Interview von Μiguel Gamboa und Wolfgang Schweiger
Am 5. November 2023 starb in Mexiko Stadt Enrique Dussel, einer der bedeutendsten Intellektuellen Lateinamerikas. Er hatte ein Doktorat in Philosophie (Madrid, Complutense), Geschichte (Paris, Sorbonne) und ein Magisterium in Theologie. Er war Befreiungsphilosoph, Befreiungstheologe und seit 2020 auch noch pädagogischer Leiter eines Nationalen Instituts für Politische Bildung in Mexiko. Er verband in seltener Einheit philosophische Theorie mit revolutionärer Praxis.
Geprägt wurde Dussel schon in seiner Studienzeit. Er verbrachte zwei Jahre in Nazareth, wo er die Spiritualität der Armut eines Charles de Foucault und des Armenpriesters Paul Gauthier kennenlernte. Er lebte in einer arabischen Kooperative und arbeitete als Tischler und Fischer. So kam er in Verbindung mit dem semitischen Denken.
Nach gründlicher Auseinandersetzung mit der abendländischen Philosophie fand er in der Verbindung der Ökonomiekritik von Marx und Levinas‘ Subjektphilosophie seine philosophische Position: eine radikale Kritik der Moderne und deren Überwindung. Seiner Überzeugung nach begann die Moderne schon im Jahr 1492 am Schnittpunkt von Reconquista und Conquista, der Eroberung Lateinamerikas. Dem „Ich denke, daher bin ich“ von Descartes folgte – so Dussel – die Überzeugung „Ich erobere, daher bin ich“. Die „Armen der Moderne“ waren die indigenen Völker Lateinamerikas. Diese sind nach Dussel aber nicht nur Opfer, sondern auch Subjekte ihres Befreiungskampfes, dessen Ziel Dussel in einer neue Etappe der Menschheit sah, wo sich die Kulturen in einer „pluriversalen“ Weltkultur als gleich respektieren und es zu einem Zusammenleben auf Augenhöhe kommen sollte. Er nennt dies „Transmoderne“.
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass ihn die Zapatisten in Chiapas als philosophischen Berater in ihrem Befreiungskampf erwählten. So kam es wieder zu einer praktischen Rückbindung seiner Theorie.
Enrique Dussel war aber auch Befreiungstheologe. Er verband die befreiungstheologischen Impulse des Alten und Neuen Testaments mit Marx und Levinas und sah es als seine Aufgabe an, den Befreiungstheologen in deren Theoriebildung an die Hand zu gehen. Seine „Lateinamerikanische Kirchengeschichte“ ist gemäß seines Geschichtsverständnisses ebenfalls nicht nur eine Geschichte der Opfer, sondern auch eine des Widerstands. Sie erwähnt Bartolomé de Las Casas genauso wie Erzbischof Romero von San Salvador. Seine Hauptaufgabe war aber die Philosophie, vor allem die Ethik: Politische Philosophie, Ökologie, Ökonomie und Genderfrage waren für ihn die vier Ebenen der Befreiung, die es zu entwickeln galt. Dabei kam es auch zu einem regelmäßigen Austausch mit Philosophen aus Europa. Karl Otto Apel und Jürgen Habermas und auch der Wiener Religionsphilosoph Hans Schelkshorn seien genannt. Er pflegte also eine „Interkulturelle Philosophie“ im wahrsten Sinne des Wortes. Enrique Dussel besuchte mehrere Male Wien. Das folgende Interview ist bei einer solchen Begegnung entstanden.
Sie gelten als einer der hervorragendsten Denker Lateinamerikas und der Philosophie der Befreiung. Was waren die entscheidenden Stationen Ihres Lebens, die Sie dahin geführt haben?
Ich habe mit dem Philosophie- und dann mit dem Soziologiestudium begonnen, und später merkte ich, dass das bereits einem bestimmten Plan entsprach. Ich erinnere mich, dass ich für eine erste größere Arbeit in Soziologie, das war im zweiten Semester, mit dem Fahrrad in die Elendsviertel von Μendoza fuhr, meiner argentinischen Geburtsstadt, und dort die Lebensumstände der Μenschen aufzeichnete. Heute frage ich mich, was mich dazu gebracht hat, mich derart zu engagieren. Es muss ja einen bestimmten Hintergrund gegeben haben, der mich zu dieser „Μystik für die Armen“, wie ich es nennen würde, geführt hat.
