkommandant Antonio García kündigten die Wiederaufnahme der Gespräche Anfang Oktober bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Caracas an, die schließlich am 21. November in der venezolanischen Hauptstadt begonnen haben. Der Friedensdialog war nach einem blutigen Attentat der Guerilla auf eine Kadettenschule im Jänner 2019 abgebrochen worden. Eingebunden sind auch die Garantenstaaten Kuba, Venezuela und Norwegen sowie Carlos Ruiz, der Chef der UN-Verifizierungsmission, Bischof Héctor Fabio Henao und Senator Iván Cepeda.
Vorhersehbar schwieriger wird es mit anderen bewaffneten Organisationen. Da sind nicht nur zwei Gruppen der ehemaligen FARC, die noch immer oder schon wieder gegen Paramilitärs oder staatliche Sicherheitskräfte kämpfen: die sogenannten Dissidenten, die 2016 die Unterschrift unter das Friedensabkommen verweigerten, und die Gruppe FARC-EP Segunda Marquetalia um Comandante Iván Márquez, die nach dem Abkommen aus Sicherheitsgründen wieder in den Untergrund ging. Die Sicherheitsbedenken ehemaliger FARC-Kämpfer:innen sind nicht unbegründet. Seit Unterzeichnung des Friedensabkommens im September 2016 bis Juli 2022 sind 321 ehemalige FARC-Mitglieder ermordet worden, so die Statistik des Studieninstituts für die Entwicklung des Friedens (INDEPAZ), eine NGO, die die Opfer von Massakern und politisch motivierten Tötungen dokumentiert. Hinter den meisten Bluttaten stecken rechte Killer oder Angehörige der Armee.
Die Auftragskiller stehen teilweise im Sold krimineller Organisationen, von denen die wichtigsten in den Drogenhandel verstrickt sind. Entsprechend heftig diskutiert wird der Vorschlag, auch diesen bewaffneten Akteuren ein Angebot zu machen. Die mächtigste dieser Organisationen, der Clan del Golfo, der zur mexikanischen Drogenmafia gehört, hat in einem Brief bereits seine Bereitschaft zu einer Einigung erklärt. Der vom Senator Iván Cepeda entworfene Plan sieht vor, dass reuige Drogenbosse maximal ein Zehntel des illegal erworbenen Vermögens behalten dürfen und verkürzte Strafen absitzen müssen, wenn sich die Organisation als Ganzes der Justiz stellt.
Im Interview mit der Zeitung El Colombiano konkretisiert ein Staatsanwalt seine Bedenken. Niemand könne überprüfen, ob die Angaben über das angehäufte Vermögen stimmen: „Sie könnten viel geringere Summen angeben und den Rest behalten. Außerdem ist nicht klar, wem diese Gelder zustehen, nur den Anführern oder auch den einfachen Mitgliedern.“ Er hält den Vorschlag trotzdem für innovativ und verweist auf Vorbilder in den USA und Italien, wo man dem organisierten Verbrechen ähnliche Angebote macht.
In der Friedensgemeinde San José de Apartadó hat sich seit Amtsantritt von Gustavo Petro im August noch nichts verändert. „Die 27. Militärbrigade ist noch immer da und ist im Bunde mit den Paramilitärs. Die Bürgermeister sind völlig korrupt, sie werden von den Unternehmern manipuliert“, klagt José Roviro López. Dennoch: „Wir haben natürlich Hoffnungen, dass sich bald etwas verändert, weil diese Regierung versprochen hat, dass sich Vieles ändern wird. Allein seit dem Friedensabkommen sind zehn unserer Leute ermordet worden. Unsere Hoffnung ist, dass die Paramilitärs verschwinden und die Repression endlich aufhört.“
Die Erwartungen, die Gustavo Petro entgegengebracht werden, und die Herausforderungen, die auf ihn warten, sind also gewaltig. Und sein Zeitfenster, in dem er auf eine Mehrheit im Kongress zählen kann, ist möglicherweise beschränkt.