Auf dem Weg in die Diktatur?

Von Moritz Krawinkel

Seit einem Jahr herrscht Ausnahmezustand in El Salvador. Präsident Nayib Bukele nützt seine Sondervollmachten, um die Maras, die berüchtigten Banden, ohne Rücksicht auf Verluste zu bekämpfen. Obwohl Unschuldsvermutung und Menschenrechte dabei auf der Strecke bleiben, genießt der autoritäre Präsident ungebrochene Popularität. Bericht aus einem Land, in dem der Ausnahmezustand zum Normalzustand wird.

Auch unter der Jugend hat Bukele zahlreiche Fans © El Faro

Der Taxifahrer, mit dem ich etwa eine Stunde vom Flughafen zum Hotel in der Hauptstadt San Salvador fahre, lässt nichts auf Bukele kommen. Ich brauche gar nicht nachzufragen, da sprudelt er schon los, wie viel besser als früher die Situation sei. Die maras, die Straßengangs, seien verschwunden, das Stadtzentrum wäre auch nachts sicher, Unternehmer würden investieren, der Tourismus zöge spürbar an. Er beschreibt die Erleichterung im öffentlichen Transport, wo immer wieder Fahrer auf Touren ermordet wurden, weil sie aus der falschen Stadt (das heißt, von der falschen Gang kontrolliert) kamen.

Und die Menschenrechtsverletzungen, die mit dem von Polizei und Militär durchgesetzten Ausnahmezustand einhergehen? Die habe es hier immer gegeben, sagt er. „Wo waren die Menschenrechte in den Vierteln unter Kontrolle der maras?“ Den Einwand, dass es aber einen Unterschied zwischen der Staatsgewalt und kriminellen Banden gebe, lässt er gelten. „Wenn Bukele sich etwas zuschulden kommen hat lassen, muss er dafür vor Gericht.“ Aber dafür brauche es Beweise, nicht nur Anschuldigungen. Natürlich sei nicht alles perfekt. „Ja, kann sein, dass auch Bukeles neues Prestige-Gefängnis überbelegt sein werde, aber das war doch immer so und niemand hat etwas daran geändert.“

Populärer Populist

Dass auch Bukeles Regierung mit den drei großen Banden El Salvadors – Mara Salvatrucha-13, Barrio 18 Revolucionarios und Barrio 18 Sureños – verhandelt hat, dass seine Administration wegen Mordes verurteilte Gang-Anführer aus dem Gefängnis entlassen hat, glaubt mein Fahrer nicht. Anzeichen gebe es vielleicht dafür, aber Belege kenne er nicht. Gegen seine Vorgänger hingegen gebe es Beweise für Korruption und für ihre Geschäfte mit den Gangs, sagt er, sie würden juristisch verfolgt. Belangt werden können die Ex-Präsidenten Mauricio Funes und Salvador Sánchez Cerén von der linken FMLN bislang jedoch nicht. Sie haben sich abgesetzt und Zuflucht in Nicaragua gefunden, wo sie von Ortega protegiert werden und sogar die Staatsangehörigkeit erhalten haben.

Auch Bukele wird eines Tages Rechenschaft ablegen müssen, ist der Taxifahrer überzeugt. Aber vorerst stehe die Bevölkerung hinter ihm – nicht nur wegen des Erfolgs bei der Bekämpfung der maras. Alle Schulkinder erhielten Tablets, Oberstufenschüler:innen und Studierende bekämen Laptops, die sie nach Abschluss des Studiums behalten könnten. Wichtige Schritte zur Modernisierung der Bildung und des Landes insgesamt. Aber stimmt es tatsächlich, dass Bukele so viel zur Entwicklung des Landes beiträgt, wie der Taxifahrer glaubt? Skepsis scheint angebracht angesichts der großspurigen Rhetorik des Millennials Nayib Bukele.

Am Ende unserer Fahrt frage ich den Fahrer spaßeshalber, ob ich auch mit Bitcoin bezahlen könne, den Bukele 2021 als offizielles Zahlungsmittel eingeführt hat. Kein Problem, sagt er. Aber die wenigsten Leute nutzten das, das sei eher für Leute, die Geld übrig hätten. Ich zahle mit Kreditkarte, die er mit Lesegerät und zugehöriger App auf dem Handy entgegennimmt. Im Hotel angekommen, schaue ich mir noch einmal die einschlägige Berichterstattung an: Doch, es gibt eindeutige Beweise für Verhandlungen mit den maras unter Bukele und Zugeständnisse bis hin zur Freilassung von Anführern, obwohl sie international gesucht werden und noch 40 Jahre Gefängnis vor sich hatten. Ebenso gibt es belastbare Beweise für diverse Fälle von Korruption in Bukeles Regierung. Und es gibt eine große Differenz zwischen dem, was Bukele an Fortschrittsversprechen macht und dem, was real passiert.