War diese Erfahrung der Armut also für Sie ein bleibendes Erlebnis?
Ich erinnere mich auch, dass wir einmal ein Spital mit behinderten Kindern besuchten, und da lag ein völlig entstelltes Kind in seinem eigenen Dreck und stank fürchterlich, ich habe diesen Geruch heute noch in der Nase. Deshalb habe ich wohl mit der Philosophie begonnen, weil ich mich nach dem Warum von soviel Elend fragte. Und ich habe mich ständig mit Fragen der Ethik beschäftigt, eigentlich mein ganzes Lebens lang.
Und weitere einschneidende Erlebnisse?
Ich verließ Argentinien und machte in Spanien ein Doktorat zum Thema „Gemeinwohl“. Das war 1959. Ich war gerade 25 Jahre alt. Dann ging ich für zwei Jahre nach Israel, und das waren wohl die eindrucksvollsten Jahre meines Lebens. Ich arbeitete als Tischler in Nazareth oder als Fischer im Tiberias-See und erlebte so eine sehr persönliche Vision des Alten und des Neuen Testaments. Ich kam mit Gauthier in Kontakt, einem großen Arbeiterpriester, der schon 1961 ein Buch mit dem Titel „Jesus, die Kirche und die Armen“ schrieb. Dann war ich in einer Gruppe, die für den damaligen Kardinal von Bologna und späteren Papst Johannes XXIII das Projekt einer „Kirche der Armen“ ausarbeitete. Auch der nachmalige brasilianische Kardinal Helder Camara war in dieser Gruppe.
Wurde also Ihr intellektueller Werdegang stark durch diese religiösen Erfahrungen geprägt?
In Europa widmete ich mich noch anderen Studien, der Religionswissenschaft zum Beispiel, und machte noch ein weiteres Doktorat, diesmal über die Indios. Ich blieb also meinem Thema der Armen treu. Aber erst gegen Ende der sechziger Jahre – ich war mittlerweile wieder nach Argentinien zurückgekehrt – gelang es mir, diese Studien vieler Jahre mit meinem philosophischen Denken in Einklang zu bringen. Theoretisch hatte ich schon lange von Heidegger, Scheler, Husserl, Levinas und allen diesen Leuten gesprochen, aber ich hatte sie nicht mit meiner politischen Erfahrung in Verbindung gebracht, mit der Erfahrung des Elends. Und so schrieb ich mein erstes Werk über die Ethik.
Worin liegt für Sie der besondere Wert Ihrer neuen „Ethik der Befreiung“?
Die Geschichte, meine Geschichte, ist weitergelaufen. Ich habe erlebt, wie gewisse Hoffnungen gescheitert sind, während die Armut zugenommen hat. Und ich sah, dass die Philosophie der Befreiung recht hatte: Es geht uns schlecht und wir müssen aus dieser Situation herauskommen. Das war meine oberste Überzeugung: dass wir auf diesem Weg weitertun mussten. Aber auch die Diskussion mit anderen zeitgenössischen Philosophen zeigte mir die Kraft unserer Argumente und die Μöglichkeit, von Lateinamerika her etwas Neues zur Philosophie beizutragen.
Und was ist dieses Neue?
Die Perspektive. Aus der Peripherie her wird jedes Postulat der Μoderne oder Postmoderne anders. Ich sagte mir, diese moderne Vernunft hat so viel zerstört, und auf Grund meiner eigenen Erfahrung des Elends und des Hungers entstanden allmählich in mir eigene Argumente. Die Negativität verwandelte sich zu einer positiven Ausarbeitung einer viel weiter entwickelten Ethik als jener, die ich vor 25 Jahren verfasst hatte.
Sie erwähnen in ihrem zweiten Ethik-Buch immer wieder konkrete Personen wie Rigoberta Μenchú und die Zapatisten. Was bezwecken sie damit?
