Interview: Jürgen Schübelin
Nach schlechten Nachrichten muss derzeit in Lateinamerika nicht lange gesucht werden: So verursacht der menschengemachte Klimawandel beides gleichzeitig – extreme Dürren mit akutem Trinkwassermangel – etwa an der La Plata-Mündung oder in Mittelamerika – als auch heftige Überschwemmungen mit entsprechenden Verwüstungen und vielen Todesopfern wie im März in Peru und Ecuador – sowie zuletzt in Chile. Währenddessen sind die sozialen Schleifspuren im Gefolge der Corona-Pandemie und der weltweiten Inflation mit der Zunahme von Armut und extremer Armut überall auf dem Kontinent unübersehbar. Und: Viele „barrios“ der lateinamerikanischen Megacities sind längst rechtsfreie Räume. Polizei und Justiz haben vor der Gewalt und Brutalität krimineller Banden kapituliert, während sich die politischen und gesellschaftlichen Probleme in den meisten Ländern zuspitzen – sich populistische, demokratiefeindliche Diskurse verfestigen. Vor diesem Hintergrund suchten 27 Mädchen und Jungen aus der Bewegung der Arbeitenden Kinder und Jugendlichen Lateinamerikas und der Karibik (MOLACNNATs) zusammen mit 13 Erwachsenen aus zehn Ländern Ende Juni in einem kirchlichen Tagungszentrum in Lima fünf Tage lang nach Standortbestimmungen – und Antworten auf die Herausforderungen durch die sich augenfällig verändernden Rahmenbedingungen.
Aus Chile waren zwei Organisationen angereist: „Protagoniza“ aus Coronel im Süden des Landes und „Colectivo sin Fronteras“ aus der Hauptstadt Santiago. Yita Llanos Inostroza und Ivanea Gutiérrez (beide „Protagoniza“) sprechen im Interview über ihre Lernerfahrungen und die Situation arbeitender Kinder auf dem Subkontinent.
Dieses MOLACNNAT-Treffen war in Lateinamerika die erste derartige Gesprächs- und Diskussionsmöglichkeit seit dem Abflauen der Corona-Pandemie. Was hat sich denn aus der Perspektive der arbeitenden Kinder und Jugendlichen in diesen zurückliegenden drei Jahren verändert?
Ivanea Gutiérrez: Wir kamen aus zehn verschiedenen Ländern nach Lima: Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, Guatemala, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru und Venezuela. Natürlich gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung der Corona-Folgen für Kinder und Jugendliche, die durch ihre Arbeit zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen. Aber in allen Ländern auf dem Subkontinent ist klar, dass durch die monatelang geschlossenen Schulen und die Unterrichtsausfälle Lücken gerissen wurden, die nicht mehr zu überbrücken sind. Gerade Kinder und Jugendliche, die während eines Teils des Tages Geld verdienen müssen, konnten alternativ angebotene online-Unterrichtsformate, die es in einigen Ländern gab, nur in sehr begrenztem Ausmaß nutzen. Wir hörten von ganz vielen Fällen, in denen Kinder nach der Pandemie überhaupt nicht mehr in die Schulen zurückgekehrt sind. Der Kontakt zu ihnen brach einfach ab. Ganz konkret: Im Fall von Chile gehen wir davon aus, dass 55 Prozent der arbeitenden Kinder seit der Pandemie kein Klassenzimmer mehr von innen sahen, sondern die Schule abgebrochen haben. Das ist eine ganz bittere Hypothek gerade für diejenigen, die in den prekären öffentlichen Schulsystemen unserer Länder ohnedies viel zu wenig Förderung erhalten.
Yita Llanos: Die Kinder und Jugendlichen, aber auch die Kolleginnen und Kollegen aus den mitwirkenden Organisationen schilderten aber auch noch andere Probleme: Fast überall nahm während der Pandemie der Drogenkonsum und -handel gerade in den Armenvierteln zu. Für viele junge Leute erscheint die Möglichkeit, durch das, was wir in Lateinamerika „microtráfico“ nennen (frei übersetzt: Der ‚kleine‘ Handel mit Drogen – quasi vor der Haustür), auf schnellem Weg Geld zu verdienen, sehr attraktiv. Unsere Organisationen haben hier eine wichtige Aufgabe, gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen alternative Perspektiven und Gegenstrategien zu entwickeln. Sehr viel diskutiert haben wir in Lima aber auch über die Zunahme von sexualisierter Gewalt und insbesondere der Gewalt gegen Kinder während der Pandemie. Da ist etwas ins Rutschen geraten und die Narben dieser entsetzlichen Zeit werden noch lange sichtbar bleiben. All das hat natürlich Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von arbeitenden Kindern, denen wir uns stellen müssen.
