Exodus – und kein Ausweg für Haitis Binnenflüchtlinge

Interview von Jürgen Schübelin mit Darline Volcy und Pierre Hugue Augustin

Als Ende 2023 die berüchtigte Gran Ravin-Gang in mehreren aufeinander folgenden Nächten bei Kämpfen um die Kontrolle über das dicht bebaute Armenviertel Carrefour-Feuilles im Südwesten der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince 104 Anwohner ermordete, löste das die panische Flucht von 15.000 Menschen aus. Die seit 2021 immer brutaler werdende Terrorherrschaft miteinander rivalisierender krimineller Banden und eine extrem schwache, fragmentierte – nicht durch Wahlen legitimierte – Regierung, die dieser Gewalt nichts entgegenzusetzen hat, sorgen in dem völlig verarmten Karibikstaat für den gewaltigsten Exodus seiner Geschichte: Wer es – wie auch immer – schafft, die dafür nötigen Summen aufzubringen, versucht, sich und seine Familie auf das südamerikanische Festland oder in die USA und nach Kanada zu retten. Laut UNHCR waren das allein 2023 über 300.000 Menschen. Zurück bleiben die Ärmsten. Der österreichische Diplomat Volker Türk, Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, spricht in seinem jüngsten Bericht über die Lage in dem Karibikstaat von 200.000 Menschen, die sich im eigenen Land auf der Flucht vor dem brutalen Regime der Banden befinden – die Hälfte von ihnen Kinder. Wo bleiben diese Menschen? Wie überleben sie? Die Sozialarbeiterin Darline Volcy und ihr Kollege Pierre Hugue Augustin, Sozialwissenschaftler und Leiter von KNH-Haïti, des Kindernothilfe-Büros in Port-au-Prince, antworten.

Wie konnte es zu dieser gewaltigen Zahl von 200.000 Binnenflüchtlingen – einem Siebtel der Einwohner von Port-au-Prince – kommen?

Darline Volcy und Pierre Hugue Augustin; © Jürgen Schübelin

Darline Volcy: Das Ausmaß der Gewalt und die Brutalität der Gangs, die um die Kontrolle von Stadtvierteln und die Möglichkeit, die dort lebenden Menschen auszuplündern, kämpfen, haben in den letzten vier Jahren eine nie dagewesene Dimension erreicht. María Isabel Salvador, Leiterin des UN-Büros in Haiti, spricht von 8.400 Menschen, die allein 2023 Opfer von Bandengewalt wurden – ermordet, verletzt oder gekidnappt; mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Eltern leben in Todesangst um ihre Kinder. Längst sind Schulen keine sicheren Orte mehr. Gesundheitsposten, Universitäten und selbst Grundschulen sind Schutzgelderpressungen, Plünderungen und Brandschatzungen ausgesetzt. Es gibt gezielte Angriffe auf Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiter:innen von Gesundheitsposten und Krankenhäusern. Für die Betroffenen ist das ein nicht endender Albtraum. Meist ist der konkrete Anlass für die Flucht, unmittelbar selbst einen Angriff erlebt und Angehörige verloren zu haben.

Wie gelingt es den Menschen, aus der Hauptstadt herauszukommen und wohin fliehen sie?

Pierre Hugue Augustin: Jede Flucht ist extrem gefährlich. Menschenrechtsorganisationen listen inzwischen über 200 kriminelle Banden auf, die 80 Prozent des Territoriums von Port-au-Prince unter ihre Kontrolle gebracht haben. Sie installierten einen Belagerungsring, der den Menschen dieser Stadt die Luft abschnürt. Wir nennen ihn cercle infernal, Höllenkreis. Alle vier großen Ausgangsstraßen werden von schwer bewaffneten Gangs kontrolliert. Wer an ihren Straßensperren vorbei will, muss viel Geld bezahlen und läuft immer Gefahr, gekidnappt zu werden. Deshalb versuchen viele, im Morgengrauen unter Vermeidung der Hauptstraßen – oft zu Fuß oder mit Tap-Taps, völlig überladenen Sammeltaxis, aus der Stadt herauszukommen. Die Erfahrung zeigt, dass um diese Tageszeit die Präsenz der Banden etwas geringer ist. Port-au-Prince und die Nachbarstadt Carrefour sind im Süden von Bergen begrenzt. Es gibt Flüsse, die überwunden werden müssen. In der Regel versuchen die Menschen, sich zu Verwandten durchzuschlagen, die auf dem Land oder in kleineren Städten im Nordosten oder Südwesten leben. Eine andere Fluchtmöglichkeit bilden die aus Holz gebauten Lastensegelschiffe, voiliers, die entlang der Küste unterwegs sind. Allerdings häuften sich zuletzt Piratenangriffe mit vielen Toten. Und dann gibt es extrem prekär ausgestattete, vom haitianischen Zivilschutz eingerichtete Notunterkünfte und Zeltlager am Rand der Stadt, in denen die Menschen provisorisch unterkommen, aber in ständiger Angst vor erneuten Übergriffen leben – und deshalb versuchen, weiter zu fliehen.

Eine der wenigen sicheren Routen heraus aus Port-au-Prince über den Rivière Froide-Fluss südlich von Carrefour in die Berge; © Jürgen Schübelin

Die UN-Menschenrechtsorganisation UNHCR berichtet, dass es den Gangs in den vergangenen Monaten gelungen ist, auch Teile des Departments Artibonite – nördlich der Hauptstadt – und andere größere Kommunen unter ihre Kontrolle zu bringen. Was bedeutet das für die Binnenflüchtlinge?