Im Ausnahmezustand

Als ich 2015 das erste Mal nach El Salvador kam, war es eines der gefährlichsten Länder der Welt. Allein in jenem Jahr fielen 6600 Menschen einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Bei einer Bevölkerung von nur 6,5 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Im vierzehn Mal größeren Deutschland wurden im gleichen Jahr 296 Menschen ermordet. Die unvorstellbare Gewalt ging in den vergangenen Jahren deutlich zurück – bis an einem Wochenende im März 2022 erneut über achtzig Menschen getötet wurden. Wie kam es dazu?

Fangen wir so an: Der heute 41-jährige Nayib Bukele war zunächst in der linken Partei FMLN politisch aktiv, die aus der revolutionären Guerilla im Bürgerkrieg hervorgegangen ist. Für sie wurde er 2012 Bürgermeister von Nuevo Cuscatlán und 2015 von San Salvador. Bukele brach mit der FMLN und mithilfe einer anderen Partei gelang ihm 2019 der Sprung ins Präsidentenamt. Als erster Präsident nach dem Bürgerkrieg, der nicht der linken FMLN und der rechten Arena-Partei angehörte. Inzwischen gehören 56 der 84 Parlaments-Abgeordneten seiner neuen Partei Nuevas Ideas an. Nachdem sie jahrelang das politische Feld dominiert haben, spielen Arena und FMLN praktisch keine Rolle mehr.

Bereits im Jahr nach Bukeles Amtsantritt ging die Mordrate im Land um über 50 Prozent zurück, ein Erfolg, der auf einem geheimen Tauschgeschäft von Bukeles Regierung mit den drei größten Gangs im Land beruhte. Wie schon als Bürgermeister und wie auch seine Vorgänger im Präsidentenamt, deren Unterhändler zum Teil seit Jahren im Gefängnis sitzen, ließ Bukele mit den maras verhandeln. Gegen eine Reduzierung der Polizeipräsenz in bestimmten Regionen, gegen Hafterleichterungen und sogar Freilassungen reduzierten sie die Morde und unterstützten Bukeles Kandidatur und dann seine Regierung. Weil sie sich aber von der Regierung betrogen fühlten, erschütterten die Gangs schließlich mit einer brutalen Mordserie das Land: Zwischen Freitag, den 25. und Sonntag, den 27. März 2022 töteten sie 87 Menschen.

Daraufhin ließ Bukele den Ausnahmezustand erklären und schickte das Militär auf die Straßen. Die Gewaltkriminalität durch die Gangs geht so zwar tatsächlich zurück, aber eine Lösung für die sozialen Probleme, auf die auch die maras eine Art Antwort sind, bietet die Repression nicht. Die Gewalt verschwindet mit ihr nicht aus der salvadorianischen Gesellschaft. Laut Interamerikanischer Menschenrechtskommission stand El Salvador beispielsweise 2022 weiter an der Spitze der Feminizide in der Region. Und noch immer sitzen Frauen aufgrund des ausnahmslosen Abtreibungsverbots im Gefängnis, weil sie eine Fehlgeburt hatten. Zwischen 2000 und 2019 wurden deshalb mindestens 181 Frauen zu Gefängnistrafen von bis zu 50 Jahren verurteilt. So auch Lesly Ramírez, die als 19-Jährige eine Fehlgeburt hatte und im vergangenen Sommer wegen „Mord mit besonders schwerer Schuld“ zu 50 Jahren Haft verurteilt wurde.

Bukele grenzt sich mit großen Sprüchen von der Politik seiner Vorgänger ab, bei ihm ist alles neu. Doch auch sie verhandelten im Geheimen und brüsteten sich gleichzeitig in der Öffentlichkeit mit einer kompromisslosen „Politik der harten Hand“. Bukele greift auf ihre Erfahrungen zurück und kann jedenfalls nicht für sich in Anspruch nehmen, bis zu dem blutigen Wochenende im März 2022 zu gutgläubig gegenüber vermeintlich verhandlungsbereiten maras gewesen zu sein: Das Massaker war nicht das Erste in Bukeles Amtszeit. Schon im November 2021 wurden 45 Menschen ermordet, worauf Bukeles Administration mit neuen Zugeständnissen an die Anführer im Gefängnis reagierte. Und bereits im April 2020 hatten die Gangs in einer grausamen Demonstration ihrer Handlungsfähigkeit innerhalb von vier Tagen 76 Menschen getötet.


