Von Alberto Acosta
Ecuador ist schon seit einigen Jahren keine „Insel des Friedens“ mehr. Die jüngsten Ausbrüche extremer Gewalt sind nur der Höhepunkt einer Kombination mehrerer interner und externer Prozesse. Die jüngste Ausrufung eines „internen bewaffneten Konflikts“ zur Bekämpfung des Drogenhandels und der organisierten Kriminalität ist ein Schritt, der den bisher gescheiterten Versuch, der wachsenden Unsicherheit mit Gewalt zu begegnen, noch erheblich verstärkt. Ohne zu leugnen, dass es wichtig ist, gegen jede Art von Kriminalität vorzugehen, insbesondere eine so tödliche wie die mit dem Drogenhandel verbundene, gibt es viele Bedenken hinsichtlich der von der Regierung von Präsident Daniel Noboa angewandten Strategien und Maßnahmen.
Die Wahrheit ist, dass die Option des Krieges die zugrundeliegenden Probleme nicht lösen und schon gar nicht die Präsenz des transnationalen organisierten Verbrechens beenden wird. Doch sie könnte eine Reihe perverser politischer Prozesse in Gang setzen, die von der Militarisierung der Gesellschaft geprägt sind, und auch wirtschaftliche Prozesse, die von einer stärkeren Neoliberalisierung angetrieben werden. Eine doppelte Zange, die sogar die fragile demokratische Institutionalität dieses Andenlandes beeinträchtigen könnte.
Die Hintergründe des Ausbruchs der Kriminalität
Die Gründe für diese komplexe Situation sind in verschiedenen Bereichen zu finden, von denen viele miteinander verknüpft sind. Die neoliberale Ideologie im eigenen Land, die auf eine Verkleinerung des Staates drängt, kann ebenso wenig ignoriert werden wie die Veränderungen im transnationalen Drogenhandel.
Seit der Covid-19-Pandemie wird eine extreme Austeritätspolitik betrieben, um ein finanzielles Gleichgewicht zu erreichen. Erinnern wir uns an die trostlosen Bilder, vor allem aus Guayaquil, wo man die Menschen auf den Straßen sterben sah, weil es keine medizinische Versorgung gab, während die Regierung lieber die Auslandsschulden bediente. Seitdem hat die restriktive Wirtschaftspolitik den sozialen Bereich an den Rand gedrängt und sogar zu massiven Kürzungen bei den Sicherheitsbudgets geführt.
Infolge dieser neoliberalen Austeritätspolitik nahm die Armut stetig zu. In diesem Zusammenhang hörten die großen Wirtschaftsgruppen, allen voran die Privatbanken, nicht auf, Geld anzuhäufen: So stieg beispielsweise das persönliche Vermögen des Banker-Präsidenten Guillermo Lasso während seiner 900 Tage im Amt um 21 Millionen Dollar. Diese Situation ist kein zufälliges Ergebnis oder bloß eine Folge der durch die Pandemie verursachten Lähmung. Eine Reihe wirtschaftspolitischer Machenschaften hat die Wirtschaft geschwächt, wodurch das Niveau von vor der Pandemie nicht wieder erreicht werden konnte, was die Gesellschaft hart getroffen hat, auch in Form von mehr Unsicherheit, wie wir noch sehen werden.
Hervorzuheben ist beispielsweise der Abbau der Sicherheitsinstitutionen, die unter der Regierung von Rafael Correa mit der Verringerung der Mordrate von 2010 bis 2017 bedeutende Ergebnisse gebracht hatten; dieser Erfolg war auch auf den vor allem durch die hohen Ölpreise angetriebenen Wirtschaftsboom zurückzuführen, der es bis 2015 ermöglichte, die Armut zu verringern.
Sein Nachfolger Lenin Moreno, der den oben erwähnten Sparkurs einleitete und versuchte, den Staat zu verkleinern, löste das Justizministerium auf, das die Gefängnisse kontrollierte; er strich das Ministerium, das in Sicherheitsfragen koordinierte; er fusionierte das Politik- und das Sicherheitsministerium zu einem einzigen Ministerium, das für alle diese staatlichen Maßnahmen zuständig war; und das alles mit einem kleineren Budget für all diese Bereiche. Diese Misswirtschaft verschlimmerte sich unter Guillermo Lasso, der eine Politik der „harten Hand“ einzuführen versuchte, ohne auch nur die Gefängnisse zu kontrollieren.