Pierre Hugue Augustin: Das ist eine extrem dramatische Entwicklung, die aber absehbar war. Es geht darum, mit einem Geschäftsmodell zu expandieren, das aus Drogenhandel, Zwangsprostitution sowie Schutz- und Lösegelderpressung besteht. Für die aus der Hauptstadt Geflüchteten macht das die Lage nur noch aussichtsloser. Eigentlich sind nur die abgelegensten ländlichen Gebiete, die vielfach auch die ärmsten Haitis sind, wirklich sicher. Zumindest eingeschränkt akzeptabel ist die Sicherheitslage nach unserer Erfahrung derzeit noch in der Umgebung von Jacmel, Hinche, Les Cayes, Cap-Haïtien, Ouanaminthe und Port-de-Paix. Die Expansion des Banden-Terrors hat auch zur Folge, dass internationale Nichtregierungs-Organisationen, die sich zunächst aus der Hauptstadt zurückgezogen haben, jetzt das Land ganz verlassen. Eine flächendeckende Unterstützung der Binnengeflüchteten durch die UN oder andere internationale Institutionen ist unter diesen Bedingungen kaum zu organisieren.

Wo kommen die Geflüchteten unter? Wie überleben sie?

Darline Volcy: Zunächst müssen wir daran erinnern, dass sich diese Katastrophe in einem Land abspielt, in dem inzwischen fünf der 11,5 Millionen Einwohner – darunter drei Millionen Kinder – hungern und gleichzeitig die internationale Hilfe, auch im Gefolge der sich häufenden Angriffe von Gangs auf Nothilfe-Organisationen oder kirchliche Institutionen, regelrecht eingebrochen ist. Die aus der Hauptstadt Geflüchteten versuchen in der Regel, sich zu entfernten Verwandten durchzuschlagen. Sie kommen dort meist ohne Ressourcen an. Wir kennen das Beispiel einer Mutter, die es mit ihren Kindern bis Port-à-Piment im Südwesten Haitis geschafft hat, und jetzt nachts mit ihrer Familie unter dem Tisch der Verwandten, bei denen sie untergekommen ist, schläft. Andere kampieren unter freiem Himmel auf Straßen und Plätzen oder vor Kirchen.

Provisorische Schule in der Nähe von Fonds-Parisien mit Kindern, die mit ihren Familien nach der Flucht in die Dominikanische Republik zurück nach Haiti deportiert wurden;
© Jürgen Schübelin

Pierre Hugue Augustin: In einem Land, in dem die meisten Menschen mit Subsistenz-Produktion, Überlebensökonomie, versuchen, irgendwie durchzukommen, gibt es für die Geflüchteten wenig Möglichkeiten, sich dort, wo sie Zuflucht suchen, ein eigenes Einkommen zu schaffen. Deshalb beobachten wir, dass immer wieder Eltern ihre Kinder bei Verwandten zurücklassen und versuchen, in die Hauptstadt zurückzukehren, um dort etwas Geld zu verdienen. Dadurch wächst das Risiko, dass diese Kinder zu restavèk, unbezahlten, ausgebeuteten Arbeitskräften, die nie mehr zur Schule gehen, werden. Wir erleben, dass Kinder auf dieser gefährlichen Flucht aus Port-au-Prince ohnedies extremen psychischen Belastungen und massivstem Stress ausgesetzt sind. Und eine Katastrophe in der Katastrophe ist es, dass zehntausende Mädchen und Jungen, die mit ihren Eltern – oder oft auch nur einem Elternteil – geflohen sind, den Zugang zur Schule und zum Unterricht verlieren, weil es dort, wo sie landen, keine Kapazitäten und Ressourcen gibt, um sie in den bereits völlig überfüllten Klassen unterzubringen. Der einzige Lichtblick, der uns in dieser Situation Mut macht, hat mit der Bewegung der Frauen-Selbsthilfegruppen zu tun: Wir haben seit 2010, kurz nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti, daran gearbeitet, in abgelegenen ländlichen Regionen gwoup dantred aufbauen zu helfen, inzwischen mehrere hundert Organisationen von Frauen, die durch ihre eigenen wöchentlichen Sparanstrengungen in der Lage sind, sich gegenseitig für kleine Geschäftsideen Darlehen zu geben. Mit den Erlösen dieser Aktivitäten gelingt es den Frauen, die wirtschaftliche Situation ihrer Familien zu verbessern. Jetzt berichten die gwoup dantred, dass sie für viele Kinder, die von ihren Eltern aus Port-au-Prince aufs Land gebracht wurden, die Verantwortung übernommen haben, sie betreuen und versorgen.

Darline Volcy: In Haiti sagen wir immer, unsere wichtigste Ressource ist Widerstandsfähigkeit, Resilienz-Kompetenz! Wir sind Expert:innen im Überleben. Aber was wir jetzt wirklich brauchen, ist internationale Hilfe, um die Geldströme der Gangs auszutrocknen und den scheinbar ungehinderten Zufluss von immer mehr Waffen in dieses Land zu stoppen! Dafür sind auch konsequente internationale Sanktionen gegen korrupte Politiker, Zollverantwortliche und jene Polizeioffiziere, die eng mit dem organisierten Verbrechen verzahnt sind, notwendig!


Darline Volcy (43) hat an der Université d’Etat d’Haïti Soziale Arbeit studiert, arbeitet seit 2022 bei Kindernothilfe Haïti, nachdem sie zuvor bei Save the Children engagiert war. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Begleitung der Schul- und Bildungsprogramme von KNH-Haïti.

Pierre Hugue Augustin (42) ist Kinderechtsexperte, Anthropologe und Soziologe mit Studium an der Université d’Etat d’Haïti und gehört seit 2014 dem Kindernothilfe Haïti-Team an. Seit 2017 leitet er das KNH-Büro in Port-au-Prince.

Das Gespräch führte Jürgen Schübelin.