Lateinamerika hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Schwerpunktregion für Flucht- und Migrationsbewegungen entwickelt. Allein 7,1 Millionen Menschen sahen sich gezwungen, Venezuela zu verlassen. Aber auch aus Haiti und anderen Ländern suchen Hunderttausende in anderen Staaten der Region nach Schutz vor Verfolgung und einem besseren Auskommen. Tangiert diese Entwicklung die Situation arbeitender Kinder?
Yita Llanos: Ja, ganz eindeutig! Da gibt es zum einen das Problem der „trata“, des Menschenhandels mit dem Ziel der sexuellen Ausbeutung. Hier sind Kinder und Jugendliche auf den Flucht- und Migrationsrouten – ohne die Familien und sozialen Strukturen um sie herum, die zumindest einen gewissen Schutz bieten – besonders gefährdet. Die Jugendlichen in Lima berichteten von Freundinnen und Freunden, die Schleusern und anderen Kriminellen in die Hände gefallen sind, weil ihnen Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten versprochen wurden. Außerdem hat die Armutsmigration – zusammen mit den Folgen von Corona – auch zu einem deutlichen Anwachsen der Zahl von Kindern, die auf der Straße leben, geführt. Aus allen zehn Ländern, die bei diesem Treffen in Lima vertreten waren, berichteten die Kolleginnen und Kollegen und die MOLACNNATs-Jugendlichen darüber, wie sehr Rassismus und xenophobe Übergriffe zugenommen haben.
Ivanea Gutiérrez: Insgesamt haben die Kinder und Jugendlichen, die im öffentlichen Raum, auf Straßen und Plätzen arbeiten, den Eindruck, dass die Bedingungen für sie schwieriger, der Ton rauer, die Repression und die Gefahren größer geworden sind.
Könnt Ihr dafür Beispiele nennen?
Yita Llanos: Die wirtschaftliche Krise und das Anwachsen der Armut in Peru haben dazu beigetragen, dass die Zahl der auf den Straßen arbeitenden Kinder sichtbar zugenommen hat. Als Antwort darauf wurde jetzt von populistischen Politikern eine Kampagne organisiert, um diese Kinder und Jugendlichen auf der Straße zu fotografieren und sie anonym anzuzeigen. Und in Chile gibt es seit Kurzem ein Gesetz, das der Polizei erlaubt, in einer angenommenen Konfliktsituation viel schneller mit scharfer Munition auch auf Jugendliche zu schießen – und dabei sicher zu sein, straffrei auszugehen.
Wie reagieren die Kinder und Jugendlichen, die einer der MOLACNNATs-Mitgliedsorganisation angehören? Wie setzen sie sich zur Wehr?
Yita Llanos: Im Fall dieser unsäglichen Fotokampagne in Peru hat die Bewegung der MOLACNNATs, unterstützt von mehreren Menschenrechtsorganisationen, gegenüber den zuständigen Ministerien energisch protestiert und ein sofortiges Ende dieser Aktion gefordert. In Chile gab es leider keine entsprechenden Proteste. Was uns aber während dieser Woche in Lima insgesamt stark beeindruckt hat, ist, mit welcher Klarheit und Analysefähigkeit die Jugendlichen die Bedingungen, denen sie sich ausgesetzt sehen, beschreiben – aber auch, mit welchem Selbstbewusstsein und welcher Überzeugung sie für ihre Rechte kämpfen. Dazu gehört etwa die Forderung, von den Erwachsenen und der Gesellschaft wahrgenommen und respektiert zu werden. Ein Satz, der während dieses Treffens immer wieder fiel, lautete: „Wir wollen, dass ihr uns seht und endlich ernst nehmt!“ Es geht um die Anerkennung einer Leistung, die es hunderttausenden Familien auf diesem Kontinent in Lebenssituationen von Armut und extremer Armut ermöglicht, über die Runden zu kommen. Was die NATs (Abkürzung für die spanische Übersetzung von Arbeitende Kinder und Jugendliche) ganz klar herausarbeiteten, ist die schlichte Erkenntnis, dass eine Gesellschaft, in der es keine fair bezahlten Einkommen für Erwachsene gibt und kein entschiedenes soziales Engagement der Regierungen, um Krisen – wie jetzt während der Corona-Katastrophe – durchstehen zu können, Kinderarbeit immer wieder neu generiert.
Ivanea Gutiérrez: Deutlich wurde aber auch, dass die Jugendlichen Kraft und Selbstbewusstsein daraus gewinnen, dass sie mit ihren verschiedenen Organisationen, die in dem MOLACNNATs-Bündnis kontinental zusammenarbeiten, inzwischen längst die Agenda der Themen, über die sie mit Erwachsenen sprechen wollen, selbst bestimmen. Es war eindrucksvoll, während dieser Konferenz mitzuerleben, wie sich die Rolle von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Rechte von arbeitenden Kindern und Jugendlichen engagieren, verändert hat: Von uns wird erwartet, dass wir Fachwissen einbringen und anbieten, bei der politischen Arbeit und dem Knüpfen von Kontakten – etwa zu staatlichen Institutionen – unterstützen, aber nicht, dass die Profis aus den Organisationen den NATs sagen, wo es langzugehen hat.
