Von Robert Lessmann
Das Kokablatt ist fest in der Kultur und der Kosmovision der Andenvölker verankert. Als Grundstoff für die Kokainherstellung ist es aber international geächtet. Bolivien hat nun einen neuen Ansatz gestartet, diese „historische Ungerechtigkeit“ aufzuheben. In der Vergangenheit waren solche Bestrebungen isoliert und auf halbem Wege stecken geblieben. Heute hat sich die Stimmung geändert. Auch Kolumbien unterstützt den Vorstoß und kündigt seinerseits eine neue Drogenpolitik an, die unter dem Motto „paz total“ in den Friedensprozess eingebettet sein soll.

Vom 13.-17. März fand in der Wiener UNO-City die 66. UN Commission on Narcotic Drugs (CND) statt. Zum ersten Mal seit der Pandemie trafen sich die Delegierten aus aller Welt wieder ohne Einschränkungen. Mit Abstand ranghöchster Vertreter war der bolivianische Vizepräsident David Choquehuanca.
Der Mann aus dem Volk der Aymara trägt einen roten Poncho als er mit bedächtigen Bewegungen ans Rednerpult tritt und sein Glas hebt: „Milch“, sagt er nach einer längeren rhetorischen Pause zum Erstaunen der Zuhörer. „Die Milch der Mutter Erde, von der wir alle leben. Wir sind alle Brüder und Schwestern, alle gleich, aber auch unterschiedlich. Und nicht nur wir leben von der Milch der Mutter Erde. Auch die Tiere und Pflanzen.“ Und dann spricht er von der Harmonie im Kosmos und vom Kokablatt, das diese Harmonie perfekt verkörpere und das für die Andenvölker heilig sei: „Im Jahr 1961 hat die UNO Drogenkonvention einen historischen Irrtum begangen, ein Attentat auf die ursprünglichen Völker, indem sie das Kokablatt innerhalb der nächsten 25 Jahre zum Aussterben verurteilte. Auf dieses Urteil antwortete das Kokablatt: ‚Ich bin Tausende von Jahren alt. Ich bin Ausdruck des Lebens in perfektem Gleichgewicht‘, sagte es zur Konvention. ‚Ich bin Gesundheit, ich bin Nahrung, ich bin tausendjährig, ich bin unzerstörbar.‘“ Am Ende seiner Rede erhält er standing ovations von den gut hundert bei diesem side-event anwesenden NGO-Vertretern und Diplomaten.
Am Vortag, bei seiner Rede vor dem Plenum, war es unspektakulärer. Auch hier trug der ranghohe Gast einen roten Poncho, trat ansonsten aber ohne Showeffekte auf, erschien pünktlich und hielt sich fast genau an die fünfminütige Redezeit. Im Mai will Bolivien offiziell einen Antrag an den UNO-Generalsekretär stellen: Das Kokablatt soll aus der Liste No. 1 der UNO-Drogenkonvention von 1961 gestrichen werden, wo es zusammen mit Substanzen wie Kokain und Heroin aufgelistet ist und dem strengsten Kontrollregime unterliegt. Dazu wird ein Expertenkomitee der Weltgesundheitsorganisation WHO ein Gutachten erstellen und die Mitgliedsstaaten haben dann 18 Monate Zeit zur Formulierung von Einwänden, bevor der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) eine Entscheidung trifft.
Bereits im Jahr 2009 war Präsident Evo Morales nach Wien gekommen. Eine neue Verfassung hatte das Kokablatt soeben in Artikel 384 zum schützenswerten „andinen Natur- und Kulturerbe“ erklärt. Ein Kokablatt zum Mund führend hatte er damals im Plenum den Chef des UNO-Drogenkontrollprogramms UNODC aufgefordert: „Und nun müssten sie mich eigentlich anzeigen. Und deshalb bin ich gekommen: Damit die internationalen Bestimmungen in Einklang kommen mit der Kultur meines Landes – und nicht umgekehrt.“ Auch da hatte es Applaus eines Teils der Delegierten gegeben. Rappelvoll war der Saal. Alle wollten den jungen, feschen, indigenen Präsidenten aus ärmsten Verhältnissen und mit den radikalen Ansichten sehen, der mit Verspätung kam, herausfordernd-provokativ und seine Redezeit deutlich überzog. Indes: Damals machte Bolivien gleich unmittelbar einen Rückzieher und beantragte nur die Streichung zweier Unterparagraphen (Art. 49/1c und 2e) aus der Konvention, die ein Verbot von Konsum und Anbau des Kokablattes verlangen. Selbst dies scheiterte damals am Widerspruch einer Reihe selbsterklärter „Freunde der Konvention“. In einem Akt einmaliger Präzendenz trat Bolivien daraufhin als erstes Land am 1. Februar 2013 aus der UNO-Drogenkonvention aus – und unter Vorbehalt gegen gegen die Artikel 49/1c und 2e wieder bei, wodurch das Kokablatt dort quasi unter Hausarrest steht. Der Export bleibt verboten. Geändert hat das am Status quo im Grunde nichts, denn bereits die UN-Konvention von 1988 hatte Anbau und Konsum ausnahmsweise gestattet, wo sie historisch und kulturell nachgewiesen sind. Das gilt neben Bolivien auch für Peru und indigene Territorien Kolumbiens.