Erwähnenswert ist auch die durch den Código Orgánico Integral Penal erzielte Wirkung des Strafpopulismus, der 2014 die Strafen erhöhte. Dies trug dazu bei, die Gefängnisse zu füllen, auch mit Hunderten von Menschen, die kleinere Vergehen begangen hatten. Gefängnisse wurden zu „Zufluchtsorten“ für kriminelle Banden, die sie sogar in eine Art „Hauptquartier“ verwandelten, um ihre Straftaten fortzusetzen. Während all dieser Jahre kam es zu einer Art Koexistenz zwischen dem Staat und einigen kriminellen Banden, die nach und nach die staatlichen Institutionen übernahmen. Der Grad der Durchdringung des organisierten Verbrechens ist so groß, dass seine Infiltration fast aller staatlichen Instanzen, der Justiz, der Sicherheitskräfte, des Privatsektors und sogar des Sports öffentlich anerkannt wird.
Gleichzeitig fanden im Drogengeschäft mehrere Veränderungen statt; Ecuador hörte auf, in der regionalen und globalen Drogenökonomie eine untergeordnete Rolle zu spielen. Insbesondere durch die Aktivitäten mexikanischer und europäischer Kartelle wurde das Land vollständig in diesen transnationalen Markt integriert. Der Hafen von Guayaquil wurde zum Ausgangspunkt für die größte Menge an Kokainlieferungen nach Europa, meist vermischt mit Bananen, dem wichtigsten ecuadorianischen Agrarexportprodukt in diesen Kontinent.
Hinzu kam, dass im Zuge des sich wandelnden Drogenhandels die „Dienstleistungen“ nicht mehr mit Dollar, sondern mit Drogen bezahlt wurden, was zu einem massiven Anstieg des Drogenkonsums im eigenen Land und den daraus resultierenden gewaltsamen Konflikten um die Binnenmärkte führte, zusätzlich zu den bereits bestehenden und sogar blutigen Auseinander-setzungen der großen Drogenkartelle um die internationalen Routen. In diesem Szenario bereicherte und bereichert sich das organisierte Verbrechen, sei es durch Drogenhandel, irreguläre Waffenverkäufe, Menschenhandel, Erpressung, Entführung und Hunderte von legalen, nicht nur illegalen Geschäften.
Dieses komplexe Geflecht von Entwicklungen begann vor einigen Jahren in den Gefängnissen zu explodieren. Die folgenden Gefängnis-Massaker waren nur ein Vorgeschmack auf das Pulverfass, das vor der Explosion stand. Ein Höhepunkt dieser Gewaltspirale wurde mit der Ermordung eines Präsidentschaftskandidaten mitten im Wahlkampf im August 2023 erreicht, die offenbar von Auftragskillern mit Verbindungen zum Drogenhandel in ungeklärter Komplizenschaft mit Mitgliedern der Sicherheitskräfte und vielleicht auch einer politischen Gruppierung verübt wurde; als brutale Ergänzung zu diesem Mord wurden anschließend sieben Tatverdächtige in zwei Gefängnissen ermordet. Das Ergebnis ist ein Land, das sich in einen ausbrechenden Vulkan verwandelt hat und damit an der Spitze der Länder mit den meisten Morden pro 100.000 Einwohner in der Region steht.
Der Narco-Dollar als Stütze der Wirtschaft
In diesem Zusammenhang durchdringen der Drogenhandel und verschiedene Formen der organisierten Kriminalität die gesamte ecuadorianische Wirtschaft. Die Wäsche von Vermögenswerten, die auf etwa 3,5 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt wird, entspricht 3 % des BIP, wovon 75 % in die so genannte formelle Wirtschaft fließen. Die Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen kann sogar noch viel höhere Werte darstellen, bis zum Fünffachen oder mehr der Geldwäsche.