Carlos Consalvi ist Gründer und Direktor des MUPI © Ralf Leonhard

Weniger Morde, weniger Demokratie

Bukele reagierte damals das erste Mal öffentlichkeitswirksam mit markiger Rhetorik und Bildern verhafteter Gang-Mitglieder in entmenschlichten Posen. Menschenrechtsorganisationen, die das damals kritisierten, hielt er entgegen, sie würden diejenigen verteidigen, die „vergewaltigen, entführen, töten und zerstückeln“. Dabei war es seine Regierung, die mit eben diesen kriminellen Organisationen paktierte. Dieses Bündnis endete erst zwei Massaker später. So lautet eine Interpretation der Geschehnisse. Eine andere These vertritt die Journalistin und Menschenrechtsverteidigerin Celia Medrano, die davon ausgeht, dass der Pakt zwischen Regierung und Kriminellen weiter gilt. Die kleinen Gang-Mitglieder in den Elendsvierteln würden geopfert, doch die Strukturen der maras hätten sich längst zu mächtigen Kartellen entwickelt, mit denen die Regierung weiter kooperiere. Medrano zufolge ist El Salvador auf dem Weg, den Mexiko oder Honduras bereits gegangen sind, wo staatliche und kriminelle Strukturen sich überformten und vielerorts keine Unterscheidung zwischen ihnen mehr möglich ist.

Offiziellen Angaben zufolge wurden unter dem Regime des immer wieder erneuerten Ausnahmezustands bislang 64.000 Menschen festgenommen. Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm, denn unter den Verhafteten sind viele Unschuldige, die Rechte der Verhafteten und rechtsstaatliche Verfahren sind nicht garantiert. Stattdessen häufen sich Berichte über Folter und Missbrauch. Selbst die Regierung gesteht ein, dass über siebzig Menschen, die im Ausnahmezustand festgenommen wurden, in der Haft ums Leben gekommen sind. Kollateralschäden einer brutalen Versicherheitlichung, die Menschenrechtsverletzungen normalisiert und in der Bevölkerung dennoch auf viel Zustimmung stößt, wenn man den offiziellen Umfragen glauben darf. Dabei hatte El Salvador der Datenbank „World Prison Brief“ zufolge bereits vor dem Ausnahmezustand mit einer Gefangenenrate von 605 pro 100.000 Einwohner:innen mehr Inhaftierte als jedes andere Land der Welt. Wieder zum Vergleich: In Deutschland sind es 67.

Der auf Dauer gestellte Ausnahmezustand und die Militarisierung der Gesellschaft haben jedoch noch eine andere Vorgeschichte, die Carlos Consalvi vom Museo de la Palabra y la Imágen (MUPI), mit dem medico bei der Bewahrung der historischen Erinnerung des Landes kooperiert, beschreibt: Im März 2020 kehrte er aus Brasilien nach El Salvador zurück und wurde zusammen mit 60 anderen Menschen direkt am Flughafen abgefangen und in Quarantäne gesteckt. 30 Tagen Isolation, sagt er, habe er damals per Unterschrift zugestimmt – obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine einzige Covid-Erkrankung in El Salvador gab.

Carlos wusste nicht, worauf er sich einließ, die Umstände der Isolation beschreibt er als grauenvoll: Auf einem überdachten Basketball-Platz hätten sie ohne ein Minimum an Privatsphäre gelebt, Feldbett neben Feldbett, zwei Duschen für alle – ein Extra-Raum für Frauen sei zu klein gewesen, weshalb es letztlich keine Trennung nach Geschlechtern gab. Und auch keine Coronatests. Als ein älterer Mann starb, protestierten sie, packten ihre Koffer und drängten gegen die verstärkten Polizeieinheiten an, die sie gefangen hielten. So konnten sie immerhin den Umzug in eine andere Quarantäneeinrichtung erreichen, in der bessere sanitäre Bedingungen herrschten. Nach über 40 Tagen wurden Carlos und der Rest der Gruppe schließlich entlassen.

