Von Erhard Stackl
Rechtzeitig zum Gedenken an den Putsch gegen die Regierung Allende vor 50 Jahren beschreibt ein Insider, wie die „Chicago Boys“ Chile in ein Experimentierfeld des radikalsten Kapitalismus verwandelten. Eine Rezension von Erhard Stackl
Eines unterschied den Putsch in Chile am 11. September 1973 von anderen gewaltsamen Umstürzen in Lateinamerika: Mit ihm wurde erstmals ein neues Wirtschafts- und Gesellschaftssystem an lebenden Menschen experimentell erprobt, durchgesetzt und als angeblich „alternativloses“ Modell in alle Welt, auch des globalen Südens, exportiert: der Kapitalismus des freien Marktes in seiner radikalsten Form.
Erst jetzt, ein halbes Jahrhundert später, ist mit Präsident Gabriel Boric in Chile eine Regierung an die Macht gekommen, die den „Neoliberalismus“ im Ursprungsland überwinden und durch ein sozialeres System ersetzen will. Und ebenfalls erst jetzt hat ein Insider eine kritische Studie über den Aufstieg und Niedergang des Neoliberalismus in Chile veröffentlicht.
Sebastián Edwards beschreibt in seinem Buch „The Chile Project“, wie ein rundes Dutzend in den USA ausgebildeter chilenischer Ökonomen, die sogenannten „Chicago Boys“, vom Pinochet-Regime freie Hand bekam, nach dem Sturz der Linksregierung von Salvador Allende das Land wirtschafts- und sozialpolitisch auf den Kopf zu stellen. Es sind nicht so sehr neue Erkenntnisse – obwohl es auch davon einige gibt –, die das Buch lesenswert machen, als vielmehr die Person des Autors. Sebastián Edwards, 1953 in Santiago geboren, stammt aus einer der mächtigsten Familien Chiles. Der Patriarch Agustín Edwards (1927 – 2017), Eigentümer der rechtskonservativen Tageszeitung El Mercurio, war es, der 1970 nach der Wahl Allendes die CIA und die US-Regierung vor dem angeblich bevorstehenden Ansturm des Kommunismus warnte und ihr Einschreiten forderte.
Sebastián studierte an der Universität von Chicago Wirtschaft, traf Professoren wie Arnold Harberger, den „Vater“ der „Chicago Boys“, blieb aber als Gegner der Diktatur in den USA und wurde ein international bekannter Wirtschaftspublizist. Ganz im Mainstream schreibt dieser Edwards im neuen Buch zunächst, dass die radikalen Reformen Chile letztendlich ein „Wirtschaftswunder“ beschert und das Land in der Wettbewerbsfähigkeit in Lateinamerika an die Spitze gebracht hätten. Gleichzeitig betont der Autor aber, dass am Anfang dieser Entwicklung ein unverzeihlicher Sündenfall gestanden sei.
Chiles „Modell“, das weiß auch Edwards, sei „von einer Diktatur eingeführt worden, einem Regime, das die Menschenrechte verletzte und seine Gegner systematisch verfolgte, inhaftierte und ermordete“. Auch die offiziellen Opferzahlen kommen vor: 2.279 nachweislich vom Militär ermordete Menschen, mehr als 40.000 Verhaftete, Gefolterte oder auf andere Weise Verfolgte. Eine Viertelmillion der damals elf Millionen Chileninnen und Chilenen wurden ins Exil verbannt.
Neoliberale Demokratie
Umso schwieriger ist es – nicht nur für Sebastián Edwards – zu verstehen, dass Chile nach der Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie 1990 das gewaltsam eingeführte „Modell“ beibehielt. Mehr noch: Die Mitte-links-Regierungen von Christdemokraten und pragmatisch gewordenen Sozialisten, die den Neoliberalismus unter Pinochet verdammt hatten, bauten ihn danach noch aus. Zur Privatisierung von Gesundheits-, Bildungs- und Pensionssystem kamen nun private Wasserversorgung, private Flughäfen und Straßen. Hunderte staatliche Firmen und Einrichtungen wurden verschleudert. Das Buch zitiert dazu Gabriel Boric, der das Vorgehen als höchst korrupt bezeichnet hatte, weil die privaten Nutznießer dieser Schnäppchenjagd „Komplizen der Militärs“ waren.
Beibehalten wurde das neoliberale System offenbar auch, weil Chiles Wirtschaft nach der Rosskur, der sie die „Chicago Boys“ unterzogen hatten, wieder wuchs und weil diese Form des Extremkapitalismus inzwischen weltweit in Mode kam.
