Fragile Demokratie
Von Ursula Prutsch
Lula da Silva hat nach einem extrem knappen Wahlsieg mit Jahresbeginn seine dritte Amtszeit angetreten. Aufgehetzte Anhänger des abgewählten rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro stürmten wenige Tage darauf Kongress und Obersten Gerichtshof im Regierungsviertel von Brasilia. Die radikale Opposition, die Bolsonaros Schlappe nicht anerkennen will, hat sich damit delegitimiert. Für Lula vielleicht ein Glücksfall, denn sein ehrgeiziges Reformprogramm bedarf breiter Unterstützung.
Am 30. Oktober 2022 war Luiz Inácio Lula da Silva in einer spannenden, knappen Stichwahl zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden. Am 1. Jänner trat er traditionsgemäß sein Amt an, und das zum dritten Mal. Dass er aus Fehlern seiner beiden ersten Amtszeiten (2003-2010) gelernt haben will, dass seine Regierung nun auf ethnische Diversität, Frauenförderung, soziale Sicherheit und den Schutz der ökologischen Vielfalt baut, wollte Lula schon bei seiner Inauguration unter Beweis stellen. Nicht nur seine Ehefrau, die Soziologin Rosângela (Janja), der Vizepräsident Geraldo Alckmin und dessen Ehefrau, die Lehrerin Lu Ribeiro, begleiteten Lula auf die Rampe des Palácio do Planalto in Brasília, sondern auch eine diverse Gruppe aus der Zivilgesellschaft.
Neben Lula stand Francisco, ein zehnjähriger Afrobrasilianer aus São Paulo, Anhänger des legendären Fußballclubs der Corinthians, die sich in den Achtzigern mutig gegen die Diktatur aussprachen und kürzlich Bolsonaristen in die Schranken wiesen. Zur Gruppe gehörte auch die Müllsammlerin und Feministin Aline Sousa. Da Lulas Amtsvorgänger Jair Bolsonaro die Wahlniederlage öffentlich nicht eingestand und es vorzog, nach Florida zu reisen, durfte Aline Sousa dem wiedergewählten Präsidenten die grün-gelbe Schärpe überstülpen. Es war ein bewusster Bruch des Protokolls.
In der Gruppenmitte stand der neunzigjährige Cacique Raoni Metuktire, der seit vielen Jahrzehnten für die Rettung des Regenwaldes kämpft und seine Frau Bekwyiká in der Covid-Pandemie verloren hat. Metuktire gehörte zu den heftigsten Kritikern des Staudamms Belo Monte, dessen Bau die Regierung Lula zu verantworten hat. Metuktires Engagement für den Amazonaswald war schon Ende der siebziger Jahre unter dem Titel Raoni verfilmt worden, mit Marlon Brando in der Rolle des Erzählers.
Metuktire zur Seite stand Weslley Rodrigues Rocha, ein Metaller und Rapper aus dem Industriegürtel von São Paulo, der sich technisch weiterbildete, wie der Portugiesisch-Lehrer aus Paraná Murilo de Quadros, der mit einem Stipendium in den USA studierte. Zu den Begleitern Lulas gehörten noch die Köchin Jucimara Fausto, die an einer Universität Studierende bekocht, Ivan Baron, der körperbehindert ist und einen erfolgreichen Blog betreibt und schließlich Flávio Pereira, ein Handwerker und Künstler. Sie alle verbindet Diversität, Streben nach Bildung, soziales und kulturelles Engagement, Philanthropie, Weltgewandtheit und ein selbstbestimmtes Leben.
Es sind diese Werte, die Lula da Silva in seiner Inaugurationsrede hochhielt. Er versprach die Rückkehr zu Demokratie und Pragmatismus statt Irrationalität, mahnte Respekt vor der Wissenschaft ein und versprach, Bildung, Kultur und Naturschutz zu fördern. Obgleich er jeglichem Revanchismus abschwor und Bolsonaristen die Chance zur Abkehr von ihrer Weltanschauung einräumte, war seine Rede ein deutlicher Bruch mit der Politik seines autoritären Vorgängers.
