Die Schutzengel von Ciudad Bolívar

Interview: Martin Wolf

Seit mehr als 40 Jahren setzt sich die Pädagogin und Sozialarbeiterin Maria Antonia Zárate, genannt Totis, für benachteiligte und vulnerable Gruppen in den Armenvierteln von Bogotá ein. Sie ist Direktorin der „Corporación Educativa y Social“ (CES) Waldorf, einer in den Steilausläufern der Kordilleren am Rande der kolumbianischen Hauptstadt gelegenen sozialen Bildungseinrichtung, die sich an den Grundlagen der Waldorf-Pädagogik orientiert und vom Wahl-Salzburger Helmut Loebell gegründet wurde. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich hingebungsvoll um dort ansässige Familien, die von der Gewalt im kolumbianischen Bürgerkrieg aus ihren ländlichen Heimatgemeinden vertrieben wurden. Die gemeinnützige Organisation ist auf Spenden angewiesen, um ihr Bildungs- und Berufsförderungsangebot aufrechterhalten zu können.

Warum Totis zeitweilig gegen den Widerstand staatlicher Stellen handelte und mehrmals beinahe im Gefängnis landete, warum es so wichtig ist, Jugendliche sowohl vor den Fängen der Paramilitärs als auch der Guerilla zu bewahren und was ihre Arbeit über die andauernde Gespaltenheit der kolumbianischen Post-Bürgerkriegsgesellschaft aussagt, erklärt die unermüdliche Kämpferin für soziale Gerechtigkeit im folgenden Interview.  

Das CES Waldorf in Ciudad Bolívar; © Martin Wolf

Was sind die Ziele der CES Waldorf?

Die Entwicklung von Ausbildungsprozessen für Kinder, Jugendliche und deren Familien, die sozial ausgegrenzt und somit verwundbar sind. Diese Prozesse versuchen ihre individuelle Einzigartigkeit zu erhalten und eine Weiterentwicklung auf Basis von Solidarität und Gemeinschaftssinn zu fördern. Weiters sollen deren Menschenrechte garantiert und sie bei der Wiederherstellung dieser Rechte unterstützt werden.

Wer kann am Sitz der CES Waldorf um Unterstützung bitten?

Alle Personen des Viertels, die sich in irgendeiner Weise in ihrem Weiterkommen eingeschränkt sehen, sei es gesundheitlich, gefühlsmäßig, sozial, kulturell oder hinsichtlich ihrer Ausbildung. An unsere Türe klopfen Familienväter und Mütter, die Unterstützung bei der Erziehung ihrer Kinder benötigen oder Beratung suchen, um Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu erhalten. Oder sie brauchen nach diversen Gewalterfahrungen eine psychosoziale Begleitung. Außerdem bieten wir ihnen juristischen Beistand in Fällen von Rechtsverletzungen sowie eine Ernährungsberatung an.

Welche Arten von Ausbildung werden angeboten?

Bei uns gibt es fünf Programme sowohl künstlerischer als auch erzieherischer Natur, in denen Aufsicht und Unterricht für die Kinder angeboten werden.

– Im Kindergarten werden 60 Kinder zwischen zwei und fünf Jahren betreut.

– Das Programm zur Unterstützung von Erziehung und Sozialleben (PAES) umfasst 190 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren. Diese nehmen an insgesamt fünf Werkstattkursen teil: Bildende Kunst, Zahlen und Buchstaben, Textiles Handwerken, Theater, Musik.

– Am Ausbildungsprogramm für Jugendliche und Erwachsene nehmen 70 Personen zwischen 17 und 85 Jahren teil. Diese benötigen entweder einen Hauptschulabschluss oder holen ihre Matura nach, was ihnen in der Kindheit oder Jugend verwehrt gewesen war.

– Das Gesundheitsprogramm verfügt über einen praktischen Arzt, eine Psychologin und eine Logopädin, die alle Kinder, Jugendlichen sowie deren Familien betreuen, von denen sie angefragt werden. Die hier geleistete spezifische Betreuung umfasst medizinische Behandlungen ebenso wie Präventivmaßnahmen gegen Erkrankungen oder Risikovorbeugung. Außerdem gibt es psychosoziale Begleitung sowie Sprach- und Beschäftigungstherapie. Alle medizinischen Fachkräfte bieten sowohl Beratung als auch Weiterbildung für die Eltern an.

– Das Team des Programms für Sozialarbeit besteht aus zwei Sozialarbeitern, die sich für die Gewährleistung und Wiederherstellung der elementaren Menschenrechte jener Familien am Rand der Gesellschaft einsetzen. Sie führen Hausbesuche und Beratungen durch, halten Sprechstunden ab, begleiten ihre Klient:innen und leisten Nachsorge bei problematischen Szenarien von insgesamt 250 Familien, die am Projekt teilnehmen.

Weiters wird eine Gruppe von Frauen koordiniert, die vielfache Gewalterfahrungen erleiden mussten und psychosoziale Unterstützung erhalten. Diese soll sie zu Selbstermächtigung ermutigen und dazu befähigen, ihre traumatischen Situationen zu bewältigen. Dafür werden ihnen Pläne für ein erfülltes Leben unterbreitet.

Schließlich konzentriert sich diese Abteilung auch auf Familien, die der Unterstützung bei der Beschaffung von Lebensmitteln bedürfen, was auf ungefähr 90 % der teilnehmenden Familien zutrifft.