Entmenschlichte Gefangene

Was der Ausnahmezustand konkret bedeuten kann, beschreibt Claudia Anay García de Cartagena, Projektkoordinatorin im MUPI. Sie berichtet von einem jungen Mann, der sich von den maras lösen konnte und im Museum begonnen hatte, vielversprechende Dokumentarfilme zu machen. Zur falschen Zeit am falschen Ort, wurde er vor einigen Monaten verhaftet. Nachdem er im vorgeschriebenen Zeitrahmen keine Gerichtsverhandlung hatte, sei die Untersuchungshaft einfach verlängert worden, berichtet Claudia. Seine Frau muss derweil das Überleben der Familie mit zwei kleinen Kindern sichern und zudem Essen, Kleidung und Klopapier für ihren Mann im Gefängnis bezahlen. Ob etwas davon bei ihm ankommt, wisse sie nicht. Auch nicht, ob er irgendwann wieder freikäme. In Interviews brüstet sich Bukele damit, dass die maras in den Gefängnissen auch zukünftigen Generationen keine Probleme machen würden, sie sollen auf Jahrzehnte in Haft bleiben.

Um das zu garantieren, hat Bukele in Tecoluca, 80 Kilometer südöstlich von San Salvador, das „größte Gefängnis Lateinamerikas“ bauen lassen. Nicht in Bezug auf die Fläche wohlgemerkt, sondern was die Zahl der 40.000 Gang-Mitglieder betrifft, die hier offiziellen Angaben zufolge inhaftiert werden sollen. Vergleichsweise überschaubar wirkt dagegen das berüchtigte Gefängnis Rikers Island in New York, wo 11.000 Menschen eine Gefängnisstrafe absitzen. Weltweit ging vor wenigen Wochen ein Video durch die Medien, das Hunderte kahlrasierte und tätowierte Männer in weißen Boxershorts zeigt, die in gebeugter Haltung durch Spaliere vermummter Polizisten rennen, sich in einer großen Halle in langen Reihen auf den Boden setzen, Bauch an Rücken, den Kopf gebeugt. Dann Dutzende Busse, in denen die Häftlinge in das neue Gefängnis gebracht und wieder in der gleichen, entmenschlichenden Haltung aufgereiht werden, bevor sie in Gemeinschaftszellen gepfercht werden. Und wieder die Frage: Propaganda oder Realität?

Die Financial Times hat Luftbilder der Haftanstalt ausgewertet und kommt zu dem Ergebnis, dass die von der salvadorianischen Regierung veröffentlichten Zahlen nur bei völliger Überfüllung zu erreichen seien: De facto könnten nur 0,6 Quadratmeter pro Person in Gemeinschaftszellen zur Verfügung stehen – ein Bruchteil der immerhin vier Quadratmeter, die die Europäische Union für Strafgefangene veranschlagt. Kein Lernen, keine sozialen Orte, keine Rehabilitation: Das neue Mega-Gefängnis wird jedenfalls nichts an der Hölle ändern, die El Salvadors Gefängnisse seit Jahrzehnten sind.

Exekutive sticht Judikative

Dass Bukele den Rechtsstaat inzwischen ohne großen Widerstand aushebeln kann, hat auch damit zu tun, dass er die Judikative weitestgehend kontrolliert. Wo eigentlich Gewaltenteilung und eine Kontrolle der Exekutive existieren sollte, gibt es längst eine fortgeschrittene Entwicklung hin zur autoritären Herrschaft. Weiter auf diesem Weg ist in Zentralamerika nur Nicaragua. Anfang Mai 2021 entließ Bukeles Mehrheit im Parlament fünf Richter der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs und ersetzte sie durch Richter, die mit Bukele sympathisieren.

Außerdem entließ das Parlament Generalstaatsanwalt Raúl Melara. Bukele hatte 2020 mehrere Beschlüsse der Verfassungskammer missachtet, die ein Dutzend Exekutivdekrete und Maßnahmen der Regierung in der Pandemie für verfassungswidrig erklärte, weil diese ihre Kompetenzen überschritten habe. Melara hatte im November 2020 eine Korruptionsuntersuchung gegen den Finanz- und den Gesundheitsminister der Bukele-Regierung eröffnet wegen des Umgangs mit Geldern und Einkäufen im Zusammenhang mit der Pandemie. Und Melara hatte die geheimen Verhandlungen zwischen der Regierung von Bukele und den Gangs untersucht. Auf verfassungsrechtlicher Ebene gibt es kein Gegengewicht mehr zum Agieren der Regierung. Verschiedene nationale und internationale Stimmen qualifizierten das Geschehen in El Salvador deshalb als „auto-golpe“, als Selbst-Putsch.

