Chile vor Kommunalwahlen: Nebelkerzen zum Jahrestag

Interview von Jürgen Schübelin mit Claudia Vera und José Horacio Wood


Ein Tag allein hätte für diesen logistischen Kraftakt nicht ausgereicht: Bei den Wahlen am 26. und 27. Oktober wird in Chile über sämtliche kommunale und regionale Mandate neu entschieden: über 345 Bürgermeister, 2252 Gemeinderäte, 16 Regierungspräsidenten sowie 302 Abgeordnete der seit 2014 direkt gewählten 16 Regionalversammlungen zwischen Arica und Punta Arenas. Alle 15,5 Millionen Wahlberechtigten im Land werden – ob sie nun wollen oder nicht – an einem der beiden Tage abstimmen müssen. Erstmals gilt jetzt auch für Kommunal- und Regionalwahlen in Chile die Pflicht zur Teilnahme. Wer nicht mitmacht, muss eine empfindliche Geldstrafe bezahlen.

Für die verschiedenen politischen Lager im Land geht es dabei darum, gut ein Jahr vor der ersten Runde der Präsidenten-, Abgeordnetenhaus- und Senatswahlen am 16. November 2025 Kräfte zu messen, Diskurse und Allianzen zu erproben und sich für den Kampf um die Macht im Land in eine möglichst gute Ausgangsposition zu bringen. Darüber, wie hart diese Auseinandersetzung bereits seit Monaten geführt wird, wie es dabei den Menschen in Chiles Armenvierteln geht und welche Rolle bei alldem die Kinderrechte spielen, konnten wir mit José Horacio Wood und Claudia Vera von der Fundación ANIDE sprechen, die auf Initiative von Kindernothilfe Österreich Ende September, Anfang Oktober zu einem Arbeitsbesuch in Wien und Graz waren. 

Beim Blick in chilenische Boulevard-Medien hat man den Eindruck, es gebe im Land außer Bandenkriminalität, Mord und Totschlag – vielleicht mit Ausnahme von Fußball und der obligaten Klatsch- und Tratsch-Geschichten um irgendwelche Fernsehstars – keine weiteren Themen mehr. Spielt die Kriminalitäts- und Sicherheitsdebatte bei diesen Kommunal- und Regionalwahlen wirklich eine so dominierende Rolle?

José Horacio Wood: Ja leider! Das kennen wir mittlerweile seit Jahrzehnten: Vor allem vor Wahlen werden durch die Medien die Ängste der Menschen davor, Opfer eines Verbrechens zu werden, massiv verstärkt. Das spielt sich nicht nur in den Boulevardzeitungen und auf den Social-Media-Plattformen ab, sondern vor allem auch im Fernsehen: Ich schätze, dass TV-Nachrichten in Chile zu weit mehr als der Hälfte aus Schreckensmeldungen über Gewalttaten, Überfälle, Schusswechsel und Bandendelikte bestehen. Ich möchte die eindeutig vorhandenen Kriminalitäts-Probleme, denen vor allem die Menschen in den Armenvierteln ausgesetzt sind, nicht relativieren, aber nach Kanada ist Chile immer noch das Land auf dem amerikanischen Doppelkontinent mit der niedrigsten Rate an vorsätzlichen Tötungsdelikten, derzeit 6,7 Fälle pro 100.000 Einwohner pro Jahr. Richtig ist, dass sich dieser Indikator nach dem Ende der Pandemiejahre verschlechtert hat, aber was uns in dieser Wahlkampagne – und auch bereits zuvor – als Zerrbild einer Alltagsrealität und als bewusstes Spielen mit den Ängsten der Menschen zugemutet wird, ist kaum auszuhalten.