Doch das System hatte einen weiteren Geburtsfehler: Die „Chicago Boys“ drängten zwar darauf, die – von ihnen zunächst noch verschärfte – extreme Armut durch Geld und Sachleistungen zu bekämpfen (wohl auch um Hungeraufstände zu verhindern). Doch die Ungleichheit war ihnen egal. Schon für ihre Lehrer in Chicago war sie kein Thema. Für dort lehrende Ökonomen wie den aus Österreich stammenden Friedrich A. Hayek stand die ökonomische Freiheit im Zentrum, nicht die Verteilung der Erfolge.
In Chile besitzen ein Prozent der Bewohner 48 Prozent des Gesamtvermögens; die Ungleichheit war und ist eine der höchsten in der OECD. Während in Sozialstaaten Europas der Ungleichheit durch Umverteilung entgegengewirkt wird, sind in Chile die Einkommensunterschiede vor und nach Abzug der (geringen) Steuern gleich.
In diesem Faktum sieht Edwards den Hauptgrund für Chiles „Malaise“, das Unbehagen eines großen Teils der Bevölkerung, der im harten Überlebenskampf steckt und dessen bescheidenes Lebensniveau immer prekär ist, während der behaglich-europäische Lebensstil der Oberschicht unerreichbar bleibt.
Folgt man der Argumentation des Autors, dann hat Chiles Establishment die US-amerikanischen Lehrherren der „Chicago Boys“ ausgetrickst. Nach deren Ideen ging es ja um eine Wettbewerbsgesellschaft mit gleichen Bedingungen, das berühmte „level playing field“, auf dem sich Tüchtige durchsetzen könnten. Chicago-Professor Arnold Harberger, der mit einer Chilenin verheiratet war, habe in Santiago bei Treffen mit Unternehmerverbänden immer wieder gefragt, ob in ihren Reihen bereits Nachfahren von inquilinos (von armen, auf Gütern lebenden Landarbeitern) aufgetaucht seien – und schallendes Gelächter zur Antwort erhalten.
In Chile hatten und haben einige führende Familien, von denen manche bis in die Zeit der Lostrennung von Spanien im frühen 19. Jahrhundert zurückgehen, die größte wirtschaftliche Macht. Auch in den neu entstandenen Wirtschaftszweigen – von der Lachszucht bis zum Lithium-Abbau – tauchen immer dieselben Namen dieser „Grupos económicos“ auf, wie die Oligarchen in Chile genannt werden.
Die Totengräber der Unidad Popular
Sie und ihre Verbündeten in der Mittelschicht waren es auch, die die 1970 gewählte Volksfrontregierung von Salvador Allende bekämpften. Auswirkungen internationaler Krisen, das Ende des Salpeter-Booms und Landflucht hatten im Vorfeld dazu geführt, dass in chilenischen Städten Arbeitsmangel und Obdachlosigkeit herrschten. Die Regierung des von 1964 bis 1970 amtierenden christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei reagierte mit einem Wohnbauprogramm, plante Verstaatlichungen von Monopolbetrieben und Großgrundbesitz – bei finanzieller Entschädigung der Eigentümer –, kam aber aus Geldmangel nicht recht voran.
Zur Schaffung von Arbeitsplätzen setzte man auf das damals übliche Entwicklungsmodell „Industrialisierung durch Importsubstitution“ (ISI). Hohe Schutzzölle sollten es staatlich subventionierten inländischen Firmen ermöglichen, eigene Produkte zu entwickeln oder zumindest importierte Teile von heimischen Arbeitskräften – etwa zu Ford-Autos – zusammenbauen zu lassen.
Weil sich an der Lage der Bevölkerung wenig änderte, wurde diese zum nächsten, radikaleren Schritt bereit: Die von Salvador Allende geführte Volksfront aus Sozialisten, Kommunisten und progressiven Christen sah Länder wie Chile in einer Dependenz vom industriellen Norden gefangen. Sie wollte diese Abhängigkeit beenden, ausländische Großbetriebe und inländische Latifundien (wegen der viele Jahre entnommenen „exzessiven Gewinne“ ohne Entschädigung) verstaatlichen und generell eine Politik zugunsten der Armen einschlagen.
Sebastián Edwards beschreibt die Entwicklung unter Allende als chaotisch. Firmenbesetzungen durch Arbeiter und Streiks hätten zu Versorgungsproblemen geführt, die Bemühungen der Regierung, Mieten und Preise zu kontrollieren, nennt er „surrealistisch“.
Ein Echo davon ist in Österreich auch noch im Sommer 2023 in Aussendungen neoliberaler Think Tanks zu vernehmen, wenn es dort heißt, „Preisregelung hat noch nie funktioniert“. (Übersehen wird dabei, dass sogar in den USA in den Jahren des Zweiten Weltkriegs eine Preisbehörde mit dem Kürzel OPACS in den Markt eingriff und Österreichs Sozialpartner in der „Paritätischen Kommission“ viele Jahre bis zum EU-Beitritt 1994 etliche Preise einvernehmlich festlegten.)
