Interview: Jürgen Schübelin
Fast ein halbes Jahr ist es jetzt her, seit in Chile in einer Volksabstimmung der Entwurf für eine neue, demokratischere, an Sozial- und Rechtsstaat orientierte Verfassung abgelehnt wurde. Mit dem „Nein“ der Mehrheit der Abstimmenden scheiterte am 4. September auch der ambitionierte Plan, den Kinderrechten Verfassungsrang einzuräumen und so einen couragierten lateinamerikanischen Beitrag zur Weiterentwicklung der UN-Kinderechtskonvention von 1989 zu leisten. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme – vor allem für Familien mit geringem Einkommen, die während der Corona-Jahre besonders deutlich manifest wurden, haben sich indes weiter verschärft. Im September, unmittelbar nach dem Plebiszit, sprachen wir über die Situation im Land mit Claudia Vera und José Horacio Wood von der ökumenischen Fundación ANIDE. Jetzt, mit etwas Abstand, wollten wir noch einmal wissen, wie sich die Stimmung bei Organisationen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die in Armenvierteln der großen Städte mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, entwickelt hat.
In Chile sind zurzeit Sommerferien, die Schulen sind bis Ende Februar geschlossen. Wie erleben Familien aus den Armenvierteln der großen Städte diese Wochen und wie gehen sie mit dem um, was einige chilenische Medien mittlerweile als die „Long-Post-Covid-Krise“ bezeichnen?
José Horacio Wood: So etwas wie Ferien- und Urlaubsstimmung kennen die Menschen in den „poblaciones“, den Armenvierteln, nicht. Das war aber auch schon vor Corona und den durch die Pandemie verschärften sozialen Abstürzen nicht anders. Wir erleben eine komplexe, aus vielen Facetten bestehende Krise mit einem deutlich angewachsenen Gewaltlevel. Lehrerinnen und Lehrer berichteten in den letzten Monaten des vor Weihnachten zu Ende gegangenen Schuljahres von einem signifikanten Anstieg der Zahl von Kindern, die einfach nicht mehr zum Unterricht kommen – einer besorgniserregenden Demotivation, was den Schulbesuch anbelangt! Ein weiterer Aspekt dieser Krise ist die Verschlechterung der sozialen Beziehungen, das Abschleifen der Hemmschwellen, Konflikte mit physischer Gewalt auszutragen.
Claudia Vera: Wir dürfen nicht vergessen, dass Chile mit 260 Tagen, an denen wegen Corona die öffentlichen Schulen geschlossen blieben und die Kinder nicht zum Unterricht konnten, weltweit eines der Länder mit den längsten Schulausfällen ist. Das hat verheerende Folgen, etwa beim Blick auf Lernrückstände. Eine aktuelle Studie zeigt, dass ein großer Teil der 13- bis 14jährigen, deren Familien nicht über die Mittel verfügen, ihre Kinder auf teure Privatschulen zu schicken, selbst einfachste Texte nicht mehr versteht. Der Anstieg der Gewalt, von dem José Horacio spricht, hat auch damit zu tun, dass während der Pandemiejahre und der wochenlangen Lockdowns vor allem in den Armenvierteln die Macht der Drogenhändlerbanden gewachsen ist. Niemand stellt sich diesen Gangs in den Weg. Die Menschen erleben hilflos, wie sich der Alltag in der Nachbarschaft verändert hat, das Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, immer weiter angestiegen ist.
Wie gehen die Familien im Umfeld der ANIDE-Partnerprojekte und von anderen nichtstaatlichen Initiativen – sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Projektteams mit den deutlich verschlechterten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen um?
José Horacio Wood: Zunächst müssen wir hier einige Daten, die von wirtschaftsnahen Medien verbreitet werden, richtigstellen. Dort ist davon die Rede, die Inflationsrate in Chile würde irgendwo zwischen 13 und 14 Prozent liegen. Diese Zahl ist viel zu niedrig und spiegelt nicht die tagtägliche Erfahrung beim Einkaufen wider. Die Nichtregierungsorgani-sation Fundación SOL, die systematisch die Preisentwicklung bei Produkten aus einem Basiswarenkorb beobachtet, hat für Dezember errechnet, dass Brot 31, Eier 33, Zucker 51, Mehl 52, Kerosin zum Kochen 54 und Speiseöl gegenüber dem Vorjahr 61 Prozent teurer geworden sind. Und das in einer Situation, in der knapp zwei Drittel der arbeitenden Menschen im Land unverändert weniger als 290.000 Pesos im Monat, das entspricht etwas mehr als 300 Euro, verdienen. Viele Kolleginnen und Kollegen in den Teams der Partnerprojekte sind schockiert darüber, wie sehr der Anteil der Menschen, die unter immer prekäreren Bedingungen leben, zugenommen hat. Das belegt auch eine Zahl, die Wohnbauminister Carlos Montes neulich vorstellte: Demnach gibt es in Chile inzwischen wieder 1091 campamentos, 355 mehr als noch vor Corona: Notsiedlungen, in denen Familien auf einem besetzten Stück Land, unter Brücken, an Fluss- und Kanalufern, in der Nähe von Mülldeponien oder in kleinen Zeltstädten mitten in öffentlichen Parks hausen.