Die Inszenierung des 1. Jänners, die Freude der demokratischen nationalen und internationalen Öffentlichkeit über Lulas Wahlsieg blendete den manifesten Widerstand der bolsonaristas gegen die neue Führung aus. In Medien, die dem Ex-Präsidenten gewogen sind, wurde die Erzählung von einer manipulierten, gefälschten Wahl, vom kriminellen Ex-Häftling Lula, der zu Recht im Gefängnis gewesen sei, als Wahrheit verkauft. Unterstützt wurden diese Lügen von Trump-Apologeten in den USA wie dem Journalisten Alex Jones und dem ehemaligen Wahlkampfleiter von Donald Trump, Steve Bannon. Letzterer pflegt seit Jahren guten Kontakt zur Familie Bolsonaro und träumt von einer globalen „konservativen Revolution“.
Seit Ende Oktober campierten Bolsonaro-Anhängerinnen und Anhänger in Brasilien vor Kasernen im ganzen Land, wurden von Militärs geduldet und von Teilen der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln versorgt. Zur selben Zeit blockierten Lastwagenfahrer zahlreiche Überlandstraßen im Nordwesten und sorgten zeitweise für Güterknappheit. Von der Straßenpolizei wurden sie geduldet, weil diese – wie andere Bereiche der Exekutive – ebenfalls von bolsonaristas unterwandert ist.ausputzte, stritten der neue Justizminister Flávio Dino und sein Kollege, der Verteidigungsminister José Múcio, darum, wer denn für die Räumung der Camps zuständig sei. Eine vergleichbare Kompetenzdebatte baute sich im Amazonasraum auf, wo illegale Goldsucher und Holzfäller indigene Völker bedrohen und zahlreiche Morde begingen. Nun stellte sich die Frage, ob die Umweltministerin Marina Silva oder Landwirtschaftsminister Carlos Fávaro für die Sanktionierung der illegalen Landnahme zuständig sei.
Dass es zu Kompetenzüberschneidungen bei den vielen neuen Ministerien kommen könnte, lag auf der Hand. Lula da Silva hatte die Wahlen gewonnen, weil die demokratische Weltöffentlichkeit viel engagierter nach Brasilien blickt als noch vor zwanzig Jahren, weil das Bewusstsein für die Schutzbedürftigkeit brasilianischer Natur- und Lebensräume deutlich gestiegen ist, und die Regierung Bolsonaro diesen Territorien mit einer geradezu diabolischen Faszination für Zerstörung zu Leibe rückte.
Auf nationaler Ebene konnte Lula gewinnen, weil er erstmals eine ungewöhnliche politische Allianz hinter sich versammelte. Sie reicht von linkssozialistischen und Grün-Bewegungen über konservative Parteien bis hin zu wirtschaftsliberalen Interessen. Einige Großunternehmer, die in die EU exportieren, traten schon aus Imagegründen für den international salonfähigen Lula ein. Um die Mitglieder dieser Allianz, zu denen auch die Präsidentschaftskandidatin Simone Tebet zählt, zu versorgen, wurden schließlich 37 Ministerien geschaffen, 14 mehr als zu Bolsonaro-Zeiten. Ein Drittel der Posten haben Frauen inne. Lulas Parteibasis, die Arbeiterpartei PT, erkämpfte sich elf Ministerien, wie etwa für Finanzen, Arbeit, Frauen, soziale Gerechtigkeit, soziale Entwicklung, ethnische Gleichheit, Kleinlandwirtschaft und Bildung. Nur ein Ministerium wird von einem Militär geleitet. Besonders die Bestellung der Aktivistin Sônia Guajajara für das neu geschaffene Ministerium für Indigene Völker und des afrobrasilianischen Philosophen Silvio de Almeida für Menschenrechte brachte Lula international Anerkennung ein.
Noch waren nicht alle Minister und Ministerinnen angelobt und Führungsposten vergeben, als am Sonntag, dem 8. Jänner, mehrere Tausend bolsonaristas den Platz der Drei Gewalten stürmten und im Obersten Gerichtshof, dem Kongress und Präsidentschaftspalast Verwüstungen anrichteten. Mittlerweile wurden 1.400 Verdächtige verhaftet, verantwortliche Sicherheitskräfte ihres Amtes enthoben und Debatten darüber geführt, ob der vom Sturm auf das US-Kapitol beeinflusste Akt eine putschähnliche Inszenierung oder ein ausgeklügelter Plan „von oben“ war. Beide Erstürmungen unterscheidet, dass Präsident Trump offen dazu aufgerufen hatte, während Bolsonaro eine Beteiligung verneinte, und dass der Kongress in Washington an jenem 6. Jänner 2021 getagt hatte.