Im gleichen Jahr 2009 erklärte eine Lateinamerikanische Drogenkommission um die Expräsidenten Zedillo, Gavíria und Cardoso, die rasch zu einer Internationalen Drogenkommission mutierte, die internationale Drogenpolitik für gescheitert und forderte Reformen. Doch der bolivianische Vorstoß blieb isoliert und auf halben Wege stecken. Die Initiative der Expräsidenten mündete in eine Sondergeneralversammlung (UNGASS 2016) zum Thema Drogen, die „erweiterte Interpretationsspielräume für die Konvention“ einräumte, um sie als Ganzes zu retten. Im Jahr des bolivianischen Aus- und Wiedereintritts 2013 schuf Uruguay als erster Nationalstaat einen regulierten und legalen Markt für Cannabis. Etliche US-Bundesstaaten waren dem vorausgegangen und seitdem folgte eine Reihe weiterer Länder, die mit unterschiedlichen Modellen ihre Drogenpolitik am Rande oder jenseits der Bestimmungen der Konvention gestalten. Den Cannabis-“Legalisierungen“ gilt heute die Hauptsorge des INCB (International Narcotics Control Board), der UNO Wächterorganisation über die Einhaltung der Konventionen, und die USA, die stets Hauptprotagonist des „Drogenkriegs“ waren, sind heute mit der Eindämmung der Fentanyl-Krise beschäftigt, die Opfer in bisher unbekanntem Ausmaß fordert.
Sind also heute die Chancen für eine Entkriminalisierung des Kokablattes größer? Die herkömmliche Drogenpolitik ist in Bausch und Bogen gescheitert. Nach einem halben Jahrhundert angebotsorientiertem „Drogenkrieg“ liegen die Kokain- und die Heroinproduktion auf Rekordniveau. Das gilt auch für deren pflanzliche Ausgangsprodukte Koka (Bolivien, Kolumbien und Peru) bzw. Schlafmohn (Afghanistan, Myanmar). Eine wachsende Zahl von Ländern hält Prävention und Therapie inzwischen für zielführender als deren Bekämpfung, die eine Menge negativer Begleiterscheinungen hatte. „Drogenkonsum kann töten“, sagte der UNO Hochkommissar für Menschenrechte, der Österreicher Volker Türk, in seinem Videostatement zum Auftakt der diesjährigen Kommission: „Drogenpolitik aber auch“. Er wandte sich damit insbesondere gegen die Todesstrafe im Zusammenhang mit Drogendelikten. Doch jahrzehntelang waren auch die Kokabauern der Andenländer Zielscheibe des „Drogenkriegs“. Kolumbien, das einen hohen Preis an Menschenleben und Bauernvertreibungen bezahlt hat, kündigte unter dem Motto „paz total“ eine neue Drogenpolitik an, die in den Friedensprozess eingebettet sein soll und insbesondere die Bauern aus der Schusslinie nehmen will. „Wir sind es leid, die Toten zu stellen“, sagte Delegationsleiterin Laura Gil. Bogotá unterstützte explizit den bolivianischen Vorschlag. Und auf Initiative des mexikanischen Präsidenten López Obrador soll es im August in Bogotá eine internationale Konferenz zur Koordination dieser Politiken geben. Man darf gespannt sein.
Robert Lessmann beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit der internationalen Drogenpolitik. Er ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Aufsätze zum Thema. neuere Arbeiten dazu sind im Blog auf seiner Homepage einzusehen:
www.robert-lessmann.com