Claudia und José Horacio vor dem Kindernothilfe-Büro in Wien; © Jürgen Schübelin

Claudia Vera: Es ist notwendig, diese Sensations- und Horror-Nachrichten im Kontext zu sehen: Seit inzwischen elf Monaten werden in Chile durch Recherchen unabhängiger Investigativ-Journalisten und internationaler Medien nach und nach immer mehr Details des gigantischsten Korruptions- und Machtmissbrauchs-Skandals seit dem Ende des Pinochet-Regimes bekannt – mit dem Anwalt und Strippenzieher Luis Hermosilla im Epizentrum – in den vor allem Entscheidungsträger der Vorgänger-Regierung unter dem Anfang dieses Jahres bei einem Unfall verstorbenen Ex-Präsidenten Sebastian Piñera und seiner Rechts-Rechtsaußen-Regierungskoalition, Teile der Wirtschafts- und Finanzelite Chiles, aber auch eine erschreckend hohe Zahl von Richtern am Obersten Gerichtshof des Landes verstrickt sind. Je enger sich die Schlinge um die Köpfe der Beteiligten aus den ehemaligen Pinochet-Parteien UDI und Renovación Nacional zieht, umso schriller und lauter wird die von ihnen orchestrierte Debatte über innere Sicherheit und werden die Anschuldigungen gegen die derzeitige Mitte-Links-Regierung unter Präsident Boric, nichts oder so gut wie nichts gegen die Kriminalität im Land zu unternehmen, obwohl es durchaus Erfolge der Polizei bei der Bekämpfung der Bandenkriminalität gibt. Diese Ablenkungskampagne mündete zuletzt in ein von den Rechtsaußenparteien angestoßenes Impeachment-(Amtsenthebungs-) Verfahren gegen Chiles Innenministerin Carolina Tohá, das – so kurz vor den Wahlen am 26. und 27. Oktober – für viel Aufregung und Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit sorgte, ehe es am Ende wegen seiner offensichtlichen Inkonsistenz in der Abgeordnetenkammer des Parlaments scheiterte.

José Horacio Wood: Wie zynisch dieses Spiel mit der Angst der Menschen, Opfer eines Verbrechens zu werden, ist, zeigt auch eine andere Episode: Nachdem es Spezialisten der chilenischen Kriminalpolizei zuletzt immer besser gelang, den Geldflüssen rund um die organisierte Drogenkriminalität im Land auf die Spur zu kommen und Geldwäsche-Schnittstellen offenzulegen, verweigerten sich die Rechts- und Rechtsaußenparteien im Parlament mit allen Mitteln dem Versuch der Regierung, nachhaltige rechtliche Grundlagen dafür zu schaffen, es Ermittlern nach richterlicher Anordnung zu ermöglichen, Bankkonten von Verdächtigen einzusehen. Bei dieser mit heiligem Furor geführten Verteidigung des Bankgeheimnisses – selbst beim Verdacht auf schwerste Straftaten – geht es in Wirklichkeit nur darum, die Geldflüsse der Superreichen vor den Augen der Strafverfolgungsbehörden zu schützen.

Erwähnt sei an dieser Stelle aber auch, dass sich unter den Kandidat:innen der Rechts- und Rechtsaußen-Parteien für eine Reihe von wichtigen Bürgermeisterposten Leute befinden, gegen die in der noch laufenden Amtszeit wegen Korruption und Machtmissbrauch ermittelt wird – und die jetzt keinerlei Problem damit haben, ausgerechnet mit dem Versprechen, für saubere Politik, Sicherheit und Ordnung in ihren Kommunen zu sorgen, Wahlkampf zu machen.

In diesen Tagen jährt sich zum fünften Mal der Beginn der massiven Protestbewegung gegen das Wirtschafts- und Finanzsystem und seine Auswirkungen auf Bildungschancen, Renten und extreme Ungleichheit im Land, die ihr in Chile Estallido Social nennt. Millionen Menschen aus drei Generationen gingen damals zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem 19. März 2020 auf die Straße, 32 starben während der Proteste, über 1.050 wurden infolge exzessiver Polizeigewalt zum Teil extrem schwer verletzt. Was ist aus der Sorge um die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Probleme, die vor fünf Jahren die Menschen auf die Straße trieb, geworden?

Claudia Vera: Es gibt in Chile ein neues Schimpfwort: octubristas! So bezeichnen Parteien und Medien aus dem rechten Spektrum diejenigen, die da ab Oktober 2019 protestierten. Weil die Erinnerung der Menschen und selbst ikonische Bilder aus den Tagen des estallido so schnell verblassen, ist es einfach, diese Aufbruchsbewegung als Ganzes als eine kurze Episode mit Chaoten und Gewalttätern als Protagonisten zu diffamieren. Die Probleme, um die es damals ging, wie die katastrophale Überschuldung der Familien, verursacht durch die Anstrengungen, den Schulbesuch und das Studium der Kinder in diesem durch und durch kommerzialisierten Bildungssystem zu ermöglichen, grassierende Altersarmut als Folge des eklatanten Versagens der aktienbasierten privaten Rentenversicherungen, die strukturellen Defizite bei der öffentlichen Gesundheitsversorgung und eine sich immer dramatischer zuspitzende Umwelt- und Klimakrise, sind mehr denn je akut, spielen aber leider in der Wahrnehmung einer Mehrheit der Menschen keine zentrale Rolle mehr. Eben deshalb ist es möglich, einen solchen Nebelkerzen-Wahlkampf zu führen, wie wir ihn gerade erleben.