Claudia Vera: Ganz aktuell dazu haben uns die Kolleginnen aus dem Projekt „Nuestra Señora de la Victoria“ im gleichnamigen Armenviertel hier im Südwesten von Santiago darüber informiert, dass zwei Kinder aus dem Programm abgemeldet wurden. Als das Team die Eltern nach dem Grund fragte, erfuhren die Kolleginnen, dass die Familie keinen anderen Ausweg sah, als in eine toma, eine nach einer Landbesetzung entstandene Notsiedlung vor der Stadt, umzuziehen. Dort müssten sie keine Miete bezahlen und auch keine Stromrechnung. Die Mutter erklärte den Erzieherinnen im Projekt, dass das Geld, das die Familie mit ihrer Arbeit verdient, zum Leben im Armenviertel La Victoria einfach nicht mehr ausreicht. Das ist unsere neue Realität. Diese Verschlechterungen der Lebensbedingungen betreffen natürlich auch die Teams in den Partnerprojekten und ihre Familien, weil auch hier nur sehr moderate Löhne gezahlt werden können. Aber bereits während der Corona-Pandemie gab es Initiativen, um die Belastungen für die Familien der Kinder in den Projekten etwas zu reduzieren: etwa durch gemeinsames Einkaufen oder durch Aktivitäten mit Müttern, wie dem Verkauf von Selbstgebackenem oder selbst produzierten Lebensmitteln. Diese Formen von solidarischer Selbsthilfe haben in den chilenischen Armenvierteln seit den Pinochet-Jahren Tradition.
Wie wirken die Folgen des gescheiterten Verfassungsreferendums vom 4. September nach? In sehr vielen Armenvierteln hatte eine Mehrheit der Wahlberechtigten ja ebenfalls gegen den Verfassungsentwurf gestimmt.
José Horacio Wood: Die Situation ist sehr komplex und voller Widersprüche. Viele Chileninnen und Chilenen wollen nach wie vor Veränderungen. Aber sie akzeptieren dabei keine aktive Rolle des Staates. Das neoliberale System, das unter der Diktatur der Militärs in den siebziger Jahren installiert wurde, hat sich tief in das Wertemuster dieser Gesellschaft gefressen. Unablässig werden vom Staat, von der Regierung Antworten auf Probleme gefordert, aber ohne Bereitschaft, dem Staat dafür die notwendigen Werkzeuge – etwa beim Steuer- oder Umweltrecht – an die Hand zu geben. Der vielleicht größte Erfolg derjenigen, die am 4. September diesen fortschrittlichen Verfassungsentwurf mit ihrer Hass- und Lügenkampagne zu Fall gebracht haben, besteht darin, dass es ihnen gelungen ist, Menschen in die Resignation zu treiben, die immer bereit waren, sich für andere zu engagieren, sich zu organisieren, Verantwortung zu übernehmen. Das beobachten wir auch bis weit hinein in Netzwerke von Nichtregierungs-Organisationen und Stadtteil-Initiativen, die früher immer Verbündete beim sozialen und Menschenrechts-Engagement waren. Wir halten diese Entwicklung für brandgefährlich.
Claudia Vera: Was wir konkret vor Ort in den Armenvierteln sehen und was unsere Kolleginnen und Kollegen aus den Projektteams berichten, ist, dass diejenigen, die das Projekt einer neuen Verfassung unterstützt und bis zuletzt für diese Vision eines demokratischeren und sozial gerechteren Chile gekämpft haben, den Schock der Niederlage noch immer nicht überwinden können. Und bei den Anderen dominieren Apathie und Desinteresse an politischen Themen und Prozessen, aber vor allem, wie José Horacio erläutert, ein generelles Misstrauen gegenüber dem Staat und der Politik. Die Leute sagen, was scheren mich die Diskussionen der Politiker, wenn ich es nicht mehr schaffe, die Rechnungen zu bezahlen und irgendwie durch den Monat zu kommen? Die Teams in den Partnerprojekten stehen vor der gigantischen Herausforderung, Kinder, Jugendliche und Erwachsene von Neuem dafür zu begeistern, dass es sich lohnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und Veränderungsprozesse zu gestalten. Es geht darum, die Jugendlichen und vor allem die Erwachsenen zu überzeugen, dass es möglich ist, gemeinsam konkrete Probleme anzupacken, Lebensbedingungen zu verbessern und etwas für die Kinder zu erreichen. Bei den Jüngeren ist das etwas leichter: Sie nehmen ihre kleinen und größeren gemeinsam erreichten Erfolgserlebnisse viel unmittelbarer wahr. Und sie erinnern uns Erwachsene jeden Tag daran, dass wir kein Recht haben, uns bei unserem Engagement für die Kinderrechte von Rückschlägen entmutigen zu lassen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel!