Suspekte Unabhängigkeit

Von Tobias Lambert

Die organisierte Zivilgesellschaft gerät in vielen Ländern der Welt zunehmend unter Druck. Das ist in Lateinamerika nicht nur in autoritär regierten Staaten, wie Nicaragua und El Salvador zu beobachten, sondern auch in Mexiko. Die Sozialwissenschaften sprechen von „shrinking spaces“. Jetzt beschließt auch Venezuela ein Gesetz, das den Spielraum von NGOs einschränkt.

Es ist ein umstrittenes Projekt: Am 24. Januar verabschiedete das venezolanische Parlament in erster Lesung das „Gesetz über die Kontrolle, Regulierung, Tätigkeit und Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und verwandten Organisationen“. Hinter dem kryptischen Namen verbirgt sich das Vorhaben, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) künftig schärfer zu regulieren. Kritiker*innen sehen darin einen Versuch, die kritische Zivilgesellschaft zu gängeln, wie dies durch ein ähnliches Gesetz bereits in Nicaragua geschieht.

Das Wandgemälder erinnert an den Putschversuch von Hugo Chávez 1992 © Tobias Lambert
2019 wäre Hugo Chávez 65 Jahre alt geworden. (c) Tobias Lambert

Der Abgeordnete Diosdado Cabello begründete den Vorstoß damit, dass zahlreiche NGOs mit der finanziellen Unterstützung fremder Regierungen, vor allem der USA, rein politische Ziele verfolgten. „Mir liegt eine Liste von 62 NGOs vor, die im Land zu politischen Zwecken tätig sind und von Einrichtungen anderer Länder finanziert werden. Das Ziel ist nicht humanitär oder sozial, sondern die Durchsetzung dessen, was sie als Demokratie verstehen.“ Als Beispiele werden in dem Gesetzestext die US-Organisationen National Endowment for Democracy (NED) und USAID sowie die Open Society Foundation von George Soros genannt.

Laut dem Entwurf müssen sich NGOs künftig beim Rechnungshof oder dem Außenministerium registrieren und ihre Finanzierung offenlegen. Sie dürfen demnach keinen „politischen Tätigkeiten nachgehen“ oder Handlungen fördern, die sich „gegen die nationale Stabilität und die Institutionen der Republik richten.“ Zudem soll ihnen untersagt werden, Gelder anzunehmen, die diesen Zwecken dienen. Bei Nichtbefolgung der neuen Regularien sind Geldstrafen von bis zu umgerechnet 12.000 US-Dollar möglich. Das Gesetz eröffnet aber auch die Möglichkeit, NGOs aufzulösen.

Tatsächlich ist es kein Geheimnis, dass in Venezuela einzelne NGOs als Deckmantel für Umsturzpläne oder Korruption benutzt werden, was allerdings ohnehin verboten ist. Das Gesetz würde voraussichtlich jedoch viele NGOs treffen, die nicht auf Regierungslinie und auf internationale Gelder angewiesen sind. Klar definiert ist „politische Tätigkeit“ nicht, was der Regierung einen Spielraum gibt, der immer wieder neu interpretiert beziehungsweise erweitert werden kann, so wie dies mit anderen Normen ebenfalls nach politischem Kalkül geschieht. „Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, könnte es einen Punkt ohne Rückkehr in der Schließung des zivilen und demokratischen Raums in Venezuela bedeuten“, urteilt daher Marta Valiñas, Vorsitzende der Fact Finding Mission der Vereinten Nationen in Venezuela.

Konflikte zwischen Regierung und oppositionellen zivilgesellschaftlichen Organisationen hat es schon während der Regierungszeit von Hugo Chávez (1999 bis 2013) gegeben, insbesondere weil US-finanzierte Organisationen in putschistische Aktivitäten verwickelt waren. Unter Chávez Nachfolger Nicolás Maduro hat die Missbilligung von Organisierung jenseits von Regierungsstrukturen jedoch eine völlig neue Qualität angenommen. „Unter der aktuellen Regierung gab es einen Rechtsruck im sozioökonomischen und ein autoritäres Abdriften im politischen Bereich“, sagt der venezolanische Soziologe Antonio González Plessmann vom linken Menschenrechtskollektiv Surgentes. Im Zuge des Machtkampfs mit der Opposition habe die Regierung Maduro in den letzten Jahren sowohl liberaldemokratische also auch basisdemokratische Rechte eingeschränkt.