Welche weiteren Impulse habt Ihr aus Lima mitgebracht? Wie muss sich nach Eurer Einschätzung die Arbeit von „Protagoniza“ in Coronel weiterentwickeln?
Yita Llanos: Zu den „Hausaufgaben“, die wir von diesem Treffen mitgebracht haben, gehört ganz sicher, das, was wir in Lateinamerika „enfoque de género“ – Geschlechtergerechtigkeit – nennen, stärker zu bearbeiten. Es war den NATs ganz wichtig, dass in den Bündnissen arbeitender Kinder das Thema Gewalt gegen Mädchen und die endemischen Probleme, die der Machismus mit seinen toxischen Geschlechter- und Rollenbildern in unseren Gesellschaften verursacht, reflektiert werden. Und da wären wir wieder bei Xenophobie und Rassismus, dem sich Kinder und Jugendliche, die als Geflüchtete oder Migranten in unsere Länder kommen und durch ihre Arbeit ihre Familien unterstützen, ausgesetzt sehen. Besonders diese Gruppe von NATs wird viel zu oft Opfer von Übergriffen und sexualisierter Gewalt.
Wie geht es jetzt weiter? Was sind Eure nächsten Vorhaben?
Ivanea Gutiérrez: Wir planen für das chilenische Frühjahr, also im September oder Oktober, ein Treffen mit arbeitenden Kindern aus den drei Organisationen „La Veleta y la Antena“, die in Mendoza, Argentinien, engagiert ist, dem „Colectivo sin Fronteras“ aus Santiago und „Protagoniza“ hier in Coronel auf die Beine zu stellen, um an den Themen aus Lima und dem Zehn-Punkte-Aktionsplan, den wir vereinbart haben, weiter zu arbeiten. Und für das kommende Jahr ist eine große MOLACNNATs-Konferenz, dann mit Kindern und Jugendlichen aus möglicherweise noch mehr als zehn lateinamerikanischen Ländern, angedacht. Dabei wird es vor allem darum gehen, den Ansatz einer kritischen Würdigung der gesellschaftlichen Leistung von arbeitenden Kindern und Jugendlichen weiterzuverfolgen – und darüber zu diskutieren, die Bewegung der MOLACNNATs als wichtige Protagonistin und Verbündete bei der Verteidigung der Demokratie und der Kinderrechte auf unserem Kontinent zu sehen.
Die Gesprächspartnerinnen:
Yita Llanos Inostroza (59) ist von Beruf gelernte Sanitäterin. Sie engagierte sich u.a. 15 Jahre lang für die Erzdiözese Concepción in der von französischen Arbeiterpriestern 1929 gegründeten Bewegung arbeitender Kinder MOANI und ist eine der Initiatorinnen der Kindernothilfe-Partnerorganisation „Protagoniza“ in Coronel.
Ivanea Gutierréz (25) ist Psychologin, hat an der Universidad de Concepción studiert und sich bereits während ihrer Ausbildung intensiv mit der Situation arbeitender Kinder und Jugendlicher in Chile beschäftigt. Sie gehört dem „Protagoniza“-Team in Coronel seit einem Jahr an.
Wie viele arbeitende Kinder gibt es?
Die UN-Kinderrechtsorganisation UNICEF und die Weltarbeitsorganisation ILO haben für Ende 2022 hochgerechnet, dass die Zahl von Kindern zwischen 5 und 17 Jahren, die ausbeuterischen Bedingungen von Kinderarbeit ausgesetzt sind, auf 168,9 Millionen angewachsen ist. Wegen der Folgen der Corona-Pandemie und der Zunahme von Armut und extremer Armut in den allermeisten Ländern des globalen Südens ist das ein signifikanten Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren. Für Aufsehen sorgte im Dezember 2022 eine Studie eines Teams der Universität Zürich um den brasilianischen Wirtschaftswissenschaftler Guilherme Lichand, die zu dem Schluss kommt, dass die UNICEF- und ILO-Zahlen die tatsächliche Situation nur partiell abbilden: Lichand geht stattdessen von bis zu 375 Millionen Kindern und Jugendlichen aus, die weltweit in der Landwirtschaft, im informellen Bergbau, in Handwerksbetrieben, Fabriken sowie der urbanen Subsistenzproduktion, also zum Beispiel dem Straßenhandel, arbeiten. Und er fürchtet, dass diese Zahlen in den kommenden Jahren noch weiter ansteigen werden.