Haiti: Vom Aufbäumen der Frauen aus der Gwoup dantred-Bewegung

Interview von Jürgen Schübelin

„Jeden Abend denken wir, es kann doch einfach nicht noch schlimmer kommen“, sagt Marie Caridade Valcourt, „aber am nächsten Morgen werden wir eines Besseren belehrt: In diesem Inferno gibt es kein Sicherheitsnetz und keine Haltelinien!“ Angesichts des Kollabierens der letzten verbliebenen Überreste staatlicher Strukturen in Haiti und der Machtübernahme durch Warlords und ihre bis an die Zähne bewaffneten Gangs fürchtet die gelernte Sozialarbeiterin und Expertin für nachhaltige Entwicklung am meisten, dass die letzten Ressourcen der Haitianer:innen an Leidensfähigkeit und Überlebensstrategien demnächst aufgebraucht sein werden: „Dieses Gefühl des völligen Ausgeliefertseins, die ständige Angst um die eigenen Kinder und davor, jederzeit selbst Opfer von Gewalt werden zu können, bestimmen“, so Valcourt, „den gesamten Tagesablauf der allermeisten, die in den von den Banden kontrollierten Teilen Haitis leben.“ In der Hauptstadt Port-au-Prince sind das inzwischen 90 Prozent der Menschen.

Hinzu kommen die sich dramatisch zuspitzenden Versorgungsprobleme, die wachsenden Schwierigkeiten, ausreichend Trinkwasser und Nahrung zu beschaffen. 5,5 Millionen – knapp die Hälfte der Menschen im Land – sind nach jüngsten Zahlen des Welternährungsprogramms (WFP) entweder bereits stark unterernährt oder von akutem Hunger bedroht. Darüber, wie aus einer sich seit Jahren vor den Augen der ganzen Welt aufbauenden und zuspitzenden Krise im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre ein derartiger Absturz ins Bodenlose werden konnte – und über das Aufbäumen der Frauen aus der haitianischen Selbsthilfe-Gruppen-Bewegung (Gwoup dantred) sprachen wir Anfang April mit der Frauen- und Kinderrechts-Aktivistin Caridade Valcourt aus dem Kindernothilfe-Haïti-Team in einem Video-Interview.

Inwiefern hat der Überfall auf die beiden größten Gefängnisse Haitis und die Befreiung von 4.500 inhaftierten Gangmitgliedern in der Nacht zum 3. März die Situation der Menschen in den bidonvilles, den Armenvierteln von Port-au-Prince, noch einmal verändert?

Caridade Valcourt: Eine Anmerkung vorab: Es ging diesen Banden vor allem auch darum, dem ganzen Land, den Vereinten Nationen und den internationalen Unterstützern des bei der Bevölkerung extrem unpopulären Interims-Ministerpräsidenten Ariel Henry, der schließlich am 12. März, neun Tage nach dem Gefängnissturm, von Puerto Rico aus endlich seinen Rücktritt ankündigte, den kompletten Kontrollverlust, die Hilflosigkeit der taumelnden staatlichen Institutionen Haitis vorzuführen und zu sagen: Seht her, niemand kann sich uns in den Weg stellen! Das ist auch der Hintergrund für die groteske Forderung des derzeit wohl mächtigsten Banden-Chefs Jimmy ‚Babekyou‘1 Chérizier, an der sich über Wochen quälend mühsam hinziehenden Bildung eines präsidialen Übergangsrates und der Vorbereitung von Wahlen beteiligt zu werden. Fest steht: Seit dieser Nacht vom 2. auf den 3. März ist der letzte Rest an Alltag, der den Menschen geblieben war, einem blutigen Albtraum gewichen: Die aus den Gefängnissen geholten 4.500 Häftlinge beteiligten sich sofort an Plünderungen von Geschäften, Überfällen auf Ministerien, Polizeistationen, Banken – sowie auf die Terminals, Containerlager und Quais im Hafen von Port-au-Prince, über den der größte Teil der internationalen Hilfsgüter – etwa des Welternährungsprogramms – ins Land kommt. Und sie griffen die beiden einzigen internationalen Flughäfen an, mit der Folge, dass es nun auch keine Verbindungen mehr auf dem Luftweg von und nach Haiti gibt. Für die Menschen in den bidonvilles ist jedoch ganz klar der Zusammenbruch der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser das größte Problem: Wenn die Arbeit der tausenden kleinen Händlerinnen und Händler auf den Straßen nicht mehr möglich ist und es die Fahrer der Lastwagen mit den Wassertanks nicht mehr bis in die Armenviertel schaffen, wird es ganz schnell lebensbedrohlich. Und dass zuletzt auch immer mehr Krankenhäuser in Port-au-Prince nach Überfällen und Brandschatzungen durch Gangs, der Ermordung von Ärzten und Pflegepersonal sowie wegen des Fehlens von Medikamenten und Treibstoff für die Stromgeneratoren die Arbeit einstellen müssen, das macht aus der Krise schlicht eine Katastrophe.