Dies bekommen nicht nur rechte, sondern auch linke Initiativen zu Spüren, die die Chávez-Regierung früher ausdrücklich förderte. Die ab 2005 entstandenen Kommunalen Räte etwa, die einst als basisdemokratisches Kernstück des sozialistischen Projektes von Chávez gedacht waren, sind abgesehen von einigen Ausnahmen längst zu verlängerten Armen der Zentralregierung mutiert. Ursprünglich sollten die Räte vor Ort über die Verwendung finanzieller Mittel entscheiden, die der Staat bereitstellt. Mehrere Räte können sich auf einer höheren Ebene zu einer Comuna zusammenschließen. Doch in den vergangenen Krisenjahren setzte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) überwiegend handverlesene Kandidat*innen für die Posten der Sprecher*innen innerhalb der Räte durch. Gab es zu Chávez‘ Zeiten zumindest noch eine gewisse Konkurrenz zwischen politischen Ansätzen von oben (Partei) und unten (Kommunale Räte), die der Präsident jeweils beide beförderte, hat sich unter Maduro eindeutig die stärkere Kontrolle von oben durchgesetzt. Der Regierung ist schon seit Jahren nicht mehr nur rechte, sondern auch linke Organisierung suspekt.

Das Gesetzesvorhaben zur Regulierung von NGOs könnte nun den im November in Mexiko wieder aufgenommenen Dialog zwischen Regierung und rechter Opposition torpedieren. Ziel der entlang moderat-pragmatischer und radikaler Positionen gespaltenen Regierungsgegner*innen ist es, möglichst transparente Wahlbedingungen für die Präsidentschaftswahl 2024 zu erreichen. Der Regierung geht es hingegen vor allem um die Aufhebung der US-Sanktionen. Anders als bei den letzten gescheiterten Dialogversuchen gab es dieses Mal vorsichtige Hoffnung für weitreichende Abkommen. Denn die USA wollen infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine gerne wieder Erdöl aus Venezuela importieren. Daher haben sie mittlerweile ein Interesse daran, dass konstruktive Ergebnisse erzielt werden, anstatt weiterhin auf einen unrealistischen Regierungswechsel zu pochen. 2019 hatten sie den Import von venezolanischem Erdöl inmitten des Machtkampfes zwischen Maduro und Juan Guaidó gestoppt. Vorangegangene Dialogversuche in der Dominikanischen Republik (2017/18) sowie Oslo und Barbados (2018) waren nicht zuletzt an den USA gescheitert. Im August 2019 endeten erneute Gespräche dadurch, dass die Trump-Regierung neue Sanktionen verhängte. Zwei Jahre später starteten beide Verhandlungsparteien einen neuen Versuch und unterzeichneten zunächst eine „Absichtserklärung“ (Memorandum of Understanding). Darin verpflichten sie sich unter anderem dazu, die Verfassung und die Menschenrechte zu achten und auf Gewalt zu verzichten. Zudem einigten sie sich auf insgesamt sieben Verhandlungsthemen, darunter politische Rechte und Wahlen, Sanktionen sowie politisches und soziales Zusammenleben. Doch im Oktober 2021 lieferte der afrikanische Inselstaat Cabo Verde den Maduro-Vertrauten und Geschäftsmann Alex Saab, der maßgeblichen Anteil an der Umgehung der Sanktionen hatte, an die USA aus. Die Regierungsdelegation weigerte sich aus Protest gegen das US-Vorgehen, die Gespräche fortzuführen.

