Argentinien: Tiefer in die Krise

Von Robert Lessmann

Das politische Pendel in Lateinamerika schlägt wieder zurück. Argentinien, die zweitgrößte Volkswirtschaft Südamerikas und immerhin das achtgrößte Land der Welt, erlebt einen beispiellosen Rechtsruck.

Mit einer unerwartet deutlichen Mehrheit von 55,7 Prozent gewann der politische Newcomer Javier Milei die Stichwahl um das Präsidentenamt. Wenn der selbsternannte „Anarchokapitalist“ am 10. Dezember die Amtsgeschäfte in der Casa Rosada in Buenos Aires übernimmt, so ist zu befürchten, wird das Land am Rio de la Plata neben der wirtschaftlichen Dauerkrise noch den Höhepunkt einer politischen Krise erdulden müssen. Lateinamerikanische Bündnis- und Integrationssysteme werden wohl geschwächt.

Buenos Aires. Martín, ein cartonero, der bereits im Morgengrauen unterwegs ist, sammelt auf seinem Karren Papier und Kartons. ‚Nein‘, sagt er, Hoffnung habe er keine, dass es nach den Wahlen besser wird. Aber schlechter könne es ja auch nicht mehr werden.“ So hatte ich eine Reportage vor den letzten Wahlen 2019 begonnen.

Martín hat sich leider getäuscht. Armut und Misere haben seither weiter zugenommen. Ich brauche hier eigentlich nur die Ziffern zu korrigieren: Die Inflation ist von damals 50 auf heute 143 Prozent geklettert, die offizielle Arbeitslosigkeit ist von damals 10 Prozent leicht gesunken, dafür liegt die verdeckte bei über 40 Prozent, und über 40 Prozent der Menschen gelten als arm. Der gemäßigt linke Präsident Alberto Fernández, Wahlsieger von 2019, konnte praktisch keines seiner Versprechen einlösen und trat aktuell gar nicht erst wieder an. Sein Wirtschaftsminister Sergio Massa ging mit dem Manko ins Rennen, dass er mit dem Niedergang identifiziert wird. Trotzdem war er überraschend als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgegangen, konnte dann aber nicht mehr zulegen.

Argentinien in der Dauerkrise

„Wir rechnen in Dollars“, sagt Antonia, die eine kleine Reiseagentur betreibt. „Alles andere wäre verrückt bei dieser Inflation.“ Ein Dauerthema im Heimatland des Revolutionärs Ernesto „Che“ Guevara, der 1928 in der Industriestadt Rosario geboren wurde. Als der aufwuchs, zählte Argentinien zu den reichsten Ländern der Welt. Seine landwirtschaftlichen Exporte waren besonders in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Eine Diversifizierung der Wirtschaft blieb aber aus. Die Militärdiktatur (1976-83) häufte einen Schuldenberg an. Aus der Schuldenfalle kam man nie mehr heraus. Als in den 1980er Jahren die „Verschuldungskrise der Dritten Welt“ das internationale Bankensystem an den Rand des Zusammenbruchs brachte, gehörte Argentinien zusammen mit Brasilien zu den meistverschuldeten Ländern. Die Auslandsguthaben reicher Argentinier waren schon damals höher als die Rekordverschuldung des Landes. Daran hat sich im Wesentlichen nichts geändert und so taumelt Argentinien von einer Krise in die nächste. Das neue Jahrtausend begann bereits mit dem Zusammenbruch des Finanzsystems. Unter Néstor Kirchner folgten ab 2003 auf der Grundlage hoher Rohstoffpreise stabile Jahre mit Lohnerhöhungen, Sozialprogrammen und Politiken der Importsubstitution. Dem Peronisten gelang 2005 auch eine spektakuläre Umschuldung eines Teils der Verbindlichkeiten, wobei Anleihegläubiger auf rund zwei Drittel ihrer Forderungen verzichten mussten. Die Auslandschulden hatten damals ein Rekordniveau von fast 200 Milliarden US Dollar erreicht. Heute sind sie mehr als doppelt so hoch. Unter seiner Frau Cristina kam es 2010 zu einer Neuauflage dieser Umschuldung in kleinerem Maßstab. Ab 2011 wurden bei sinkenden Exporteinnahmen die Budget- und Handelsbilanzdefizite wieder chronisch und 2014 schrammte Argentinien abermals knapp an der Staatspleite vorbei.