Mohamed Irfaan Ali, der Präsident von Guyana und derzeitige Vorsitzende des Karibikstaaten-Bündnisses CARICOM, erinnerte beim jüngsten Krisentreffen dieser Allianz in Jamaica daran, dass seit Jahresbeginn in Haiti deutlich mehr Menschen durch die Gewalt und Brutalität der Banden ihr Leben verloren haben als während des gleichen Zeitraums in der von Russland angegriffenen Ukraine. Gibt es für die Menschen im Großraum Port-au-Prince überhaupt noch irgendwelche Möglichkeiten, sich zu schützen?

Viertel im Stadtteil Delmas von Port-au-Prince: In den Bidonvilles der Hauptstadt war die Kontrolle durch schwerbewaffnete Gangstergruppen seit Jahren total; © Jürgen Schübelin

Caridade Valcourt: Mit Einbruch der Dunkelheit verbarrikadieren sich die Menschen in den Hütten und Häusern. Und auch tagsüber ist nur unterwegs, wer unbedingt muss. Die allermeisten Kinder gehen nicht mehr zur Schule. Die Ausübung all der für Haiti so typischen informellen Tätigkeiten, um Geld zu verdienen, ist extrem gefährlich geworden. Und was seit März noch einmal massiv angestiegen ist, sind die Zahlen derjenigen, die irgendwie versuchen, aus der Hauptstadt herauszukommen: Die Vereinten Nationen sprechen mittlerweile von 360.000 Binnenflüchtlingen! Das Problem ist, dass es inzwischen nur noch ganz wenige Orte und Gebiete gibt, in denen die Menschen sicher vor dem Terror und der Gewalt der Gangs sind. Ende 2023 war zumindest in den Departements im Nordosten und Süden die Lage noch einigermaßen stabil. Aber auch das ist inzwischen leider Geschichte: Aus Saint-Marc, Gonaïves, Cap-Haïtien, Ouanaminthe, Miragoâne, Jacmel und auch vielen kleineren Städten häufen sich die Berichte über von schwerbewaffneten Banden begangene Gewalttaten. Die Gangs kontrollieren mittlerweile alle Straßenverbindungen, mit der Folge, dass Haiti wie ein in viele kleine Einzelteile zerschlagenes Scherbenfeld wirkt.

Caridade, Sie koordinieren jetzt seit zehn Jahren das Netzwerk der Frauenselbsthilfe-Gruppen in Haiti (SHG), die Gwoup dantred-Bewegung. Wie ist es inmitten einer so komplexen Multi-Krise überhaupt möglich, dass sich die Frauen weiter treffen, weiter arbeiten?

Caridade Valcourt: Diese Bewegung entstand 2010, 2011, kurz nach der Erdbebenkatastrophe mit ihren vermutlich über 250.000 Toten und Hunderttausenden Menschen in Notlagern. Sie war eine Antwort auf die Praxis vieler internationaler Organisationen, die Haiti nach dieser Jahrhundertkatastrophe regelrecht fluteten und oft völlig unkoordiniert Hilfsgüter verteilten, ohne die Betroffenen einzubeziehen oder irgendeine Perspektive von Nachhaltigkeit zu entwickeln. Bei den Gwoup dantred geht es hingegen darum, dass sich Frauen in Lebenssituationen von Armut und extremer Armut – unterstützt von lokalen Nichtregierungs-Organisationen – in kleinen Gruppen zusammentun und durch bescheidene wöchentliche Sparbeiträge, die sie selbst verwalten, die Möglichkeit schaffen, reihum untereinander Darlehen zu vergeben. Von diesem Geld finanzieren die Frauen kleine Geschäftsideen, kaufen zum Beispiel in der nächsten Stadt Dinge des täglichen Bedarfs ein, die sie weiterverkaufen. Mit dem Erlös zahlen sie das Darlehen zurück und erwirtschaften für sich einen kleinen Gewinn, der die Situation ihrer Familien verbessern hilft. Die weitgehende faktische Übernahme der Macht im Land und die territoriale Kontrolle durch die Gangs hat die Arbeit der Frauengruppen komplett verändert: Es ist praktisch nicht mehr möglich, dass sie sich offen treffen, um ihre wöchentlichen Versammlungen abzuhalten. Und weil an ein unbehelligtes Durchkommen nicht mehr zu denken ist, können auch die Einkaufs- und Versorgungsfahrten in die größeren Städte mit ihren Märkten in der gewohnten Art und Weise nicht mehr stattfinden. Aus einer stolzen, selbstbewussten – öffentlich sichtbaren –Bewegung organisierter und erfolgreicher Frauen ist unter dem Druck der Ereignisse in kürzester Zeit eine Art unsichtbares Netzwerk geworden!