Kritik an Bukeles ultra-autoritärem Kurs ist nach wie vor möglich in El Salvador, hat aber einen hohen Preis und wird immer gefährlicher. Besonders im Fokus des Präsidenten und seiner regelrecht fanatischen Anhänger:innen stehen die Journalist:innen von el faro, dem bekanntesten investigativen Nachrichtenmagazin der Region. Sie enthüllten die Verhandlungen mit den maras, fördern Belege für Korruptionsfälle zutage, decken Menschenrechtsverletzungen auf und sezieren minutiös die problematische Entwicklung des Regimes. Immer wieder betonen die Journalist:innen, dass sie auch Korruptionsfälle vorheriger Regierungen öffentlich machten, doch das zählt nicht für den Troll-Mob im Dienste Bukeles, der beispielsweise einzelne Sätze aus differenzierten Interviews über die nicht zu rechtfertigende, aber eben auch soziale Funktion der Gangs so arrangiert, dass die Journalist:innen wie der mediale Arm der maras wirken. So werden sie bewusst zur Zielscheibe eines Hasses gemacht, der in El Salvador immer auch in reale Gewalt umschlagen kann.

Zeitenwende

Das MUPI ist einer der wenigen Orte in El Salvador, an denen versucht wird, die Geschichte des Landes zu bewahren. Die von Prudencia Ayala zum Beispiel, einer indigenen, alleinerziehenden Mutter, die 1930 versuchte, sich als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen. Ein feministischer Affront für die zutiefst patriarchale Gesellschaft. Oder die Bedeutung der Friedensverträge von 1992, die den Bürgerkrieg zwischen der linken FMLN und der Regierung beendeten. Der Krieg hatte 70.000 Todesopfer gefordert, von denen viele auf das Konto von Todesschwadronen gingen oder die bei dutzenden Massakern an der indigenen Bevölkerung ermordet wurden. Sicher, auch dieser Friedensschluss führte nicht zur erhofften sozialen Gerechtigkeit in einem Land, das von extremer Ungleichheit geprägt ist. Aber er überführte doch den aussichtslosen Krieg in verträglichere Formen der Auseinandersetzung. Für Bukele hingegen bezeichnen die Friedensverträge inzwischen nur noch einen Pakt der Korrupten, der das politische System El Salvadors in der Machtaufteilung zwischen FMLN und Arena-Partei zementierte – bis er auf die Bühne trat und endlich Schluss machte mit dem korrupten Stillstand.

So gesehen passt der Haftbefehl gegen den historischen Führer der FMLN, José Eduardo Sancho Castañeda – bekannter als Kommandant Fermán Cienfuegos – vom Januar 2023 gut ins Bild, denn Cienfuegos ist einer der prominenten Unterzeichner der Friedensverträge. Vorgeworfen wird ihm und weiteren Beschuldigten, unter ihnen mehrere Mitarbeiter der zivilgesellschaftlichen Asociación de Desarollo Económico Social (ADES), der Mord an einer Frau im Kriegsjahr 1989. ADES ist insbesondere in der widerständigen Gemeinde Santa Marta im departamento Cabañas verankert, wo während des Bürgerkrieges Massaker an der Zivilbevölkerung verübt und 2009 drei Umweltschützer ermordet wurden. Aufklärung dieser Verbrechen: Fehlanzeige. Die salvadorianischen sozialen Organisationen weisen die Anschuldigungen zurück, Beweise gebe es nicht. Stattdessen vermuten sie eine Repressionskampagne gegen die linke Zivilgesellschaft und insbesondere Santa Marta, wo Widerstand gegen den absehbaren Versuch zu erwarten ist, das hart erkämpfte Bergbau-Verbot in El Salvador aufzuheben.

2024 wird in El Salvador gewählt. Bukele hat schon im September 2022 angekündigt, erneut antreten zu wollen. Obwohl die Verfassung eine Wiederwahl ausschließt und es gute Gründe in der an Putschen und Diktatoren reichen Geschichte des Landes gibt, warum eine Wiederwahl verboten ist. Nicht auszuschließen also, dass Bukele gerade die nächste Diktatur in El Salvador errichtet. Auch wenn der Taxifahrer sie nicht als solche wahrnehmen würde.

Veröffentlicht am 18. März 2023

Zum Autor

Moritz Krawinkel ist Online-Redakteur bei medico international. Außerdem ist der Soziologe für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.