Lateinamerika nach Corona: mehr Armut trotz Arbeit

Von Robert Lessmann

Lohnerhöhungen werden von der Teuerung und der Informalität aufgezehrt. Obwohl manche Regierungen Lohnerhöhungen oberhalb der Inflationsrate durchgesetzt haben, reicht das oft nicht, wie ein aktueller Bericht der ILO (Internationale Arbeitsorganisation), einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf, warnt.

In ihrem Bericht über die Arbeitswelt in Lateinamerika (Panorama Laboral 2023 de América Latina y el Caríbe, https://www.ilo.org/americas/publicaciones/WCMS_906617/lang–es/index.htm), der in den letzten Tagen des vergangenen Jahres vorgelegt wurde, warnt die ILO (spanisch OIT, Organización Internacional del Trabajo) vor inflationsbedingtem Kaufkraftverlust in einem großen Teil der lateinamerikanischen Länder. Dieser wiederum könne zu einer zunehmenden Verarmung der Arbeiter:innen führen, das heißt, dass auch Menschen, die mit einem festen Job in Lohn und Brot stehen, vermehrt von Armut betroffen sind. Normalerweise ist Armut an Arbeitslosigkeit geknüpft, als einem wichtigen von mehreren Faktoren. Doch in diesem Fall nimmt Armut von Personen zu, die eine regelmäßige und bezahlte Arbeit haben, wie die ILO hervorhebt. Das Phänomen ergänzt in empirischer Weise die Aussagen von Álvaro García Linera zum informellen Sektor im Interview „Abschied vom Wolkenkuckucksheim“ (27. Jänner 2024 auf dieser Webseite).

Das Phänomen könne noch zunehmen, so der Bericht, denn obwohl das Beschäftigungsniveau in vielen Ländern wieder den Stand von vor der Pandemie erreiche, blieben die Arbeits- und Familieneinkommen doch dahinter zurück. Der Kaufkraftverlust betrage zwischen fünf und sechs Prozent; in anderen Ländern liege er zwischen neun und 16 Prozent. „In der Mehrzahl der neun Länder, die dazu aktuelle Zahlen vorgelegt haben, sind die durchschnittlichen Reallöhne niedriger als vor vier Jahren, also vor der Pandemie“, so der Bericht.

Dies sogar ungeachtet von Anstrengungen der Regierungen, diesen Trend auszugleichen. So wird ein Bericht der Wirtschaftsagentur Bloomberg herangezogen, wonach es im Jahr 2023 in 12 der 15 untersuchten Länder der Region Lohnerhöhungen oberhalb der Inflationsrate gegeben habe. Wenn man also nur auf die Prozentzahlen schaue, halten die Löhne der Inflation vielfach stand. Dazu gehören beispielsweise Argentinien und Chile, wo der Mindestlohn im Laufe des Jahres mehrfach angehoben wurde. In Argentinien stieg er demnach von 61.953 Pesos im Dezember 2022 auf 156.000 Pesos im Dezember 2023, eine Steigerung von 151,8 Prozent im Vergleich zu einer Inflationsrate von 148,2 Prozent bis November 2023. Auch in Chile gab es 2023 Lohnzuwächse, nachdem ein Gesetz verabschiedet wurde, mit dem der Mindestlohn bis zum 1. Juli 2024 schrittweise auf ein Niveau von 500.000 Pesos angehoben werden soll. Bis 2025 soll es nach dem Plan der chilenischen Regierung dann eine automatische Anpassung der Mindestlöhne an die Inflationsrate geben. Nur drei Länder haben 2023 keine Anpassung der Mindestlöhne vorgenommen: El Salvador, Peru und Venezuela. In Venezuela, wo der Mindestlohn bei 130 Bolívar (3,63 USD lt. offiziellem Wechselkurs der Banco Central de Venezuela) liegt, blieb er seit einer Anpassung durch Präsident Nicolás Maduro im März 2022 gleich, während der Bolívar im Verhältnis zum US-Dollar stark an Wert verlor, so Bloomberg.

Zum Jahreswechsel 2023/24 habe dann Argentinien mit 211 Prozent als weltweiter Inflationschampion abgeschnitten, während der Libanon, wo die Inflation noch bis zum November 212 Prozent betrug, am Jahresende mit 192 Prozent auf Platz 2 lag. Venezuela landete 2023 mit 190 Prozent auf Platz drei, nachdem es zuvor einige Jahre lang die höchste Inflationsrate aufgewiesen hatte. Argentinien ist damit Spitzenreiter bei der Inflation, während es in der Mehrzahl der Länder gelang, sie zu kontrollieren. In Lateinamerika weisen nur Argentinien und Venezuela diese hohen Inflationsraten auf. Alle anderen Länder bleiben unter zehn Prozent, darunter das links regierte Kolumbien mit der höchsten (9,28) und das ebenfalls links regierte Bolivien mit einer der niedrigsten Inflationsraten. In Bolivien hatte die Inflation 2022 noch 3,1 Prozent betragen und die Regierung hatte eine Anhebung des Mindestlohns um 5 Prozent ab dem 1. Jänner 2023 beschlossen. Eine vielfach behauptete Funktion des Mindestlohns als Antreiber einer Inflationsspirale lässt sich aus den Daten jedenfalls nicht ablesen.

Mindestlöhne und Inflation in Lateinamerika Jänner bis Dezember 2023

Mindestlohnerhöhung 2023*       akkumulierte Inflation bis Dez. 2023*

Argentinien                151,8                                     211

Bolivien                           4,9                                        2,1

Brasilien                          9,0                                        4,6

Chile                             15,0                                        3,9

Kolumbien                    16,0                                        9,28

Costa Rica                      6,62                                     -1,81

Ecuador                          6,0                                        1,4

El Salvador                     0,0                                        2,0

Guatemala                     7,0                                       4,06

Honduras                      5,32                                      4,65

Mexiko                        20,0                                        3,93

Paraguay                      5,1                                        3,7

Peru                              0,0                                        3,41

Uruguay                       9,0                                        5,11

Venezuela                    0,0                                   190   

* in Prozent