Was bedeutet das? Wie reagieren die Frauen aus den Gwoup dantred auf diese Entwicklung? Wie müssen wir uns die Arbeit dieses Netzwerkes konkret vorstellen?

Caridade Valcourt: Darauf gibt es keine einheitliche Antwort. Die Lage in den verschiedenen Departements unterscheidet sich zum Teil deutlich. Überall gleich dramatisch sind jedoch die enorm gestiegenen Kosten für Nahrungsmittel und Dinge des täglichen Bedarfs. Zum Teil versuchen die Frauen, an den Kontrollposten der Gangs vorbei in die Städte zu gelangen, etwa nach Gonaïves oder sogar nach Port-au-Prince, um dort Produkte einzukaufen, die sie dann wieder herauszuschmuggeln versuchen. Unterstützt werden sie von Frauen aus anderen Selbsthilfegruppen, die sie über das Handy darüber informieren, wo gerade Bandenmitglieder unterwegs sind. Zum Teil lassen sich die „Maut-Stellen“ der Gangs aber nicht komplett umgehen, dann versuchen die Frauen, möglichst niedrige „Tarife“ auszuhandeln, um durchgelassen zu werden. Aber all das erhöht die Kosten, macht die Arbeit der Gwoup dantred schwieriger und gefährlicher. Das Problem besteht darin, dass die Tap-Tap-Verbindungen (Fahrten mit zu Sammeltaxis umgebauten Pick-ups) oder Lastwagen-Routen in vielen Departements nicht mehr existieren, weil es kaum mehr Treibstoff gibt. Zum Teil sind nur noch Motorräder unterwegs, die jeweils ein oder zwei Passagiere befördern. So eine Tour dauert jetzt zwei Tage hin und zwei Tage zurück oder noch länger. Was die Möglichkeit der Frauen sich zu treffen anbelangt, berichten die Gruppen, dass sie nicht mehr offen, im Freien, zusammenkommen, sondern in einzelnen Hütten, zu unterschiedlichen Zeiten, oft nur ganz kurz – immer mit den Handys koordiniert und immer mit Menschen aus der Nachbarschaft, die warnen, wenn bewaffnete Gangmitglieder auftauchen. Überhaupt spielen Prepaid-Handys für die Frauen-Selbsthilfe-Gruppen eine vitale Rolle: Über sie können nicht nur Informationen ausgetauscht, Treffen koordiniert und Absprachen getroffen werden. Die Handys sind auch das Instrument, um kleinere Geldbeträge zu transferieren – und für uns, um die Gruppen zu unterstützen und ständig – etwa über WhatsApp–im Kontakt zu bleiben.

In der aktuellen Situation kaum denkbar: typische Szene eines Treffens einer der Frauen-Selbsthilfegruppen aus den Dörfern im Hinterland des Departements Artibonite; © Jürgen Schübelin

All das hört sich an wie der Bericht über die Aktivitäten einer Untergrundorganisation in einem besetzten Land…

Caridade Valcourt: Nur, dass in diesem Fall die Besatzer aus den Armenvierteln der eigenen Städte kommen und es keinerlei Regeln und Grenzen für die Brutalität und Gewalt selbst gegenüber den Schwächsten und Ärmsten gibt! Besonders bitter: Zuletzt wurden auch Frauen aus der Gwoup dantred-Bewegung Opfer von Entführungen und Lösegelderpressungen. In einem Fall lautete die Forderung 4.000 Dollar für die Freilassung einer jungen Mutter! Aber es geht nicht nur um Raub- und Beutezüge, Lösegeld- und Schutzgelderpressungen, sondern immer auch um territoriale Kontrolle und totale Macht über die in einem Gebiet lebenden Menschen.