Für neue Bewegung sorgte erst der russische Angriff auf die Ukraine. Seit März 2022 waren bereits zwei hochrangige US-Delegationen in Caracas zu Gast, mehrere in Venezuela inhaftierte US-Bürger wurden anschließend freigelassen. Im November nun lockerte die US-Regierung im Zuge der Wiederaufnahme des Dialogs die Sanktionen im Erdölbereich leicht. Der Energiekonzern Chevron darf über seine vier Joint Ventures mit dem venezolanischen Staatsunternehmen PDVSA vorerst wieder venezolanisches Erdöl in die USA exportieren. Die Einnahmen werden allerdings mit bestehenden Schulden verrechnet. Eine weitere Einigung sieht vor, dass drei Milliarden US-Dollar aus eingefrorenen Geldern Venezuelas unter UN-Verwaltung für soziale Belange verwendet werden sollen. Die USA pochen darauf, vor einer weiteren Lockerung der Sanktionen konkrete Ergebnisse im Sinn von Zugeständnissen für transparente Wahlen zu sehen. Doch die Regierung Maduro sitzt mittlerweile fest im Sattel und ist innerhalb Lateinamerikas schon lange nicht mehr isoliert. Sie kalkuliert offensichtlich, dass sich die Opposition weiter selbst zerlegt und sieht sich gegenüber den USA, die auf das venezolanische Erdöl schielen, in einer deutlich stärkeren Position als noch vor einem Jahr.

Doch wie der chavistische Verhandlungsführer Jorge Rodríguez erklärte, seien bei der Freigabe der drei Milliarden US-Dollar bisher keine Fortschritte erzielt worden. Eine Fortführung der Gespräche machte er im Januar direkt von deren Freigabe abhängig, einen neuen Termin gibt es noch nicht. Generell haben die Verhandlungen aus Sicht vieler Venezolaner*innen aber ein Legitimitätsproblem. In Mexiko nehmen neben der Regierung die vier größten Parteien teil. Die in den Phasen hoher Polarisierung dominierenden politischen Pole repräsentieren aber laut Umfragen kaum mehr die Mehrheit der Venezolaner*innen. Es fehlt die moderate rechte Opposition, die sich an den Parlamentswahlen beteiligt hatte, in den Augen vieler jedoch von der Regierung korrumpiert ist. Der radikale Oppositionsflügel um María Corina Machado und Antonio Ledezma lehnt ohnehin jegliche Gespräche mit der Regierung ab. Und auch die kleine linke Opposition ist in Mexiko nicht dabei. Die Regierung versucht nach allen Kräften, eine Zersplitterung des Chavismus zu vermeiden und erschwert die Wahlteilnahme für linke Dissident*innen. Und letztlich bleibt für die rechte Opposition das Grundproblem, dass es ohne Zugeständnisse der US-Regierung, die offiziell gar nicht mit am Verhandlungstisch sitzt, keinerlei weitere Lockerungen der Sanktionen geben kann.

Ohnehin ist die Opposition zurzeit vor allem mit sich selbst beschäftigt. Ende Dezember vergangenen Jahres hatten die Abgeordneten aus drei der vier größeren Oppositionsparteien der Ende 2015 gewählten Nationalversammlung dafür gestimmt, das Unternehmen „Interimspräsidentschaft“ endgültig zu beenden. Nur Juan Guaidós ursprüngliche Partei Voluntad Popular hielt daran fest. Dabei hatte die Amtszeit der Abgeordneten offiziell bereits Anfang 2021 geendet. Seitdem verlängerte das Parlament sein Bestehen eigenmächtig Jahr für Jahr und trifft sich weiterhin per Zoom. Im Prinzip ist aber seit über drei Jahren klar, dass Guaidó, der sich im Januar 2019 zum Interimspräsidenten erklärt hatte, keinerlei Macht innerhalb Venezuelas ausübte. Jenseits der internationalen Unterstützung sowie der Kontrolle über milliardenschwere Auslandsbesitztümer des venezolanischen Staates, konnte er keine Erfolge verbuchen, mehrere Umsturzversuche schlugen fehl.

Die über das richtige Vorgehen gegen Maduro nach wie vor uneinige Opposition versucht nun, mittels Vorwahlen eine gemeinsame Kandidatur für die Präsidentschaftswahl Ende 2024 festlegen. Zahlreiche Politiker*innen erheben Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur, darunter auch Juan Guaidó selbst. Es ist alles andere als gewiss, ob sich innerhalb der Opposition am Ende alle an das Votum halten werden.

Zum Autor

Tobias Lambert arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer überwiegend zu Lateinamerika. Seit Jahren beschäftigt er sich intensiv mit Venezuela.