Veranstaltung auf der Plaza Nuñoa in Santiago in Erinnerung an die Proteste vom Oktober 2019 mit Augensymbolen für die verletzten Demonstrant:innen; © Ximena Galleguillos

Wie wirkt sich die schmerzhafte historische Niederlage, die die engagierte chilenische Zivilgesellschaft, Menschen aus den sozialen Bewegungen, den Stadtteilorganisationen, vieler Kirchen und große Teile des Spektrums der demokratischen Parteien mit der Ablehnung des Entwurfs einer fortschrittlichen Verfassung beim Volksentscheid des 4. September 2022 erlitten, derzeit aus?

José Horacio Wood: Dieses Ergebnis beim Plebiszit von vor zwei Jahren, mit 61,8 Prozent Stimmen gegen einen Verfassungsentwurf, der endlich die Chance eröffnet hätte, Chile auf den Weg zu einem demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu bringen, ist – neben dem Pinochet-Putsch vom 11. September 1973 – so etwas wie die Ur-Katastrophe unserer Generation. Weil dieses Referendum so dramatisch scheiterte, ist es denen, die für das ultraliberale Wirtschafts- und Finanzmodell – eingebettet in einen konservativ-autoritären Gesellschaftsrahmen – stehen, gelungen, die sozialen Bewegungen, die den Protest vom Oktober 2019 getragen und die Erarbeitung eines fortschrittlichen Verfassungsentwurfs erkämpft haben, zu diffamieren und in den Schatten zu drängen. Ständig bekommen wir zu hören: ‚Das mit dem estallido war ein Moment kollektiven Wahnsinns, angestachelt von kriminellen Agitatoren‘. Auch weil es in den demokratischen politischen Parteien bis heute keine ernsthafte, selbstkritische Aufarbeitung des Scheiterns dieses Aufbruchsprozesses von 2019-2020 gibt, vertrauen Menschen und Initiativen, die sich für das Zusammenleben in den Stadtteilen, für den Schutz von Natur und Umwelt, für Frauenrechte, für die Belange der indigenen Gemeinschaften, für queere Communities oder die Rechte von Geflüchteten einsetzen, diesen Parteien nicht mehr. Und die Menschen in den Armenvierteln der großen Städte fühlen sich mit ihren existentiellen Problemen, wie explodierenden Lebenshaltungskosten bei viel zu geringen Einkommen und einer nach wie vor dramatisch hohen Arbeitslosigkeit, überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Ihr Vertrauen in Politik und diejenigen, die sie repräsentieren, tendiert gegen null. Um es ganz ehrlich und nüchtern zu sagen: Aus unserer Sicht gibt es derzeit keinerlei Chance für einen neuen Verfassungsprozess und für einen Wechsel der politischen Rahmenbedingungen – auch nicht auf kommunaler und regionaler Ebene, selbst wenn diese noch so dringend wären!

Noch ist in Chile bis zum 11. März 2026 eine Mitte-Links-Koalition unter Präsident Gabriel Boric an der Regierung. Gibt es aus eurer Sicht als Kinderrechts-Organisation, trotz der von euch beschriebenen extrem schwierigen politischen Rahmenbedingungen und großen Unzufriedenheit, zumindest einige Verbesserungen für die Menschen mit niedrigem Einkommen?

Claudia Vera: Wir bewerten es als kleinen Fortschritt, dass jetzt endlich in Chile die gesetzliche Regelarbeitszeit schrittweise von 44 auf 40 Wochenstunden abgesenkt wird. Das bedeutet für viele Familien zumindest eine gewisse Entlastung. Positiv sehen wir auch die Anstrengungen des Bildungsministeriums – trotz erbitterten Widerstands der rechten und  extrem rechten Parteien im Parlament – das Instrument eines durch den Staat abgesicherten Studiendarlehens (CAE) mit einem reduzierten Zinssatz einzuführen, um Studierende und ihre Familien zumindest partiell vor institutionellen Kredithaien und Überschuldung zu schützen. Zu erwähnen wäre ein weiterer wichtiger Entlastungsaspekt: Die Regierung hat die Zwangs-Zuzahlungen bei Arzt- und Krankenhausbesuchen von Menschen, die über das staatliche Basisversicherungssystem FONASA abgesichert sind, abgeschafft. Aber an einer anderen Stelle, die gerade für die Menschen mit niedrigem Einkommen so wichtig wäre, gibt es keinerlei Fortschritte: Bei der Reform des aktienbasierten Rentenversicherungs-Systems bei privaten Anbietern, in das Arbeitnehmer:innen gezwungenermaßen einzahlen müssen. Hier blockieren die rechten und konservativen Parteien im Parlament konsequent jeden Veränderungsversuch.