Edwards ruft als Zeugen für das angebliche wirtschaftliche Versagen der Unidad Popular den linken französischen Philosophen Michel Foucault (1926 – 1984) auf, der „in harten Worten“ die „schweren Fehler der chilenischen Marxisten“ beklagt habe.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Allende-Zeit gibt es aber auch schon lange in Chile selbst. So schrieb der linke Soziologe Tomás Moulián anlässlich des 40. Putsch-Jahrestags über die „Fehler der Unidad Popular“ („Volkseinheit“). Der Regierungskoalition aus Sozialisten, Kommunisten und progressiven Christen habe es an der beschworenen „Einheit“ gefehlt. Während die Kommunisten auf einen moderaten Reformkurs bestanden und auch das „politische Zentrum“ (also die Christ- und Sozialdemokraten) dauerhaft einbinden wollten, hätten die (untereinander auch noch zerstrittenen) Sozialisten auf sofortige und revolutionäre Änderungen gedrängt. Die „brüchige“ Regierungskoalition habe es nicht geschafft, die „Allianz auf die Parteien der Mitte auszuweiten“ (Moulián).
Einig ist man sich in der chilenischen Linken heute allerdings, dass ein besseres oder schlechteres Funktionieren der Unidad Popular für den Verlauf der Geschichte nicht von Bedeutung war. Die rechte Unternehmerschaft und ihre Freunde in den USA, angeführt von Präsident Nixons Sicherheitsberater Henry Kissinger, wollten einen Erfolg Allendes auf keinen Fall zulassen. Nixon und Kissinger glaubten, dass ein erfolgreiches sozialistisches Chile nicht nur in Lateinamerika, sondern – nach 1968! – auch in Staaten Südeuropas Nachahmer finden könnte.
Wie Sebastián Edwards in seinem Buch schreibt, begann diese „Kommunismusabwehr“ der USA bald nach dem Zweiten Weltkrieg. Präsident Harry Truman habe aus diesem Grund die „Hilfe an arme Nationen” als wichtige Komponente der US-Außenpolitik bezeichnet. Für Chile bestand die Umsetzung dieser Idee zum Teil darin, Studierende mit Stipendien in den USA ideologisch zu beeinflussen, ab 1955 eben mit der Ausbildung von Ökonomen an der Universität von Chicago, wo Milton Friedman und F.A. Hayek das Evangelium des freien Marktes predigten.
Zurück in Chile wurden diese „Chicago Boys“ vom Establishment zunächst als weltfremd verlacht. Auch Unternehmer schworen dort auf das ISI-Modell mit sprudelnden staatlichen Subventionen. Nur zwei gesellschaftliche Kräfte griffen ihre Ideen des Marktradikalismus auf: zum einen Mercurio-Herausgeber Agustín Edwards, der die Ökonomen ihre Vorstellungen in seiner Zeitung verbreiten ließ. Zum anderen gab es da noch eine frühzeitig involvierte Kraft: hohe Offiziere von Marine und Luftwaffe, die – anders als das nationalistische Landheer – stark mit den US-Streitkräften im Austausch standen.
Neoliberale Handlanger der Diktatur
In den vielleicht interessantesten Kapiteln seines Buchs räumt Sebastián Edwards mit einem Mythos auf, der in Chiles Mainstream bis heute verbreitet ist und der dazu führte, dass die „Chicago Boys“ den Sturz der Diktatur überlebten und ihre Ideen weltweit – auch bei Think Tanks in Österreich – verbreiteten. Laut diesem Mythos waren sie „unpolitische“ Experten, die für sie günstige Zeitumstände genutzt hatten, um eine als richtig empfundene Wirtschaftspolitik umzusetzen. Nach dieser Lesart hätten nach dem Putsch vom 11. September Unternehmerkreise Pinochet gedrängt, rasch wieder zur „geschützten“ Wirtschaft der Zeit vor Allende zurückzukehren; es habe eine Weile gedauert, bis dieser den umstürzlerischen „Chicago Boys“ freie Hand gab.
Das mag zum Teil so gewesen sein. Aber Sebastián Edwards weist nach, dass die „Chicago Boys“ schon Monate vor dem Putsch mit hohen Marineoffizieren Kontakt hatten und in deren Auftrag ein Regierungsprogramm entwickelten. Sofort nach dem Staatsstreich seien einige von ihnen in hohe Positionen, etwa im Wirtschaftsministerium, gehievt worden. (Die nationalistischen Offiziere aus dem Landheer setzten aber durch, dass die unter Allende verstaatlichte Kupferindustrie gegen den erklärten Willen der „Chicago Boys“ in öffentlicher Hand blieb; die Streitkräfte bekommen nämlich jedes Jahr zehn Prozent vom Umsatz der weltgrößten Kupfer-Gesellschaft Codelco überwiesen. Und auch bei der Privatisierung der Pensionen machten die Streitkräfte nicht mit.)
