lateinamerika anders Nr. 3 * Juli 2021

editorial

Während hierzulande sinkende Infektionszahlen die Aufhebung nahezu aller mit der Pandemie verbundenen Einschränkungen ermöglichen, bleibt die Lage in Lateinamerika unvermindert dramatisch: Im Juni überschritt die Zahl der Corona-bedingten Todesfälle in Brasilien die Schwelle einer halben Million und von 100.000 in Kolumbien, während Peru die weltweit höchste Todesrate pro Kopf verzeichnet.

Sicher nicht zufällig spitzt sich parallel dazu in vielen Ländern der Region auch die politische und soziale Krise zu: Kolumbien erlebt seit Ende April eine beispiellose soziale Protestbewegung – und ihre blutige Unterdrückung. In Peru, wo auch mehr als zwei Wochen nach der Stichwahl um die Präsidentschaft noch kein offizielles Ergebnis verkündet worden ist, nehmen die Spannungen zwischen den städtischen Eliten einerseits und der verarmten, vorwiegend indigenen und ländlichen Bevölkerungsmehrheit zu, die sich vom Wahlsieg von Pedro Castillo ein Ende der bisherigen neoliberalen Politik erhofft.

Für einen solchen Richtungswechsel hat sich bereits Mitte Mai die chilenische Bevölkerung in eindrucksvoller Weise ausgesprochen und eine verfassunggebende Versammlung gewählt, die im lateinamerikanischen Musterland des Neoliberalismus neue demokratische Perspektiven eröffnen wird.

Um solche Perspektiven, die den Weg aus der aktuellen Krise weisen und die „Infektionsketten“ von Rassismus, Sexismus und Gewalt brechen können, geht es auch in den von Leo Gabriel zusammengestellten Beiträgen dieses Heftschwerpunkts. Ob – wie aktuell in Kolumbien – der Niedergang des Neoliberalismus gewaltsam verlaufen wird, oder ein „Gutes Leben“ für alle auf demokratischem Weg erreicht werden kann, geht auch uns an. Denn wie in der Pandemie gibt es auch auf dieser Ebene keine Lösung in einem Land allein. Diese Erkenntnis hat nicht zuletzt die Zapatistas zu ihrer „Reise für das Leben“ nach Europa bewogen. Auch wenn wir in diesem Sommer lange entbehrte Freiheiten genießen dürfen: Bleiben wir solidarisch und lernfähig! Anregende Lektüre wünscht Hermann Klosius.