Von Jürgen Schübelin
„Immer reden die Erwachsenen von den nächsten Generationen, die von den Folgen der Klimaerwärmung betroffen sein würden“, sagt die elfjährige Katherine Olmos, „das ist doch Quatsch! Das, was hier schon jetzt abgeht, ist supergefährlich und verändert das Leben von uns Kindern bereits heute. Das können doch alle sehen!“ Dann korrigiert sie sich: „Könnten alle sehen! Tun sie aber nicht. Bei mir in der Schule sagen viele meiner Klassenkamerad:innen, dass ihnen das Thema zu langweilig oder zu schwierig sei.“ Umso beeindruckender fand Katherine, eine der Sprecherinnen der Mädchen und Jungen im Kindernothilfe-Partnerprojekt Niñas y Niños Sin Fronteras in Santiago de Chile, was sie drei Tage lang mit 20 anderen Kindern und Jugendlichen aus Argentinien, Peru und Chile in dem kleinen Ort El Quisco an der Pazifikküste südlich von Valparaíso erlebte. Das Leitmotiv, unter das sie ihr Treffen gestellt hatten, formulierten sie selbst: „Wir, die organisierten Kinder und Jugendlichen, sind die Beschützerinnen und Beschützer der Erde, des Wassers, der Luft und des Bodens, auf dem wir leben“.
Dass diese Überschrift an die andine Kosmovision von einem harmonischen Leben mit und auf der Mutter Erde (pachamama) und dem ständigen Ringen um eine Welt im Gleichgewicht erinnert, ist sicher kein Zufall. Auch nicht, dass sich die Kinder und Jugendlichen aus den sieben beteiligten Organisationen gerade jetzt für das Arbeitsthema Schutz der Umwelt, Klimaerwärmung und Nachhaltigkeit entschieden haben: „Im Jahr 2023 häuften sich in den drei Ländern, aus denen die Kinder zu diesem Treffen in El Quisco anreisten, die Klima-Extremereignisse“, erklärt die gelernte Erzieherin und Anwältin María Elena Vásquez, eine der beiden Niñas y Niños Sin Fronteras-Direktorinnen: „Da war ganz viel auf einmal zusammengekommen: Starkregen und Jahrhundertüberschwemmungen entlang der gesamten peruanischen Küste mit 113 Todesopfern und 180.000 Menschen, deren Häuser und Wohnungen von den Wasser- und Schlammmassen zerstört wurden, eine wochenlange, kaum auszuhaltende Hitze- und Trockenperiode jetzt während des Sommers hier in Chile, großflächige, bedrohliche Waldbrände und chronischer Wassermangel auf beiden Seiten der Anden,“ und fügt hinzu: „Die Kinder sehen in dem immer maßloseren Raubbau an der Natur gerade in diesem Teil Südamerikas, der Zerstörung der Umwelt und ihren Folgen eine Bedrohung für ihr Leben!“
Anthony Izquierdo (17), auch er einer der Sprecher des Projektes Niñas y Niños Sin Fronteras, lässt das, was die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Treffen in El Quisco berichtet und diskutiert haben, ganz konkret werden: „Diejenigen von uns, die in Riesenstädten wie Lima oder Santiago leben, haben eindringlich beschrieben, wie es ist, schon auf dem Schulweg kaum Luft zum Atmen zu bekommen, weil die Erwachsenen Müll, darunter sogar Autoreifen, auf offener Straße verbrennen und der Verkehrskollaps mit Hunderttausenden von PKWs, Lastwagen und Omnibussen, die stundenlang im Stau stehen, dafür sorgt, dass dir sofort die Augen tränen. Während der Monate mit der stärksten Smog-Belastung ist kein Sport im Freien möglich, Kinder können nicht zum Spielen raus. Vor allem für diejenigen, die auf der Straße leben oder wie viele von uns auf der Straße arbeiten müssen, sind diese Monate die Hölle!“
Die Kinder und Jugendlichen, die sich da für drei Tage im Haus der Christlichen Arbeiterjugend Chiles (JOC) in El Quisco trafen, waren nicht die Greta Thunbergs aus dem Süden des Subkontinents, sondern Mädchen und Jungen aus der Bewegung arbeitender Kinder und Jugendlicher in Lateinamerika (MOLACNNATS – Movimiento de Niñas, Niños y Adolescentes Trabajadores de América Latina y el Caribe) sowie Kinder mit einem Flucht- und Migrationshintergrund. Sieben Organisationen hatten das Treffen gemeinsam vorbereitet, darunter die drei Kindernothilfe-Partner IFEJANT (Lima, Peru), Protagoniza (Coronel, Südchile) und Colectivo Sin Fronteras (Santiago, Chile). Spenderinnen und Spender der Kindernothilfe Österreich steuerten einen finanziellen Beitrag zu diesem workshop bei. Aus Argentinien nahmen Mädchen und Jungen von La Veleta y la Antena teil, einer Initiative, die sich für die Rechte von in der Landwirtschaft arbeitenden, mit ihren Familien aus Bolivien eingewanderten Kindern aus Ugarteche, Luján de Cuyo und Mendoza engagiert. Aus Chile kam eine Gruppe aus dem Armenviertel La Legua im Süden der chilenischen Hauptstadt Santiago, die mit der Kinderrechts-organisation La Caleta zusammenarbeitet – und aus Peru delegierte Jugendliche der beiden Bündnisse MOLACNNATS und MNNATSOP –Movimiento Nacional de Niños, Niñas y Adolescentes Trabajadores Organizados del Perú (Bewegung der arbeitenden Kinder und Jugendlichen in Peru). Begleitet wurden die 20 Mädchen und Jungen von neun Erwachsenen aus den mitwirkenden Organisationen, darunter dem 89jährigen Pädagogen und Salesianerpriester Alejandro Cussiánovich (IFEJANT), einem der weltweit profiliertesten Vorkämpfer für die Rechte arbeitender Kinder und für die aktive Teilhabe und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen an gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen.