Bis auf wenige Ausnahmen regierten die linkspopulistischen Peronisten, mit einem breiten Spektrum durchaus wandelbarer Positionen bis hin zum neoliberalen Carlos Menem (1989-1999). Ab Dezember 2015 war der konservative Unternehmer Mauricio Macri Staatspräsident. Unter ihm fielen Devisenkontrollen und andere Regulierungen, mit denen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht verhindert werden sollten. Seine „boys“ sprachen dieselbe Sprache, trugen die gleichen Anzüge und hatten dieselben Universitäten besucht wie die Manager der Finanzzentren in Washington und London. Der Internationale Währungsfonds gewährte neue Kredite, 2018 in der Rekordhöhe von 50 Milliarden US Dollar. Mit fresh money sollte die Konjunktur Fahrt aufnehmen, argentinisches Auslandskapital zurück gelockt und im Land investiert werden.

Doch die Erwartungen auf einen Investitionsboom erfüllten sich nicht. Vielmehr machten Zinserhöhungen in den USA Auslandsanlagen noch attraktiver und sinkende Rohstoffpreise plagen Argentinien wie andere Schwellenländer. Wieder setzte eine Abwärtsspirale ein. Die Schuldenquote liegt bei 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, und auch wenn Argentinien regelmäßig seine Verpflichtungen nicht erfüllt (oder erfüllen kann), ist es too big to fail. Die Verschuldungsspirale dürfte sich fortsetzen.

Javier Milei mit Schwester Karina nach dem Wahlsieg; © Luis Robayo, AFP

Nachdem die Bevölkerung auch von den Peronisten enttäuscht war, hatte man bereits 2019 befürchtet, dass die extreme Rechte zulegen könnte. Doch setzte sich der gemäßigt linke Peronist Alberto Fernández durch. Der recht unorganisierten extremen Rechten fehlten damals die konservativen Steigbügelhalter. Als „mugre“ – Dreck – bezeichnete mein Taxifahrer mit deutlich italienischem Akzent die bolivianischen Arbeitsmigranten, deren Hütten vor den Toren von Buenos Aires den Weg zum Flughafen säumen: „Ich hasse sie!“ In der Verzweiflung hat die Suche nach Sündenböcken auch im Einwandererland Argentinien Konjunktur.

Kettensägenpolitik

Nachdem Javier Milei, der im ersten Wahlgang Zweitplatzierte, das Mitte-Rechts-Bündnis Juntos por el Cambio (JxC) deutlich hinter sich gelassen hatte, sprachen dessen Kandidatin Patricia Bullrich und Expräsident Mauricio Macri ihre Unterstützung für den politischen Newcomer aus. Diese Stimmen aus dem konservativen Milieu dürften rund ein Drittel der insgesamt 55,7 Prozent ausmachen: mehr als das entscheidende Quäntchen. Schon vorher, so sehen es viele Beobachter, räumte das konservative Establishment Milei ungewohnt breiten medialen Raum ein, um den politischen Diskurs nach rechts zu verschieben. (Ein Phänomen, das man auch diesseits des Atlantiks zum Überdruss kennt und vor dem man nicht genug warnen kann.) Ob ihre Rechnung nun aufgeht und sie den Chaoten einhegen können? Wenn ja, wird das Ergebnis ein radikaler Neoliberalismus ohne soziale Abfederung sein, wie er bereits in den 1990er Jahren in Regierungskollaps und Staatsbankrott mündete. Wenn nicht, dann ist es ein Kopfsprung ins Ungewisse.