Diese Zahlen und Daten müssen in eine dollarisierte Wirtschaft eingeordnet werden, die für alle Arten von illegalen Aktivitäten sehr attraktiv ist. Unter dem Strich stützt der Narco-Dollar sowohl die Dollarisierung als auch die Wirtschaft dieses kleinen Andenlandes. Und das alles in einem Umfeld, in dem es zahlreiche Komplizenschaften mit den politischen und wirtschaftlichen Eliten Ecuadors gibt. Ironischerweise stammt eine weitere wichtige und wachsende Finanzierungsquelle – mit mehr als fünf Milliarden Dollar im letzten Jahr – aus den Überweisungen von Landsleuten, die durch eine Politik, die den Staat schrumpfen lässt, um den Spielraum des Kapitals, sogar des mit dem Drogenhandel verbundenen, zu vergrößern, zur Auswanderung gezwungen waren.
Dieses direkt mit dem organisierten Verbrechen verbundene Kapital, das die Möglichkeit aufhebt, die formelle von der irregulären Wirtschaft zu unterscheiden, wird durch das kapitalistischste aller Geschäfte genährt, wie die deutsche Zeitung taz erkannt hat. Illegalität bedeutet ein Geschäft ohne Regulierung, ohne Arbeitsplatzsicherheit, ohne Qualitätskontrolle, ohne Steuern, ohne Umweltvorschriften, ohne Tarifverträge, ohne Gewerkschaften und ohne Kartellrecht. Dieses Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft erfolgt nach dem Recht des Stärkeren, d. h. nach dem freien Markt in seiner reinsten Form. Zudem wird dieses Geschäft durch eine ständig wachsende Nachfrage angetrieben.
Um dieser gigantischen Macht entgegenzutreten, setzt die ecuadorianische Regierung vorrangig auf eine militärische Lösung und öffnet sogar die Tür für die verfassungswidrige Rückkehr von US-Truppen auf ecuadorianisches Territorium. Dieses Thema ist im Rahmen des geostrategischen Wettstreits zwischen den Großmächten zu verstehen und könnte durchaus Teil einer Art Plan Kondor des 21. Jahrhunderts sein.
Mehr Neoliberalismus und Extraktivismus, um den „Krieg“ zu finanzieren
Unter diesen schwierigen Umständen taucht der „Krieg“ mit seinen wirtschaftlichen Anforderungen auf. Um ihn zu finanzieren, wird vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, die Subventionen für Treibstoff zu streichen und sogar die Erdölförderung im Yasuní-ITT fortzusetzen – gegen den Willen des ecuadorianischen Volkes, der an der Wahlurne zum Ausdruck kam. Um sich die Unterstützung der Nationalversammlung und der Gesellschaft zu sichern, greift die Regierung, wie schon bei vielen anderen Gelegenheiten, auf „Wirtschaftsterrorismus“ zurück: Werde diese Art von Maßnahmen nicht angenommen, drohe laut den Wortführern des Neoliberalismus der Zusammenbruch.
Es wäre eine perverse Fantasie, auf neue Kredite von multilateralen Organisationen zu hoffen, weil der IWF zum Beispiel die Mehrwertsteuer-prüfung positiv bewerten wird. Vor allem, weil es damit keinen Kurswechsel geben wird, und auch weil diese neuen Kredite mit neuen Liberalisierungs- und Privatisierungsforderungen einhergehen werden. In der Tat wurden seit Beginn der Regierung Noboa zwei Gesetze verabschiedet, die in diese Richtung gehen, und zwar mit breiter parlamentarischer Unterstützung, wobei allerdings die Opposition des Minderheitenblocks Pachakutik hervorsticht: das Gesetz über wirtschaftliche Effizienz und die Schaffung von Arbeitsplätzen, das die vielfältigen Vorteile für Investoren in den „Freihandelszonen“, seit der Regierung Correa als Sonderzonen für Wirtschaftliche Entwicklung bekannt, erweitert und auch die als öffentlich-private Allianzen getarnten Privatisierungen weiter ausbaut, die ebenfalls unter Correa ins Leben gerufen wurden. Als nächstes billigte das Parlament das Gesetz über die Wettbewerbsfähigkeit im Energiesektor, das die Voraussetzungen für eine Ausweitung der Privatisierung im Stromsektor schafft.