– Zu guter Letzt bieten wir noch die Dienste einer Gemeinschaftsbibliothek an. Diese wird täglich im Schnitt von fünfzig Kindern und Jugendlichen aufgesucht. Dort erhalten Sie Hilfe bei den schulischen Hausaufgaben von unserem Personal oder den Praktikantinnen. Dadurch wird das Hinterherhinken im Unterricht oder gar das dauerhafte Verlassen des Unterrichts vermieden.

Die Kinder kommen vorwiegend aus ärmlichen Verhältnissen; © Martin Wolf

Bestehen Unterschiede zwischen dem öffentlichen Schulwesen und der öffentlichen Gesundheitsversorgung in Kolumbien und dem Erziehungskonzept in der CES Waldorf?

In der Tat, sowohl das Erziehungs- als auch das Gesundheitssystem in Kolumbien sind institutionelle Dienstleistungen auf formaler Basis, während wir ein informelles Bildungsangebot machen. Unser Fokus der Vermittlung liegt auf Waldorf-Pädagogik, Traumabewältigung sowie anthroposophischer Vorsorgemedizin. Wir ergänzen nicht das staatliche Bildungssystem, sondern bestärken und unterstützen vielmehr jene Prozesse, mit denen die Menschen seit jeher vorankamen.

Unsere Bestrebungen zielen auf die Entwicklung der Einzigartigkeit der Kinder und ihrer Familien ab, ausgehend von der Entwicklung ihrer Begabungen, Fähigkeiten und Stärken. Dieses Grundgerüst soll dazu beitragen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Darüber hinaus kann die umfassende Begleitung die Betroffenen dazu befähigen, Widerstandskraft aufzubauen und traumatische Erfahrungen hinter sich zu lassen.

Wir verzichten in unserer Arbeit auf Kostendeckung, außer was die Abläufe am Standort betrifft. Vorübergehend haben wir vereinbart, dass die Familien unsere Angebote im Schnitt für maximal fünf Jahre nutzen. Dies unter der Annahme, dass sie bis dahin für sich selbst den passendsten Weg gefunden haben, ihre Schwierigkeiten zu überwinden und es geschafft haben, eine Veränderung ihrer Lebensumstände herbeizuführen, sei es auf menschlicher oder auf materieller Basis.

Mit welchen Schwierigkeiten und Hindernissen sehen Sie sich in Ihrer täglichen Arbeit konfrontiert?

Obwohl ein Friedensabkommen mit der Guerillagruppe FARC unterzeichnet wurde und dadurch zu hoffen war, dass die von diesem bewaffneten Konflikt ausgehende Gewalt abnehmen würde, währte die Hoffnung nicht lange. Im Gegenteil, durch diese gewalttätigen Auseinandersetzungen wurde die Zahl vertriebener Familien noch größer. Ihnen fehlt der Zugang zu Arbeit, einem geregeltem Einkommen, Bildung, Gesundheitsleistungen sowie der Schutz durch andere fundamentale Menschenrechte, was extreme Armut erzeugt.

Die Gewalt in Kolumbien hat nicht nur die Ankünfte der vom bewaffneten Konflikt Vertriebenen vergrößert, darüber hinaus strömen Migrantenfamilien aus Venezuela zu uns und es haben sich kriminelle Banden im Viertel gebildet. Letzteres löst Unsicherheit und Angst aus, verändert die Machtverhältnisse hinsichtlich der Kontrolle von Land und Boden und verursacht Bedrohungen oder gar gewaltsame Todesfälle unter den in der Nachbarschaft lebenden Familien.

Die Arbeitslosigkeit unter Vätern und Müttern trifft auf niedrige Schulbildung und geringe professionelle Qualifikationen. Dies ruft negative Phänomene wie Delogierungen, Ausschluss von Gesundheitsdienstleistungen, Unterernährung und niedrige Einkommen auf den Plan. Viele Menschen in der Sierra Morena leben von weniger als umgerechnet einem Euro am Tag.

Weitere Probleme sind Schulabbrüche; die Zunahme innerfamiliärer Gewalt, der Konsum psychoaktiver Substanzen, Alkoholismus und Drogensucht; das gesteigerte Missbrauchsrisiko und die Zunahme von Cyber-Gewalt; die Einsamkeit und Schutzlosigkeit, denen die Kinder ausgesetzt sind, während ihre Eltern den ganzen Tag unterwegs sind, um Mittel zum Überleben aufzutreiben; die zunehmend schlechte Ernährung wegen der hohen Einnahme von Kohlehydraten bei gleichzeitig mangelnder Bewegung; fehlende Geldmittel, um familiäre Initiativen in einem den Vorhaben der Weiterbildung angemessenen Ausmaß zu unterstützen.

Auf welche Weise können interessierte Mitmenschen ihre Solidarität mit CES Waldorf zum Ausdruck bringen?

Mittels Spenden an die Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners (Kontaktdaten siehe Link) https://ceswaldorf.org/de/spenden/

Mit der Übernahme von Patenschaften. Infos dazu ebenfalls auf der Webseite: https://ceswaldorf.org/de/spenden/

Zum Autor

Martin Wolf ist freier Journalist mit den Schwerpunkten Lateinamerika und Migrationsforschung in Wien. Er hat im Herbst 2021 ein Praktikum in der CES Waldorf absolviert.