Alle sieben Organisationen hatten sich wochenlang intensiv auf das Treffen in El Quisco vorbereitet. Es gab workshops und Vollversammlungen mit allen Mädchen und Jungen, die in den Projekten engagiert sind. „Dabei haben wir gespürt, wie wichtig dieses Thema den Kindern ist“, sagt María Elena Vásquez, „wie intensiv sie sich mit Problemen wie dem Müll auf den Straßen und in ihren Vierteln, mit dem Fehlen von Grünflächen, der Smog- und Abgasbelastung, aber auch Lösungsmöglichkeiten wie dem Mitwirken beim Recyclen von wiederverwertbaren Abfällen beschäftigen“. Für die allermeisten der 11- bis 17jährigen Teilnehmenden waren die intensiven drei Tage in El Quisco die erste Erfahrung ihres Lebens, sich mit Gleichaltrigen aus den Nachbarländern persönlich zu treffen, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und miteinander zu diskutieren.
Was bewegt Kinder und Jugendliche, die zuhause mit ihrer Arbeit jeden Tag einen wichtigen Beitrag dafür leisten müssen, dass ihre Familien es schaffen, irgendwie über die Runden zu kommen, oder sie selbst über die Mittel verfügen, um zur Schule gehen und die Unterrichtsmaterialien bezahlen zu können, dazu, sich derart intensiv mit Klimaerwärmung und Umweltzerstörung auseinanderzusetzen? María Elena Vásquez hat dafür aus El Quisco eine klare Antwort mitgebracht: „Es war wirklich beeindruckend, bei den Diskussionen mitzuerleben, wie präzise da von den Kindern und Jugendlichen herausgearbeitet wurde, wie eng die Ausbeutung von Menschen, extreme Unterschiede zwischen Arm und Reich und der Raubbau an der Natur mit den Folgen der verheerenden Umweltzerstörungen, die wir in Lateinamerika erleben, zusammenhängen!“
Dass das Treffen der Kinder und Jugendlichen in El Quisco in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur 28. Weltklimakonferenz (COP) vom 30. November bis 12. Dezember 2023 in Dubai stattfinden würde, hatten die sieben Trägerorganisationen so nicht geplant, trotzdem ist es Anthony Izquierdo vom Projekt Niñas y Niños Sin Fronteras ganz wichtig zu betonen: „Wir haben während dieser drei Tage ebenfalls ganz viel über Biodiversität geredet, über die bedrohte Umwelt und das gerade hier in Südamerika an vielen Orten in Flammen stehende Ökosystem, über unseren brennenden Planeten.“ Deshalb formulierten die 20 Mädchen und Jungen am Ende dann auch ganz klare Forderungen an die drei Regierungen von Argentinien, Chile und Peru sowie die mit dem Thema Klima befassten internationalen Organisationen: endlich entschlossenere Schritte gegen den CO₂-Ausstoß zu unternehmen, der zerstörerischen Ausbeutung der Natur, vor allem am Beispiel der dramatisch schnell weniger werdenden Wasserressourcen entgegen zu treten und die Interessen der Familien, die von der Landwirtschaft leben, nicht ständig denen großer Bergbau- und anderer Konzerne zu opfern!
„Aber wir haben auch gelernt,“, fügt Katherine Olmos hinzu: „Wir alle können einen Beitrag leisten, damit es so nicht weitergeht! Zum Beispiel die Sache mit dem Müll hängt ganz stark auch von uns ab.“ Für die zukünftigen Diskussionen in ihrer Schulklasse in Santiago hat die Elfjährige aus El Quisco ganz viele neue Argumente mitgenommen. Und damit dabei der Blick immer auch zu den Kindern und Jugendlichen in den Nachbarländern geht, haben sich die 20 Teilnehmer:innen dieses Treffens ganz professionell über die sozialen Medien vernetzt, um sich gegenseitig auf dem Laufenden zu halten: „Was die bei COP 28 in Dubai machen, können wir auch“, erklärt Anthony ganz cool.