Milei ist erst vor fünf Jahren mit ultralibertären Slogans und Provokationen hervorgetreten. Seine „Bewegung“ verfügt kaum über Struktur und Fachpersonal, aber über Kontakte zur spanischen VOX. Wollte er ursprünglich „alles privatisieren“, die Bürokratie und öffentliche Ausgaben „mit der Kettensäge beschneiden“, den Dollar einführen und die „Zentralbank in die Luft sprengen“, so hat er sich in den Wochen vor der Stichwahl eine gewisse verbale Mäßigung auferlegt.

Ungeachtet dessen reiht er sich unter die ultrarechten, nationalistischen Marktschreier á la Trump und Bolsonaro ein, die als Lautsprecher frustrierter Menschen agieren, ohne Lösungen anzubieten, um sie dann noch tiefer in die Misere zu führen. So beleidigte der Katholik Milei den Landsmann Papst Franziskus. Lula da Silva, den Präsidenten des wichtigsten Handelspartners Brasilien hat er als „Kommunist“ und als „korrupt“ bezeichnet. Auch der zweitwichtigste Handelspartner, China, ist für Milei „kommunistisch“ und unberührbar. Da wird er in Kürze den wirtschaftspolitischen Realitäten ins Augen blicken müssen.

Aber die Befürchtung ist, dass er den Peso absichtlich weiter absacken lassen könnte, um „zur Rettung“, wie angekündigt, den Dollar einzuführen. Ganz sicher sind Wissenschaft und Kultur, Arbeits-, Frauen-, Menschen- und Minderheitenrechte sowie der Umweltschutz in Gefahr. Last but not least werden der Staatsterror und die Menschenrechtsverbrechen der argentinischen Militärdiktatur von Milei und seinen Gefolgsleuten als „gewisse Exzesse“ relativiert oder gar geleugnet. Die Medien, so kündigte Milei nach seinem Wahlsieg an, sollen als „Propagandainstrumente“ sogleich privatisiert werden. Den menschengemachten Klimawandel leugnet er. Als Partner für die Erreichung der Klimaziele dürfte Argentinien ausscheiden.

Seine erste Auslandsreise will Milei folgerichtig nicht wie üblich ins Nachbarland Brasilien machen, sondern bereits vor der Amtseinführung in die USA und nach Israel. Das verheißt nichts Gutes für den gemeinsamen Wirtschaftsraum MERCOSUR an sich und eine etwaige künftige Partnerschaft. Und auch nicht für die links regierten Nachbarländer Bolivien und Chile. Eine Lithiumachse der drei Länder dürfte damit unwahrscheinlicher werden. Besonders mit Chile gab es entlang der 4.000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze in der Vergangenheit immer wieder Konflikte.

Politisches Erdbeben

Der noch amtierende Präsident Alberto Fernández rief zu einer gründlichen Aufarbeitung des Wahldebakels auf. Das Lager der klassisch Konservativen ist bereits gespalten, denn ein Teil von ihnen war nicht bereit, das politische Abenteuer der Macri- und Bullrich-Fraktion mitzumachen, darunter Horacio Rodríguez Larreta, der scheidende Bürgermeister von Buenos Aires, wo nahezu ein Drittel der 45 Millionen Argentinierinnen und Argentinier leben.

Milei hat im Parlament keine Mehrheit. Mit 39 Abgeordneten verfügt er nur über die drittstärkste Fraktion. Mehrheiten wird er sich zusammensuchen müssen oder per Dekret regieren, was seinem Naturell ohnehin besser entsprechen dürfte. In seinen Reden ist viel von Freiheit die Rede, aber nie von Demokratie. Ob Argentinien in die Unregierbarkeit taumelt? So oder so kann er mit starkem zivilgesellschaftlichem Widerstand rechnen.