Diktator Augusto Pinochet reizte am neuen System, dass es ihm dabei half, die Organisationen der Linken – Parteien, Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees in den Armenvierteln – auszuschalten. Individuen im Wettbewerb sollten den starken Arm der Solidarität ersetzen. Eine „drakonische Zensur“ (S. Edwards) verhinderte, dass die Massenmedien über Lohnsenkungen, Massenarbeitslosigkeit und aufkeimenden Protest berichteten.
Offizielle Besuche der Nobelpreisträger Friedman und Hayek bei Pinochet, bei denen sie das „chilenische Modell“ zur Nachahmung empfahlen, zeigten dann für alle Welt sichtbar die Verflechtung von absolut freiem Markt und einem brutal autoritären Militärregime auf.
Edwards zeichnet die einzelnen Phasen der chilenischen Entwicklung penibel nach, bis er zu dem Schluss kommt, dass die Ideologie der „Vermarktung von allem“ letztlich gescheitert sei. Immer mehr Menschen lehnten sich gegen das teure private Bildungssystem, die armseligen privaten Pensionen und die schlechte Krankenversorgung auf. Dazu kam noch eine Reihe von politischen Skandalen. Das größte Bergbauunternehmen für Lithium, Chiles nächste Reichtumsquelle, bestach Politiker links und rechts, wohl auch Sozialisten. Hauptaktionär dieser Firma SQM ist Julio Ponce, Ex-Schwiegersohn von Pinochet.
Ein zählebiges Modell
Geht es nach Präsident Boric, dann würde Chile das Lithium nicht bloß extrahieren und zum nächsten Exporthafen transportieren, sondern im Land Batterien und Elektrofahrzeuge herstellen. Nicht nur für Edwards klingt das wie ein Rückgriff auf Ideen der Allende-Zeit, auch wenn Boric anstelle der „altmodischen“ Subventionen modernere Instrumente wie „weiche Kredite“ als Investitionsanreiz anbieten will.
Obwohl Sebastián Edwards die bisherigen makroökonomischen Erfolge Chiles weiterhin lobt, bringt er Verständnis dafür auf, dass ein großer Teil der Bevölkerung das Ende des Modells forderte. Für ihn steht fest, dass die Mehrheit eine neue Verfassung will, auch wenn der – vor allem von sozialen Bewegungen unter starker Teilnahme von Indigenen, Feministinnen und LGBTQ-Gruppen verfasste – erste Entwurf bei einer Volksabstimmung im September 2021 mit 62 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt wurde. Rechte Angstmache vor „kommunistischen“ Reformen und rassistische Töne gegen eine angebliche „Bevorzugung“ der Indigenen hatten Wirkung gezeigt.
Edwards, der die Arbeit am Buch zu diesem Zeitpunkt abschloss, glaubte da noch, dass alle politischen Kräfte am Plan einer neuen Verfassung im Prinzip festhalten würden und Chiles Politik künftig jedenfalls sozialer sein werde. Das von den „Chicago Boys“ entwickelte neoliberale Modell habe sein Ende erreicht.
Doch diese Einschätzung dürfte zu optimistisch sein. José Antonio Kast, Ende 2021 noch gegen Gabriel Boric unterlegener Präsidentschaftskandidat, hat mit seiner ultrarechten Republikanischen Partei mittlerweile den Verfassungsprozess gekapert. Der Parteichef, ein Bruder von Miguel Kast, „Chicago Boy“ und Minister unter Pinochet, betont, dass „damals nicht alles schlecht“ war. Mit harten politischen Attacken, vor allem mit Korruptionsvorwürfen, gelang es der rechten Opposition, Schlüsselleute aus Boric‘ Team herauszuschießen. Diese extreme Rechte droht zudem, den neuen Verfassungsentwurf nach ihren eigenen gesellschaftlichen Vorstellungen (striktes Abtreibungsverbot, keine Berücksichtigung indigener und feministischer Anliegen) zu formen. Unter diesen Umständen könnte sogar die Beibehaltung der – inzwischen abgemilderten – Pinochet-Verfassung das kleinere Übel und die Abschaffung des neoliberalen Modells wieder in die Zukunft verschoben sein.
Sebastián Edwards: The Chile Project. The Story of the „Chicago Boys“ and the Downfall of Neoliberalism. Princeton University Press, 2023; 376 Seiten, € 32,–