Der Vandalismus und seine internationale Rezeption schufen einen raschen parteiübergreifenden Zusammenhalt, der möglicherweise nicht bis zur nächsten Wahl hält, aber zumindest Kompromisse ermöglichen kann. Dazu kommt, dass der Rebellion in Brasilia weitere schockierende Bilder folgten. Die Extraktionswirtschaft der Regierung Bolsonaro, die Verbreitung von Viren und Vergiftung von Flüssen haben die Yanomami im Bundesstaat Roraima in eine solche Existenzkrise gestürzt, dass zu Recht von einer genozidalen Politik gesprochen werden kann. Noch im Jänner flog Präsident Lula in das Yanomami-Schutzgebiet im Amazonasregenwald und seither vertreiben Einheiten der Armee die illegalen Eindringlinge. Lulas reaktivierter Fundo Amazônia, der 2008 zum Schutz des Regenwaldes geschaffen und unter Bolsonaro stillgelegt worden war, erhielt wieder besondere Aufmerksamkeit und mit der internationalen Hilfe für die Yanomami ein erstes großes Aufgabengebiet.
Abgesehen von diesem Krisenmanagement konnte die Regierung Lula in ihrer neutralen Haltung zum Ukrainekrieg wohl ihre Sympathiewerte im Land steigern, wenngleich sie den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz enttäuscht hat. Doch Lula will Brasilien wieder als international angesehene Verhandlungsmacht etablieren, die keine Feinde hat. Er hat sich sogar in einer gewissen Selbstüberschätzung als Mediator zwischen Putin und Selenskyj angeboten. Aber der Ukrainekrieg ist für viele im Land weit weg und das brasilianische Agrobusiness braucht russische Düngemittel. Je nachdem, ob die Transportlogistik und die Agro-Industrie zur Export-Landwirtschaft gezählt werden oder nicht, macht diese 7 bis 25 Prozent des Bruttonationalproduktes aus. Der Umgang mit diesem Sektor, der kaum Steuern zahlt, wird die nächsten Jahre prägen.
Bolsonaro hatte das Agrobusiness umgarnt und dessen Steuerprivilegien gesichert. Er räumte Brasilianerinnen und Brasilianern, die sich im Amazonasraum als Bezwinger der letzten Frontier (d.h. der „indigenen Rückschrittlichkeit“ zugunsten der industrialisierten „Moderne“) verstehen, per Dekret die Möglichkeit zu großzügigen Waffen- und Munitionskäufen ein. Lula hat in der Hitze des Wahlkampfes das Agrobusiness pauschal als „faschistisch“ und „extrem rechts“ bezeichnet, obwohl letzteres durchaus auch zutrifft. Doch in beiden Kammern des Bundeskongresses sind die rechtskonservativen bis rechtsradikalen Kräfte in der Mehrheit, ebenso unter den Gouverneuren zahlreicher Bundesstaaten.
Lula, der in seiner Inaugurationsrede betont hatte, dass Brasilien keine Waffen in den Händen der Bevölkerung brauche, sondern Kultur und Bücher, hat schon eingelenkt, indem er Verständnis für Waffengebrauch auf dem Land einräumte. Dass der Präsident im Bundeskongress Mehrheiten für die Erhöhung des Mindestlohns über die Inflationswerte hinaus, sowie für das gerade wieder aufgenommene Wohnbauprogramm „Mein Haus, mein Leben“ braucht, weiß die starke Opposition, die auf zahlreiche evangelikale Kirchen und konservative Katholiken bauen kann. Lula, der bekanntlich Kompromissfähigkeit und großes Durchsetzungsvermögen hat, wurde im Oktober 77 Jahre alt. Gerade tritt er den Beweis an, dass die Demokratie sich erholen kann. Doch die PT und andere demokratische Kräfte links der Mitte müssten sich rechtzeitig um talentierte Jungpolitikerinnen und -politiker kümmern, die auch junge Menschen ansprechen. Denn Bolsonaro hat drastisch vorgeführt, wie die Demokratie in nur vier Jahren ausgehöhlt werden kann. Seine Anhängerschaft wartetbereits unbeirrt auf die nächste Chance in dreieinhalb Jahren. Und es ist nicht sicher, ob die brasilianische Demokratie, die vier Jahre konsequenter Attacken aus dem Präsidentenpalast getrotzt hat, eine weitere Amtszeit von Bolsonaro oder einem Gesinnungsgenossen standhalten würde.