In Berichten über Gewaltexzesse von Gang-Mitgliedern ist immer wieder auch von besonders brutalen Vergewaltigungen und Misshandlungen von Frauen die Rede. Welche Rolle spielt in diesem apokalyptischen Szenarium das Thema toxischer Männlichkeit?

Caridade Valcourt: Eine ganz zentrale! In der Welt dieser jungen Männer, für die es zuvor in ihrem Leben nie eine Perspektive gab und die sich jetzt mit einer automatischen Waffe in der Hand mächtig und wichtig fühlen, deren Selbstbewusstsein wächst, weil sie spüren, dass Menschen Angst vor ihnen haben, ist sexualisierte Gewalt Teil dieses Adrenalin-Kicks. Frauen und – besonders verstörend – zuletzt auch immer wieder Mädchen, die gerade mal zwölf Jahre alt sind, ohne jegliches Risiko, dafür jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden, unterwerfen und verletzen zu können, einfach, weil sie die Macht dazu haben, ist neben dem versprochenen Reichtum so etwas wie ein zusätzlicher Motivationsfaktor des „Jobangebots“ durch Warlords vom Stil eines Jimmy ‚Babekyou‘ Chérizier. Dahinter steckt ein archaisch-brutales Weltbild: Frauen müssen sich unterordnen, dienen, sind nirgendwo sicher und haben keinerlei Rechte! Ich bedauere sehr, dass in vielen Berichten über Haiti dieser Aspekt immer zu kurz kommt.

Gibt es irgendetwas, was in dieser Situation trotzdem Mut macht?

Caridade Valcourt: Ja, dass es dieses Netzwerk unterhalb des Radarschirms der Warlords und ihrer Gangs immer noch gibt und dass die Zahl der Frauen in den Gruppen zuletzt sogar gewachsen ist! Ganz beeindruckend finde ich, wie Frauen aus den Gwoup dantred in und um Port-de-Paix im Département Nord-Ouest andere Frauen und ihre Kinder, die vor dem Bandenterror in der Hauptstadt geflohen sind, aufgenommen haben und unterstützen. Es berührt mich sehr, wie wichtig den Frauen das Nicht-Abreißen-Lassen des Austauschs untereinander ist und wie kreativ sie dafür die Möglichkeiten von Apps und andere Instrumente digitaler Kommunikation nutzen. Und dann natürlich der Mut und der Erfindungsreichtum, um in kürzester Zeit Schmuggel- und Versorgungsrouten abseits der von den Gangs kontrollierten Straßen organisiert zu haben und intensiv zu nutzen! Das ist richtig beeindruckend!

Was brauchen die Gwoup dantred in dieser Situation von uns?

Caridade Valcourt: Wir benötigen finanzielle Hilfe, um dieses Netzwerk im Untergrund zu unterstützen; Mittel, die wir den Gruppen direkt per Handy-Überweisungen zukommen lassen können, um bei den immens gestiegenen Logistik- aber auch Telefonkosten für etwas Entlastung zu sorgen. Und mein größter Traum wäre, dass sich französisch- und kreole-sprechende Menschen mit psychotherapeutischer Ausbildung außerhalb von Haiti motivieren ließen, um per WhatsApp oder ähnlichen Instrumenten am Computer in Videoschaltungen psychologische Unterstützung anzubieten, Frauen, Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Gewalt geworden sind, zu helfen; also eine Art von psychologischer Notfall-Telemedizin unter Extrembedingungen!


1 Kreol-Version von „Barbeque“

Marie Caridade Valcourt ist Haitianerin, gelernte Sozialarbeiterin mit einem Master-Studium in Strategie-Management und nachhaltiger Entwicklung und in einer evangelischen Kirchengemeinde engagiert. Seit zehn Jahren koordiniert sie das Kindernothilfe-Selbsthilfe-Gruppen-Programm in Haiti und ist in dieser Funktion Teil des (Kindernothilfe-) KNH-Haïti-Teams in Port-au-Prince. Seit dem Start des Programms in dem Karibikstaat 2011 haben die Frauen aus 300 Gruppen durch ausschließlich eigene Sparleistungen ein Arbeitskapital von 208.000 Euro aufgebaut und untereinander (Stand 31.12.2023) Darlehen in Höhe von 603.000 Euro vergeben.