Ambulante Händler haben kurzerhand auf der Plaza Nuñoa Wahlplakate beiseite geräumt, um ihre Angebote in Szene zu setzen; © Ximena Galleguillos

José Horacio Wood: Zu den Entwicklungen, die uns trotzdem Mut machen, gehört, dass viele Menschen ihre Fähigkeit, sich über Korruption und Machtmissbrauch zu empören, nicht verloren haben! Der caso Hermosilla, über den wir vorhin sprachen, hat bei ganz vielen Indignation und Entsetzen ausgelöst. Das gilt im Lokalen auch für die Teams der Partnerprojekte von ANIDE und der Kindernothilfe Österreich, die dann, wenn sie im Alltag miterleben, dass beispielsweise bei Institutionen, Behörden oder Dienstleistern vor Ort gepfuscht oder zu Lasten der Menschen im Armenviertel manipuliert wird, protestieren, Widerstand leisten. Dieses Sich-Nichts-Gefallen-Lassen finden wir sehr beeindruckend, das ist – sozialwissenschaftlich formuliert – aktive Resilienz! Und die Teams in den Projekten haben dafür im Lauf dieser Jahre eine unglaubliche Kreativität entwickelt. Sie sehen sich – gemeinsam mit den Eltern der Kinder und Jugendlichen und der organisierten Nachbarschaft in den Vierteln – als erste Verteidigungslinie gegen den Machtmissbrauch von Autoritäten – und auch ungerechtfertigte, exzessive Polizeigewalt.

Die Fundación ANIDE hat zusammen mit anderen Kinderrechts-Organisationen und Netzwerken in Chile fast drei Jahrzehnte lang engagiert für ein nationales Kinderrechte-Statut gekämpft, das die Brücke zwischen der 1989 verabschiedeten UN-Kinderrechtskonvention und dem chilenischen Rechtssystem schlagen sollte. Im März 2022 wurde dieses Statut endlich verabschiedet und in Kraft gesetzt. Wie sieht es heute, zweieinhalb Jahre später, mit der institutionellen Absicherung der Kinderrechte in Chile aus?

Claudia Vera: Es gibt jetzt seit Kurzem ein neues Rahmendokument der Regierung zur Kinderrechtspolitik, erarbeitet vom Ministerium für Soziale Entwicklung. Darin werden unter anderem Prioritäten für staatliche Antworten auf die wachsenden Fallzahlen von Gewalt gegen Kinder, für den Schutz von Kindern aus Flüchtlings- und Migrantenfamilien, und – ein Thema, mit dem wir uns seit der Corona-Pandemie besonders intensiv beschäftigten – für die ‚Nachhaltigkeit des Schulbesuches‘ beschrieben. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Sorge um Zehntausende von Kindern, die nach den Corona-Jahren nicht mehr in die Schulen zurückgekehrt sind und zu denen die Lehrerinnen und Lehrer jeglichen Kontakt verloren haben. Dass die Regierung, wenn auch sehr spät, dieses Problem so offen benennt, ist ein positives Signal, auch wenn den betroffenen Kindern im Einzelfall noch immer kein konkretes Angebot unterbreitet wird. Einen Fortschritt bedeutet auch, dass es mit der Schaffung von Kinderrechtsbüros – Oficinas Locales de la Niñez (OLN) – auf lokaler Ebene vorangeht. Es gibt inzwischen Kommunen, in denen diese wichtigen Anlaufstellen gut funktionieren, in anderen hingegen noch gar nicht, weil die benötigten Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Hier hätten wir ein sehr wichtiges Thema gehabt, das es in diesem zu Ende gehenden Wahlkampf verdient hätte, ernstgenommen zu werden, es aber einfach nicht durch diese mediale Wand aus Nebelkerzen, von der wir sprechen, geschafft hat. Ein Ansporn mehr, um nicht locker zu lassen!

Zu den Interviewten: Der Anthropologe José Horacio Wood arbeitet seit 1995 bei der Fundación ANIDE (Fundación de Beneficiencia de Apoyo a la Niñez Desprotegida), der Kindernothilfe-Österreich-Partner- und Koordinationsstruktur in Chile, und wurde 2001 zum Direktor dieser ökumenischen Stiftung berufen. Seine Kollegin Claudia Vera ist Germanistin und seit 1991 bei ANIDE, bzw. der Vorgänger-Organisation Programa de Menores, als Programm- und Projektkoordinatorin engagiert. Claudia Vera begleitet und betreut seit vielen Jahren auch die Lern- und Freiwilligendienstleistenden des Bündnisses Evangelische Freiwilligendienste in Chile. Chile war 1969 das erste Land in Lateinamerika, in dem sich die Kindernothilfe engagierte.