Indigene Frauen Guatemalas aktiv in der Mayajustiz

Von Edgar Chitop und Susanne Kummer

Das indigene Recht wurde in den Dörfern im Hochland von Guatemala schon immer praktiziert, aber es wurde offiziell nicht anerkannt und Frauen als traditionelle Rechtssprecherinnen waren noch unsichtbarer.

Bei Demonstrationen und Mobilisierungen standen Frauen schon immer in vorderster Reihe. Die traditionellen Mayaautoritäten, die zum größten Teil aus Männern bestehen, erkennen jedoch nicht an, dass auch Frauen einen wichtigen Beitrag zur Rechtsprechung und soziopolitischen Organisation in den Dörfern leisten. Die Arbeit indigener Frauen  als traditionelle Autoritäten ist für die Gemeinden von großer Bedeutung und stärkt ihre Rolle als aktive politische Akteurinnen und Hüterinnen von Recht und Gerechtigkeit. Außerdem sind sie in der Prävention von genderbasierter Gewalt tätig und betreuen auch Gewaltopfer. Als Zeichen ihrer Autorität in der Gemeinschaft tragen sie einen Stab. Es ist umstritten, ob der Ursprung dieses Stabes kolonial oder indigen ist, denn in beiden Kulturen nutzten Autoritäten den Stab, um ihre Funktion als politische Führung zu demonstrieren.

Anfangs wurde die Teilnahme von Frauen an gemeinschaftlichen Organisations-formen von männlichen Kollegen nicht als normal angesehen, sagt Rosa Petrona Hernández, eine indigene Autorität von Xatinab, Santa Cruz del Quiché. Sie fährt fort: „Jetzt wird unsere Beteiligung als notwendig angesehen, denn um Konflikte zu lösen, müssen sie aus der Perspektive von Männern und Frauen diskutiert werden. Unsere Meinung zählt.“ Doña María Lucas de Zapeta arbeitet seit mehr als 20 Jahren an der Seite ihres Mannes Don Mateo Zapeta, beide aktive traditionelle Autoritäten, die viele Konflikte in den Dörfern lösen. Sie sagt, dass sie Monate damit verbringen könnten, über ihre Erfahrungen mit einer Vielzahl von verschiedenen Arten von Konflikten zu sprechen. Es gibt jedoch immer noch Menschen, vor allem in den Städten und in nicht indigenen Gebieten, die die Legitimität der indigenen Autoritäten  in Frage stellen und argumentieren, dass es in einem Land nicht zwei Rechtssysteme geben kann und dass in Guatemala jeder ohne Unterschied dem staatlichen Rechtssystem unterworfen werden sollte. Allerdings ist das guatemaltekische staatliche Justizsystem nicht in der Lage, den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden, weil es weder über genügend personelle  und finanzielle Ressourcen verfügt, noch territoriale Präsenz in allen Gebieten garantieren kann. Die hohen Kosten für die Nutzer der Justiz und langen Verfahrensdauern führen dazu, dass viele Einwohner, insbesondere marginalisierte Sektoren, ihre Streitigkeiten mit anderen, auch gewaltsamen Mitteln lösen.[1]

Die Mayajustiz funktioniert hingegen demokratisch, gratis und schnell. Die traditionellen Autoritäten, die auch Recht sprechen, werden auf öffentlichen Versammlungen für eine Funktionsperiode, gewöhnlich für ein Jahr, gewählt und erfüllen ihre Funktion ehrenamtlich, wodurch für die Nutzer keine Kosten anfallen. Im indigenen Recht gibt es keine geschriebenen Gesetzbücher, wie sie in den staatlichen Gerichten bekannt sind, wo es z. B. das Zivilgesetzbuch oder das Arbeitsgesetzbuch gibt. „Die Mündlichkeit spielt eine wichtige Rolle“, sagt Suleyma Tipaz, traditionelle Rechtsprecherin  des Dorfes „La Comunidad“. Die  Mayajustiz ist eine Gemeinschaftsjustiz, bei der die kommunalen Autoritäten zusammenkommen und gemeinsam mit  den Familien des Täters und des Opfers beraten, wie der Konflikt gelöst und der Schaden wiedergutgemacht werden kann.

Sebastiana Par, traditionelle Rechtsprecherin und Koordinatorin eines Projektes von Horizont3000, finanziert vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, das die Teilnahme an Frauen an der Rechtsprechung und Mediation als Methode der Konfliktlösung stärken soll, erklärt die Essenz der Mayajustiz folgendermaßen:

„Die Identität der indigenen Völker ist kollektiv, ebenso wie die Verantwortung. Bei der Wiederherstellung der Harmonie in der Gemeinschaft ist es entscheidend zu sehen, was in den Beziehungen zwischen den Menschen, aus denen sie besteht, schief gelaufen ist. Du hörst der Person zu, die versagt hat, und denen, die das Unrecht erlitten haben. Die Rolle der Autoritäten besteht darin zuzuhören, und sie tun dies auf einfühlsame Weise. Das Wichtigste an diesen Resolutionen ist die Wiederherstellung des Gleichgewichts und der Harmonie in den Beziehungen zwischen den am Konflikt beteiligten Personen. Wenn wir diese Idee des rationalen Individuums, die wir von der europäischen Moderne geerbt haben, beiseitelassen und die Möglichkeit in Betracht ziehen, uns in Beziehung zueinander zu sehen, miteinander und mit der Natur, könnten wir den Menschen, die Fehler begangen haben, helfen und uns als Gemeinschaft heilen“, sagt sie.

Im Projekt, das sie leitet, wurden in diesem Jahr zwölf traditionelle Autoritäten geschult (neun von ihnen Frauen), um 122 Mediationen durchzuführen, bei denen in 95 % der Fälle eine Einigung erzielt wurde. Die Initiative für eine stärkere Beteiligung von Frauen als traditionelle Autoritäten wurde sowohl von den Frauen als auch den Gemeinschaften außerordentlich gut angenommen und auch die staatliche Universität hat die traditionellen Autoritäten als Rechtsprecher:innen anerkannt, indem sie genehmigt hat, dass Student:innen ihre Universitätspraktika bei ihr durchführen konnten.

Die erhöhte Anerkennung von traditionellen Autoritäten ist auch bei den derzeit stattfindenden Protesten gegen die korrupte Regierung, die den Wahlerfolg des neu gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo und der Vizepräsidentin Karin Herrera nicht anerkennen wollen, stark bemerkbar. Sie leiteten den öffentlichen Widerstand und zeigten, dass sie das Potential haben, die verschiedenen politischen Akteure zu vereinen. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle außergewöhnliche politische Situation ein guter Rahmen ist für einen Dialog mit der neuen Regierung und den Justizinstitutionen, um ihr Recht auf Rechtspluralismus und ihre eigene gesellschaftspolitische Organisation zu bekräftigen.


[1] Internationale Juristenkommission (IGH); Gerechtigkeit in Guatemala: Ein langer Weg. Jahr 2005. S. 71. L