Der Vorschlag, die Mehrwertsteuer – eine regressive und rezessive Steuer – zu erhöhen, stößt auf die Ablehnung mehrerer Fraktionen in der Versammlung, die vorgeben, sich um die Armen zu kümmern, aber keine Skrupel hatten, einen großen Teil der millionenschweren Steuerschulden der größten Wirtschaftsgruppen des Landes durch das bereits erwähnte Gesetz zur wirtschaftlichen Effizienz und zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu erlassen. Zugleich werden aus vielen Teilen des politischen Spektrums, von den Konservativen bis zu den Progressiven, Stimmen laut, die die Fortsetzung der Ölförderung aus dem ITT fordern. Auch Präsident Noboa, der im Referendum mit JA gestimmt hat, spricht von einem Moratorium für diese Entscheidung. Konkret sind alle diese Gruppen, die sich als um das Wohlergehen der Bevölkerung besorgt darstellen, wieder in der Offensive für die Erdölförderung und betreiben erneut eine Kampagne voller großartiger Botschaften und fantastischer Zahlen. Am Ende werden es wie immer die Armen und die Natur sein, die alle Kosten des „Krieges“ tragen werden, sei es in wirtschaftlicher Hinsicht oder in Bezug auf das Leben selbst.
Die Oligarchien sehnen sich nach einem „Mikele“
Ecuador durchlebt eine äußerst komplexe Phase. Der kriegerische Ansatz öffnet die Tür für mehrere zusätzliche Komplikationen. Er unterwirft die Nationalpolizei, die nun als Hilfstruppe der Streitkräfte betrachtet wird. Er verstärkt Reaktionen, die verschiedene Sichtweisen einbeziehen und sogar durcheinander bringen können, wie z.B. die des Militärs, der Drogen-bekämpfung, von Kriminalität, Aufstandsbekämpfung, Terrorismus-bekämpfung… So könnten soziale Gruppen, die ihre Unzufriedenheit mit der Regierungspolitik zum Ausdruck bringen, oder Gemeinden, die ihre Gebiete gegen Rohstoffinteressen verteidigen, sogar als Terroristen bekämpft werden, ebenso wie jene, die den sich gerade herausbildenden repressiven Konsens kritisieren. Dies ist der Weg, auf dem ständige Menschenrechtsverletzungen entstehen und sich verschärfen. Was sich in Mexiko und Kolumbien ereignet hat, könnte durchaus auch in Ecuador geschehen.
Wenn nicht verstanden wird, dass die Lebensbedingungen der traditionell marginalisierten und ausgebeuteten Bevölkerung wesentlich verbessert werden müssen, und die ökologischen Gleichgewichte nicht respektiert werden, wird man keine soliden Grundlagen für eine echte Sicherheit der Bürger schaffen können.
Diese Schlussfolgerung ist jedoch weit von den Wünschen der Machthaber entfernt. Präsident Noboa, der sich auf die breite gesellschaftliche Unterstützung stützt, die er mit der „Kriegserklärung“ an den Drogenhandel erreicht hat, bereitet bereits eine Volksbefragung vor, um die neoliberale und sogar repressive Gangart zu beschleunigen. Die wirtschaftlich und politisch mächtigen Gruppen sehen die Zeit gekommen, die herrschenden Strukturen zu festigen, und wollen, dass Noboa sich in einen Mikele, eine Kombination aus Argentiniens Milei und El Salvadors Bukele, verwandelt.
Der Ökonom Alberto Acosta war Präsident der verfassunggebenden Versammlung Ecuadors (2007-2008). Sein Artikel wurde in der Zeitschrift AMAUTA Siglo XXI, Jahrgang 5, Nummer 16, Februar 2024 veröffentlicht und von der IGLA unter Verwendung von deepl.com übersetzt.