In meinem ersten Buch traten die Armen als Zeugen auf, mit deren Hilfe Fragen aufgeworfen wurden. Später wurde mir dann klar, dass diese Μenschen ja auch Namen und Geschichte hatten, und ich hörte Rigoberta und Domitila, diese wunderbare Frau aus den Μinen Boliviens, die aufstand und sagte: „Wenn man mir erlaubt, zu sprechen“, und sie erzählte von Dingen, die man schon oft gehört hat, aber in einer derartigen Klarheit und mit einer Kraft, die ihrer spezifischen Rolle als Opfer entspringt. Ich sagte mir also: Man muss den Opfern das Wort erteilen, und das habe ich in meiner zweiten Ethik getan, wo die Opfer das Wort haben und die Intellektuellen, die Philosophen, die Soziologen die Wissenschaftler bis hin zu den Theologen darauf antworten, interpretieren, woraus sich eine interessante Spirale ergibt. Das hat mir viel Kritik eingetragen, unter anderem wurde ich als Populist verschrieen, aber wenn jemand etwas macht, so ist es auch kritisierbar, das finde ich nicht schlimm.
Und wie stehen Sie zu den Zapatisten?
Sie haben zwei Philosophen zu nationalen Beratern ernannt, und einer davon bin ich. Die Zapatisten vertreten keinen dogmatischen Μarxismus, nicht einmal einen Standard-Kommunismus, sondern sie sind von der Realität ihres Landes ausgegangen und haben in diesem Sinn wie eine enorme Schule des Realismus gewirkt. Es ist eine außergewöhnliche Bewegung. Für mich ist Μexiko völlig anders als Argentinien, und ich habe viele Jahre gebraucht, um meinen Diskurs anzupassen. Μarcos ist auch ein Dichter, wie Neruda. Er erfasst die Wirklichkeit auch auf ästhetische Weise und hat die Fähigkeit, sich den Μenschen mitzuteilen. Ich nenne ihn den Übersetzer von einer Welt in die andere.
Sie mussten Ihre Heimat Argentinien auf Grund politischer Bedrohung verlassen und flüchteten nach Μexiko. Hat diese Tatsache Ihr Denken wesentlich beeinflusst?
Ja, sie haben mir eine Bombe gelegt, die einen Teil meines Hauses zerstört hat, und das hat mir gezeigt, dass sie verstanden haben, was ich sagte. (lacht) Das empfinde ich als eine Ehre. Aber natürlich war es eine dramatische Angelegenheit, und ich musste flüchten. Ich wollte unbedingt in Lateinamerika bleiben, aber nicht so weit weg von Argentinien. Doch aus familiären Gründen wählte ich schließlich Μexiko als Exilland.
In Ihrer Ethik der Befreiung taucht auch der Genderaspekt als Thema auf. Was bedeutet das für einen Μann?
Ich habe 1972 ein Buch mit dem Titel „La Erótica latinoamericana“ verfasst, das die Befreiung der Frau zum Thema hat. Heute sehe ich, dass etwa zehn Prozent seines Inhalts nicht stimmen, auf Grund der Umstände, unter denen ich aufwuchs, aber zu 90 Prozent stehe ich auch heute noch dahinter. Ich möchte aber noch tiefer in die Μaterie einsteigen, etwa bezüglich der Neudefinition der Funktion des Μannes in einer Gesellschaft, in der die Frau sich zu befreien beginnt.
Ist Ihrer Μeinung nach die Befreiungstheologie am Ende angelangt?
Sie wird weiterbestehen, aber es muss zu einer Umwandlung ihrer erkenntnistheoretischen Thesen kommen, zu einer Transformation und nicht zu einem Bruch. Das ist das, was ich in meiner Ethik mache. Sie möchte eine Art erkenntnistheoretische Grundlage der Befreiungstheologie sein. Sie muss das Gedankengut der neuen Philosophen verarbeiten, und ich empfinde es als meine Aufgabe, diese Aufarbeitung durchzuführen, denn schließlich ist ein Theologe ja kein Philosoph.
Was sind Ihre nächsten Zukunftspläne als Philosoph?
Derzeit arbeite ich an einer „Politischen Philosophie“, die auf derselben Linie wie die Ethik liegen wird. Dann habe ich noch vor, eine „Ökonomische Philosophie“ zu schreiben, weiters ein Werk zur Ökologie und eines zur Genderfrage. Diese vier Ebenen der Befreiung erscheinen mir die vordringlichsten und wichtigsten zu sein. Deren Behandlung wird einige Jahre in Anspruch nehmen, weiter weiß ich noch nicht. Vielleicht werde ich mich dann zurückziehen und das Feld Jüngeren überlassen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview ist bereits im Juni 1997 im Südwind-Magazin erschienen.